Wo kann man sie noch erfahren, diese intensiven Gefühle und starken Empfindungen? Liebe, die einer Obsession gleicht, die brennt und unerträglich schmerzt? Nicht in einer auf Selbstoptimierung ausgerichteten, abgestumpften, sicherheitsfixierten, gefühlstoten Epoche wie der unseren. Soviel ist sicher.
Kurioserweise muss man hierzu ein Buch aus dem Regal nehmen. Zum Beispiel den autobiographischen Roman „Les nuits fauves“ von Cyril Collard, der unbegreiflicherweise nicht ins Deutsche übertragen wurde.

Der namenlose Ich-Erzähler arbeitet als Kameramann und Beleuchter für Filmproduktionen und Videoclips. Wie Collard hat auch er eine vielversprechende Karriere als Ingenieur über den Haufen geworfen – Collard hatte zunächst die sehr selektiven Vorbereitungsklassen MathSup und MathSpé absolviert, die Eintrittskarten in die Elitehochschulen für Ingenieure, und, wenn man seiner Biographie Glauben schenkt, es tatsächlich auf die École Centrale geschafft, bevor er sich nur noch dem Schreiben, der Musik und dem Filmen widmete. Unter anderem als Regieassistent von Maurice Pialat.
Wie sein Schöpfer hat der Erzähler zwei Jahre zuvor erfahren, dass er HIV-positiv und mittlerweile an AIDS erkrankt ist.
Er pendelt zwischen der Niedergeschlagenheit angesichts der Unausweichlichkeit des nahenden Todes, denn die Diagnose ist damals ein sicheres Todesurteil und der Frenesie und Lebenssucht, die viele ergriff, die genau wussten, dass der Sensenmann unweigerlich kommen wird.
Er schildert, was viele Erkrankte verspüren: das Gefühl durch die Krankheit immer mehr von den anderen Menschen abgeschnitten zu sein, sich wie in einer im Schlamm versinkenden gläsernen Gruft zu befinden, isoliert von den anderen Menschen.
Trotz oder gerade deswegen sucht er Bestätigung oder vielleicht auch Erlösung in vielen One-Night-Stands und sexuellen Beziehungen.
Er ist bisexuell, aber mit einer stärkeren Neigung zu Männern und hat eine ausgeprägte Vorliebe für junge, arabische, halbkriminelle Liebhaber.
Er liebt den heterosexuellen Samy, der aber gelegentlichen schwulen Abenteuern nicht abgeneigt ist. Gleichzeitig fängt er eine Liebesbeziehung mit der minderjährigen, angehenden Schauspielerin Laura an, mit der er ungeschützten Sex hat.
Und so entwickelt sich eine leidenschaftliche und destruktive Liebe zwischen Laura und dem Erzähler, für die er der erste Mann und die erste große Liebe ist. Jener will jedoch hedonistisch leben und vor allem atemlos die ihm noch verbleibende kurze Zeitspanne auskosten. Das Wort „amour“ ist auf fast jeder Seite des Buchs zu finden, teilweise mehrmals. Wie selten man diesem Wort in Deutschland begegnet…
Zusätzlich betäubt er seine Angst vor dem Tod und seine Gier nach starken Empfindungen mit exzessivem Sex mit anonymen Männern an den Treffpunkten am Seineufer, den titelgebenden „nuits fauves“, die Raubtiernächte.
Drastisch und hart wird beschrieben wie er sich unter einer dunklen Galerie in der Nähe der Gare d’Austerlitz oder auf der Mittelinsel zwischen dem Pont de Grenelle und dem Pont de Bir Hakeim anspritzen, anpissen und anspucken lässt.
Die Handlung des Buchs ist im Zeitraum 1986/87 angelegt, worauf verschiedene zeitliche Orientierungspunkte hindeuten, wie der Tod von Jean Genet, die Fußball-WM in Mexiko, der Tod des Studenten Malik Oussekine, der im Dezember 1986 von Bereitschaftspolizisten einer Motorradeinheit in einem Hauseingang totgeprügelt wurde oder der Tod von Brion Gysin.
Die Szenerien changieren von Dreharbeiten in Florenz oder Marokko zu Segelboottouren auf Korsika mit Laura und wieder zu den Cruisingareas am Seineufer. Und über allem schwebt der Tod, der unausweichliche.
Die 80er Jahre defilieren auf den Seiten vorbei. Auf den Partys wird Koks langsam von Ecstasy abgelöst.
Der Erzähler nimmt seine Umgebung durch den Sucher einer imaginären Videokamera wahr und so gelingen ihm Skizzen und Beobachtungen aus dem Paris der 80er Jahre, die mich wahnsinnig vor Nostalgie machen.
Eingestreut in die Erzählung ist der untergegangene Sound heute fast vollständig vergessener Bands:
Die New-Wave Combo « Taxi Girl »
Oder die Rock/Raï-Band „Carte de séjour ».
Hot Pants, die erste Band von Manu Chao.
Die Punkband « Bérurier Noir », die ich als ich jünger war wegen ihrer starken, radikalen, stakkatohaft vorgetragener Texte sehr verehrte. Der Text von „Le renard“ wird im Buch zitiert.
Cyril Collard hat 1992 den Roman als Film adaptiert und selbst die Hauptrolle gespielt (deutscher Titel: Wilde Nächte). Zwar hat er die Handlung für ein breiteres Publikum geglättet, es ist aber immer noch ein heftiges Filmerlebnis.
Ich hätte den Film hier gerne verlinkt, aber er ist als Stream und auf Youtube nicht zu finden. In diesen seltsamen puritanisch/politisch-korrekten Zeiten ist auf Youtube für alles Mögliche Platz: für seichte Blockbuster oder für Amateurvideos, auf denen man von der Couch zusehen kann, wie ein Mensch zu Tode gefoltert wird. Für einen kontroversen Film ist jedoch offensichtlich dort kein Platz.
Der Film hatte war ein kommerzieller Erfolg an den Kinokassen und hat vier Césars gewonnen, den wichtigsten französischen Filmpreis. Cyril Collard hat die Preise nicht mehr entgegennehmen können, er ist drei Tage vorher, am 5. März 1993 seiner Krankheit erlegen.
Er hat etwas geschafft, wovon viele nur heimlich träumen und es dann doch nur wieder aufschieben oder nicht den Mut oder das letzte Quentchen an Konsequenz aufbringen: einen vorgegebenen Weg zu verlassen, ein Risiko zu wagen, sich auszuleben und den eigenen Neigungen zu folgen.
Statt des Films verlinke ich hier ein ziemlich interessantes Interview aus der Zeit kurz nach dem Erscheinen des Buchs, leider mit dem damals wie heute bescheuerten Thierry Ardisson.
Hallo!
Danke für das nette Folgen!
Fortsetzungsroman: „Reise ins Verderben“
Sei willkommen in meiner kleinen verschrobenen asiatischen Welt.
Viel Spaß Lesen!
@nokbew
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