Ukraine: Gibt es eine Korrelation zwischen der Brutalität des Krieges und der russischen Gesellschaft?

Der Krieg in der Ukraine dauert nun schon über vier Monate an. Zwischenzeitlich wurden seitens Russlands, angesichts des erbitterten Widerstands der Ukrainer, taktische Anpassungen vorgenommen. Geblieben ist die mörderische Brutalität eines Konflikts und Kriegsverbrechen, die man in Europa in dieser Form nicht mehr für möglich gehalten hatte.

Anscheinend müssen wir, die Europäer, uns eingestehen, dass wir von der russischen Gesellschaft und der dort vorherrschenden Mentalität, die diese Brutalität hervorbringt, rein gar nichts wissen.

Ich hatte zwar meine eigenen Erlebnisse hier beschrieben, aber ich betone nochmals, dass ich nur notiert habe, was ich selbst erlebt habe und darüber hinaus weder Wissen noch Erfahrungen habe.

Deshalb interessiert mich umso mehr, was andere, die tiefere Einblicke haben, dazu zu sagen haben.

Ich musste an ein Interview mit dem Schriftsteller Viktor Jerofejew. der unlängst nach Deutschland geflohen ist, denken, das schon im Jahr 2004 (also vor fast 20 Jahren) im Spiegel erschienen ist. In seinen Aussagen scheint sich das heutige Unheil schon damals abzuzeichnen.

Folgende Passagen finde ich interessant:

SPIEGEL: In »Der gute Stalin« schreiben Sie, die Russen hätten stets an alles und jeden geglaubt, nur nicht an sich selbst. Ist das fehlende Bekenntnis zur Eigenverantwortung ein Teil des Problems?

Jerofejew: Ja, und das Böse kommt immer von außen. Unser größtes soziales Problem ist die Unproduktivität. Das größte mentale aber ist, dass der Russe Gründe für Misserfolg nie bei sich selbst sucht. Wir leben an der Schnittstelle zweier Zivilisationen, Asien und Europa. Und wir können uns nicht entscheiden zwischen der aufgeklärten Kultur europäischen Zuschnitts und der russischen Bauernkultur, die während des Kommunismus dominierte. Es war eine Kultur des Fatalismus und der Brutalität. Weil sie nach fast 80 Jahren an ihre Grenzen stieß, brach das System zusammen.

SPIEGEL: Und was kommt nun?

Jerofejew: Putin will jetzt beide Kulturen verbinden. Das kann nicht klappen.

SPIEGEL: Für den Westen ist frappierend, wie schnell die Stimmung der Aufbruchzeit vor gut zehn Jahren verflogen ist. Die Mehrheit der Bevölkerung begrüßt, dass die Liberalen, die 1990 die Hoffnungsträger Russlands waren, nach der Parlamentswahl im Dezember aus der Duma verschwunden sind. Auch die persönliche Freiheit steht Umfragen zufolge nicht mehr hoch im Kurs.

Jerofejew: Liberale Ideen hatten in Russland noch nie viele Anhänger. Was bei der Duma-Wahl passiert ist, sei sie nun manipuliert gewesen oder nicht, zeigt nur, was das Volk wirklich denkt. Die Liberalen sind bei uns unglaublich schwach.

Und weiter unten sagt er:

Jerofejew: Nochmals – Sie müssen Russland so nehmen, wie es ist. Fährt ein Westler in ein afrikanisches Dorf, respektiert er doch auch die Bräuche dieses Dorfes. Uns aber messt ihr mit eurer Elle – vielleicht, weil wir weiß aussehen und euch damit ähnlich. Äußerlich sind wir Weiße, sicher, aber im Inneren auch ein wenig schwarz oder von eher undefinierbarer Farbe. Ihr solltet aufhören, euch darüber zu wundern.

Das Interview ist in seiner Gesamtheit absolut lesenswert. Ein ferner Abglanz aus den Zeiten, als der Spiegel noch den Anspruch an guten Journalismus hatte.

Auf Welt-Online gibt es ein Interview mit den französischen Psychiater Marc Hayat, der die These aufstellt, dass Putin und das russische Volk eine symbiotische, narzisstische Beziehung eingegangen sind, wie eine Mutter zu ihrem Kind.

Ich muss gestehen, dass ich den Argumenten des Psychiaters nicht in Gänze folgen konnte, was einerseits an den verquasten Behauptungen aber möglicherweise auch an der schlechten Übersetzung aus dem Französischen liegen mag.

Ein weiterer interessanter Beitrag findet sich bei SPON. Verfasst wurde er von einer Kolumnistin, die unter dem Pseudonym „Juno Vai“ normalerweise eine etwas nervige Erziehungskolumne schreibt (wobei die Wortkombination „SPON“, „Kolumne“ und „nervig“ eigentlich ein Pleonasmus ist).

Diese Kolumne fand ich zur Abwechslung allerdings sehr interessant, weil sie sich nicht – wie auch die anderen SPON-Kolumnen üblicherweise – in apodiktischen Werturteilen ergeht, sondern persönliche Einblicke gibt. Die Kolumnistin schrieb in einer anderen Kolumne, sie sei russischstämmig, hier sagt sie nur, sie habe mehrere Jahre in Russland gelebt. Sei’s drum. Was sie über ihre eigenen Wahrnehmungen berichtet, finde ich als Erklärungsansatz ziemlich aufschlussreich:

Aber erklären mangelnde Bildung, das korrupte russische Bildungssystem und die Rekrutierung armer Provinzler die Gräuel von Butscha oder Irpin? Sicher nicht. Krieg ist Ausnahmezustand, Kampf ums Überleben, das Primat des Körperlichen. Wir machen uns etwas vor, wenn wir glauben, eine Seite, die gute Seite, könne einen »ordentlichen«, einen »rechtmäßigen« Krieg führen, der sich an die Genfer Konventionen hält und auf Gewaltexzesse verzichtet. Jeder Krieg bringt die Bestie in uns zum Vorschein. Er kann einen Blutrausch beim gestriegelten, stets folgsamen Deutschen Schäferhund triggern. Oder die Zwingertür des russischen Owtscharka öffnen, der ein Leben lang kurzgehalten und geschlagen wurde.

Es ist schwer zu ermessen, wie gewaltbereit eine Bevölkerung ist. Aber: In Russland wird Gewalt staatlich gefördert. Gewaltexzesse in Familien, durch Sicherheitskräfte, Militärs oder homophobe Banden werden selten adäquat geahndet – und oft noch nicht einmal zur Anzeige gebracht.

Mehr als 40 Gesetzentwürfe zur Bestrafung häuslicher Gewalt wurden in Russland bisher abgeschmettert – der politische Wille zur Sanktionierung solcher Verbrechen ist gleich null. »Er schlägt, also liebt er« ist die gängige Begründung für Partnerschaftsgewalt. Das staatliche Wegschauen und die herrschende Straffreiheit machen folternde Gefängniswärter ebenso möglich wie blutige Aufnahmerituale durch ältere Vorgesetzte in der Armee.

Ich glaube, Russen kennen mehr Alltagsgewalt. Die Menschen – umso mehr die in den Kasernen gedrillten Soldaten – haben sich an sie gewöhnt. Ich habe jahrelang in Russland gelebt und jede Menge entfesselter Schlägereien mitbekommen. Oft war Alkohol im Spiel, manchmal waren es reine Machtdemonstrationen.

Den interessantesten Beitrag fand ich in der französischen Zeitung „Le Monde“ darin legt der französische Professor François Galichet dar, dass die Grausamkeit und Brutalität der Kriegsführung ihren Ursprung in der nihilistischen Ideologie finden, die im Russland des 19. Jahrhunderts relativ verbreitet war und deren Elemente Eingang in die kommunistische Theorie fanden.

Man muss dem Verfasser nicht in allen Punkten zustimmen und ich selbst finde, dass die Herleitungen an manchen Stellen arg verkürzt sind. Dennoch finde ich die Gedankengänge bedenkenswert, und zwar so, dass ich mich entschlossen habe, den Artikel zu übersetzen.

Krieg in der Ukraine: Es gibt einen Zusammenhang zwischen der nihilistischen Ideologie, die Russland im 19. Jahrhundert geprägt hat, und der Art, Krieg zu führen.

Was in dem ukrainischen Konflikt am meisten frappiert, ist die von den Russen angewandte Strategie. Sie charakterisiert sich durch eine Absicht willkürlicher Vernichtung, einer systematischen und radikalen Zerstörung. Gewiss, alle Kriege führen dazu, dass dem Feind Schäden zugefügt werden, aber sie sind in den meisten Fällen an militärische Ziele gebunden, selbst wenn sie zu Kollateralschäden führen.

Im Fall der russischen Aggression hat man im Gegensatz dazu den Eindruck eines totalen Vernichtungsvorhabens des zu erobernden Staatsgebiets: Zivilisten und Soldaten, Menschen, Gebäude, Dinge.

Mariupol, Butscha und viele andere gemarterte Städte veranschaulichen auf tragische Weise diesen Willen. Wie man es schon vielfach betont hat, ist dies eine Strategie, die bereits in Tschetschenien und Syrien angewandt worden ist.

Normalerweise zielt der Eroberer darauf ab, sich die Ressourcen des angegriffenen Landes anzueignen, was ihn dazu bringt, es so gut wie möglich zu schonen, und das in seinem eigenen wohlverstandenen Interesse.

Hier hat man im Gegensatz das Gefühl, das der erwartete Gewinn überhaupt nicht zählt. Die Zerstörung ist kein Mittel, sondern ein Zweck an sich, und dies gilt sowohl für den Aggressor wie für den Angegriffenen.

Das nihilistische Denken als Kriegsprinzip

Die Russland durch den Krieg zugefügten Schäden (Auswirkungen der Sanktionen, Rückzug der ausländischen Investoren, NATO-Beitritt von bis dato neutralen Ländern, Verstärkung der europäischen Einheit und Verteidigung) sind bei weitem höher als der eventuelle Vorteil, der die Eroberung des Donbass darstellte.

Doch diese Schäden, so groß sie auch ein mögen, scheinen nicht zu zählen.

Wie ist eine derartige Handlung zu erklären? Ein Wort drängt sich angesichts des Schauspiels dieses Kriegs, der militärisch irrational, wirtschaftlich widersinnig und politisch katastrophal ist: Nihilismus. Wir wissen, dass dieses Konzept in Russland in den 1860er Jahren entstanden ist; man bringt es mit einer randständigen Oppositionsbewegung gegen das zaristische Regime in Verbindung, die schnell zugunsten der marxistisch-leninistischen Protestbewegung verschwunden ist, die in der Oktoberrevolution 1917 endete.

Diese Beschreibung ist jedoch falsch. Der Schriftsteller Iwan Turgenjew (1818 – 1883) definiert in „Väter und Söhne“ den Nihilisten als jemanden, „der nichts anerkennen will“, „der nichts respektiert“ und der sich „keiner Autorität beugt“. Der Philosoph und Schriftsteller Alexander Herzen (1812 – 1870) sieht in einem Artikel von 1869 in ihm „einen Geist kritischer Säuberung“; er verbindet das Phänomen des Nihilismus mit der russischen Mentalität als solcher: „Der Nihilismus ist die natürliche, legitime und historische Frucht der negativen Attitüde gegenüber dem Leben, das die russische Denkweise und die russische Kunst seit ihren ersten Schritten nach Peter dem Großen angenommen hatten.“ Er fügt hinzu: „Diese Verneinung muss schließlich in der Selbst-Verneinung enden.

Der Nihilismus in der Natur der russischen Seele

Diese Analyse wurde von Fjodor Dostojewski (1821 – 1881) aufgegriffen, der bezüglich der Russen schrieb: „Wir sind alle Nihilisten“. Der Philosoph Nikolai Berdjajew (1874 – 1948) bestätigte ein Jahrhundert später: der Nihilismus hatte seine Quellen in der russischen Seele und im Wesen seines proslawischen Glaubens. Er war „das photographische Negativ des russischen apokalyptischen Empfindens.“

Albert Camus (1913 – 1960) präzisiert in „Der Mensch in der Revolte“ (L’Homme révolté) die Umrisse hiervon. Er erblickt dort „das Gefühl, das man bereits bei Bakunin und den revolutionären Sozialisten von 1905 findet, nämlich dass Leiden regenerierend ist.“ Der Literaturkritiker Wissarion Bielinski (1811 – 1848), einer der Vertreter dieser Bewegung, behauptet, dass man die Realität zerstören muss, um zu beweisen, was man ist: „Die Verneinung ist mein Gott!“

Man verleiht ihm, schreibt Camus, „die Unnachgiebigkeit und die Leidenschaft des Glaubens“. Dies ist der Grund, „warum der Kampf gegen die Schöpfung ohne Gnade und ohne Moral sein wird; das einzige Heil liegt in der Vernichtung.“

Gemäß dem Polittheoretiker Michail Bakunin (1814 – 1876) ist „die Leidenschaft der Zerstörung eine schöpferische Leidenschaft.“ Sergej Netschajew (1847 – 1882), sein Genosse, hat „die Kohärenz des Nihilismus so weit getrieben, wie er konnte“: von nun an „wird die Gewalt gegen alle im Dienste einer abstrakten Idee angewandt“; die Führer der Revolution müssen nicht nur die Klassenfeinde zerstören, sondern auch ihre eigenen Parteigenossen, wenn sie von der vorgegebenen Linie abweichen.

Eine nicht rationale Entwicklung, die zu allen Opfern bereit ist

Bakunin hat ebenso viel wie Marx zur leninistischen Doktrin beigetragen – und in Konsequenz zur sowjetischen Ideologie, von der Putin durchdrungen ist. Ausgehend von dieser Abstammung, fährt der der Nihilismus fort, die gegenwärtigen Führer Russlands zu inspirieren.

Vom Nihilismus zum Kommunismus, und von ihm zum Panslawismus, der die Invasion in die Ukraine legitimiert – es ist dieselbe abstrakte Idee, die einen Willen zur „reinigenden“ Vernichtung rechtfertigt, die Mentalität, alles niederzureißen, der Apokalypse als politisches und religiöses Ideal, des Nichts, das zum Handlungsprinzip erklärt wird.

Das ist der Grund, warum man die nukleare Drohung nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte, die die russischen Führer in den Raum stellen. Zwischen der Vernichtung des Anderen und der universellen Vernichtung, die die eigene Vernichtung einschließt, besteht nur eine schmale Grenze. Der Nihilismus, schlussfolgert Camus, „der eng mit der Bewegung einer Religion im Niedergang verbunden ist, endet im Terrorismus.“ Bei allen Erben des Nihilismus „deckt sich ein Hang zum Opfer mit einer Anziehung zum Tod“, „der Mord setzt sich mit dem Selbstmord gleich.“

Was kann man gegen eine solche Ideologie unternehmen? Die Antwort ist nicht einfach zu geben. Man muss auf jeden Fall vermeiden, Putin und seine Schergen als rationale Eroberer zu sehen, die Gewinne und Verluste der Aggression kalkulieren, so wie Hitler. Es gibt eine Abstammungslinie zwischen der nihilistischen Ideologie, die Russland im 19. Jahrhundert geprägt hat und dieser Art und Weise, den Krieg zu führen. Wie jeder Glaube, ist sie zu allen Opfern bereit, das eigene eingeschlossen.

In diesem Sinne entspricht sie eher den Dschihadisten, mit dem sie die Handlungsweisen und die Geisteshaltung teilt. Der einzige Unterschied zwischen der einen und dem anderen ist ein Unterschied im Maßstab: der putinsche Terrorismus ist ein Staatsterrorismus, und zwar eines Staats, der über ein nukleares Arsenal verfügt, das geeignet ist, die Vernichtung der Menschheit herbeizuführen.

Nie zuvor war sie mit einer solchen Situation konfrontiert. In diesem Sinne ist der ukrainische Krieg ein absolutes Novum der Geschichte.

Eine weitere Schwäche des Textes liegt, finde ich, darin, dass – zumindest will ich Stand jetzt zugunsten von Putin davon ausgehen – der unmenschliche Vernichtungskrieg nicht von Beginn an so geplant war. Putin und Konsorten gingen ja davon aus, dass ihre Soldaten nach einem schnellen Blitzkrieg innerhalb von fünf Tagen in Kiew stehen. Das legen zumindest Uniformstücke von Paradeuniformen nahe, die in verlassenen Panzern nach den Kämpfen vor Kiew gefunden wurden.

Möglicherweise ist Putin hier in die eigentlich aus der Ökonomie bekannten Denkfalle der „sunk cost fallacy“ geraten (im Deutschen unter „Eskalierendes Commitment“ bekannt). Der Betroffene hat bereits so viel in eine bestimmte Investition gesteckt, dass er es nicht mehr aufgeben kann, mag er auch noch so horrende Verluste damit machen.

Hier bewahrheitet sich auch die alte Warnung, dass es sehr leicht ist, einen Krieg zu beginnen, jedoch sehr viel schwerer ihn zu beenden.

Um das Thema Nihilismus abzurunden noch den Beitrag von Fabian Nicolay in der Achse des Guten, der die Nihilisten heute bei den „Social Justice Warriors“ und Woken sieht, der aber meiner Meinung nach in seinen Ausführungen den Geist des Nihilismus nicht richtig trifft.

Update 08.08.2022: Lesenswert ist die sehr interessante Reportage des Journalisten Timofey Neshitov im aktuellen Spiegel: Wie viel Schuld trägt die russische Gesellschaft an Putins Kriegsverbrechen?

Auszug aus dem Gespräch mit Viktor Schenderowitsch, Schöpfer der satirischen Puppensendung „Kukly“: „In der Grundschule lasen wir eine Fabel über einen alten, sehschwachen Affen, der in Besitz mehrerer Brillen gelangt. Der Affe weiß nicht, wohin damit, er drückt sich eine Brille gegen die Stirn, steckt sie sich eine andere auf den Schwanz, dann schmeißt er sie auf den Boden.

»Wir Russen sind wie dieser Affe«, sagte Schenderowitsch. »Was der Affe mit der Brille tut, haben wir mit unserer Freiheit getan.«

Das Imperium des Bösen, wie Ronald Reagan die Sowjetunion genannt hatte, erschien den Russen damals auf einmal nicht mehr so böse. Auch war es nicht so tot, wie es schien. Es hatte in Russland nach sieben Jahrzehnten Diktatur keinen Schlussstrich gegeben, keine Prozesse gegen Henker und Propagandisten, keine Entlassung von Beamten. Schenderowitsch sagt, es sei wenig überraschend, dass der Homo sovieticus zurückkam. Dass er nichts gegen einen Angriffskrieg hatte.

Und später nichts gegen Putin.

Schenderowitsch vergleicht die sowjetische Mentalität mit der von Leibeigenen in Zarenrussland. Ihr Besitzer peitscht sie aus, schwängert ihre Töchter, aber sie sind stolz auf ihn, weil er mehr Land besitzt als andere Gutsbesitzer. »Das geht seit Jahrhunderten so. Die Sowjetunion war nur ein rotes Mäntelchen, darunter steckte der alte, haarige, stinkende Körper.«

Interessant auch dieser Ausschnitt aus dem Gespräch mit dem Anwalt Sergej Smirnow:

»Immer mehr Russen radikalisieren sich im Untergrund«, sagte er. Es sei schwer zu sagen, wie vernetzt sie seien, wozu das alles noch führen werde, aber dieser Grad der Verzweiflung sei neu.

Im März wurden auf dem Puschkin-Platz in Moskau zwei junge Männer aus dem sibirischen Omsk verhaftet, sie hatten Molotowcocktails dabei. Auf dem Weg ins Revier versuchten sie sich das Leben zu nehmen. Dafür hatten sie vorsorglich Methadon eingepackt.

Im Mai setzte ein Mann mit Anzug und Krawatte einen Gefängnistransporter vor dem Bolschoi-Theater in Brand. Der Mann hat einen Abschluss in Philosophie und drei Kinder.

Landesweit haben Russen seit Kriegsbeginn fast 30 Amtsgebäude des Militärs angezündet.

Addendum Januar 2023; aus dem Tagebuch des Schriftstellers Juri Durkot auf Welt Online, Tagebucheintrag vom 15. Dezember 2022:

(…)

Aber der Hass gegen den Westen ist anderer Natur. Seit Jahrhunderten existiert in der russischen Gesellschaft – zumindest in großen Teilen davon – die Tendenz, sich nicht nur als Gegensatz zur westlichen Welt zu positionieren, sondern als eine andere, bessere Zivilisation zu verstehen. Das hat immer wieder westliche Intellektuelle fasziniert. Die Auffassungen vom „dritten Rom“, einem „zivilisatorischen Sonderweg“ oder von „echten russischen Werten“ werden durch Vorstellungen über Dekadenz, moralischen Verfall und grenzenlose Perversität des Westens ergänzt.

Interessanterweise war in der späten Sowjetzeit kaum davon die Rede. Man hat zwar die helle kommunistische Zukunft gepriesen, für die man noch eine Zeitlang weitere Opfer bringen musste, sowie die Unmenschlichkeit des kapitalistischen Systems angeprangert. Aber jede Behauptung einer „zivilisatorischen Überlegenheit“ des Arbeiter- und Bauernstaates und der Dekadenz oder des Niedergangs der westlichen Welt wäre unweigerlich an der Anzahl von Käsesorten in einem Supermarkt oder an der Auswahl von Männersocken in einem Kaufhaus außerhalb des Eisernen Vorhangs zerschellt. Erst nachdem Russland Ende der 1990er-Jahre endgültig in der Konsumgesellschaft angekommen war, stieg der Hass auf die Erfinder dieser Welt ins Unermessliche. Warum?

Ich habe lange nach Beispielen für eine russische Erfindung gesucht, die die Leben von Menschen erleichtert hätten. Nach etwas ganz Banalem oder technisch Ausgeklügeltem. Wie Reißverschluss, Kugelschreiber, Kühlschrank, Staubsauger oder Smartphone. Hauptsache, es hätte dem Menschen geholfen, seinen Alltag im Dschungel des modernen Lebens zu meistern. Ich habe nichts gefunden. Außer dem Wodka. Aber selbst das ist umstritten. Und zwar in zweierlei Hinsicht – ob der Wodka das Leben wirklich erleichtert und ob er tatsächlich in Russland erfunden wurde.

Warum Russland keine Erfindung für den Menschen zustande gebracht hat, ist eine andere Frage. Vielleicht, weil dort der Mensch und das Menschenleben nie eine Rolle gespielt haben. Auf jeden Fall hat dies zu einer enormen Abhängigkeit geführt – ob bei Haushaltsgeräten, Lebensmittelverpackungen, Luxusgütern oder Technologien.

Ich rede hier nicht von Dostojewski, Tschaikowski oder Mendelejew. Und zwar nicht deswegen, weil die Ukrainer heute nicht besonders gerne über russische Schriftsteller, Komponisten oder Wissenschaftler diskutieren. Der Grund, warum ich das nicht mache, ist ein anderer: Das Lesen von Dostojewski macht das Leben eines Durchschnittsbürgers nicht leichter. Und das ist genau der Punkt.

Man kann argumentieren, dass es nicht viele Nationen gibt, die Erfindungen vom großen praktischen Wert für den Alltag gemacht haben. Das mag stimmen. Die meisten haben allerdings auch nicht den Anspruch, eine bessere Zivilisation zu sein. Wenn aber ein Land von seiner eigenen „zivilisatorischen Überlegenheit“ überzeugt ist und gleichzeitig vom „dekadenten und perversen“ Westen alles kaufen muss – von Kleidung und Gegenständen des täglichen Gebrauchs bis hin zu der komplizierten Ausrüstung für die Gas- und Erdölförderung, – dann lebt dieses Land in einem unmöglichen Spagat, der auf Dauer nicht auszuhalten ist.

Es ist eine Art gesellschaftliche Schizophrenie, die mit der Zeit in einer Paranoia endet, in einer fiktiven Welt voller Verschwörungstheorien und Wahnvorstellungen über feindliche Einkreisung. Man wird aggressiv. Man fängt an, mit Stühlen um sich zu werfen. Oder mit Raketen. Einen aggressiven Patienten kann man psychiatrisch behandeln. Bei einem Land ist es schwieriger. Irgendwann gibt es also keine andere Möglichkeit mehr, als ihm auf dem Schlachtfeld die Grenzen aufzuzeigen. Für alternative Lösungen wären eher Wahrsager und Kurpfuscher zuständig.

Aus einem Interview mit Lew Gudkow, Vizechef des Meinungsforschungsinstituts Lewada, mit SPON vom 29. Dezember 2022:

SPIEGEL: Der Krieg selbst wird nicht infrage gestellt.

Gudkow: Nein, die Angriffe auf die Ukraine und die Massaker spielen keine Rolle. Die Russen haben kaum Mitgefühl mit den Ukrainern. Fast niemand spricht hier darüber, dass Menschen in der Ukraine getötet werden.

SPIEGEL: Beziffern Sie das bitte.

Gudkow: Der Anteil liegt gerade einmal bei 1,5 bis 2 Prozent der Befragten. Und nur durchschnittlich zehn Prozent der Bevölkerung empfinden Schuld und zeigen Einfühlungsvermögen – die russische Gesellschaft ist also amoralisch. Natürlich will sie keinen Krieg, aber die Menschen verhalten sich unterwürfig, passiv, wollen in keinen offenen Konflikt mit dem Staat treten.

Expressumfrage erst einmal nicht veröffentlicht

SPIEGEL: Sie weichen also aus.

Gudkow: Der Krieg hat Mechanismen in der Gesellschaft offengelegt, die seit Sowjetzeiten bestehen. Aus Gewohnheit identifizieren sich die Menschen mit dem Staat, übernehmen dessen Rhetorik über den Kampf ihres Vaterlands gegen den Faschismus und Nazismus wie zu Sowjetzeiten, um die Lage zu rechtfertigen. Das alles ist schon lange in den Köpfen der Menschen vorhanden, die Propaganda aktiviert diese Muster. Sie blockieren jegliches Mitgefühl und Empathie für das, was in der Ukraine passiert. Das gibt es nur für die eigenen toten und verwundeten Soldaten, »unsere Männer«.

SPIEGEL: Haben Sie das so erwartet?

Gudkow: Nein. Diese Passivität und Unterwürfigkeit haben mich enttäuscht. Wir haben gleich am 27. Februar nach Beginn des Krieges eine telefonische Expressumfrage gemacht. Damals dachte ich noch, dass die Reaktion sehr kriegskritisch ausfallen würde. Ich habe mich geirrt. 68 Prozent befürworteten den Krieg. Ich war kategorisch dagegen, diese Umfrage zu veröffentlichen. Unsere Mitarbeiter waren erst entsetzt, wir hatten dafür Geld ausgegeben, wir als Institut haben nicht viel davon. Aber eine Veröffentlichung solcher Daten in so einer Lage hätte nur noch Öl ins Feuer gegossen. Wir haben die Umfrage erst später im März publik gemacht, nachdem staatliche Institute ihre Daten veröffentlicht hatten.

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6 Antworten zu Ukraine: Gibt es eine Korrelation zwischen der Brutalität des Krieges und der russischen Gesellschaft?

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  2. Andreas Moser schreibt:

    Ich glaube, an dem Argument mit der Alltagsgewalt in Russland ist etwas dran. Allerdings vielleicht nicht nur in Russland, sondern insgesamt im postsowjetischen Raum.
    Und nicht nur direkte körperliche Gewalt, sondern auch natürliche Gewalt (sechs Monate Winter), wirtschaftliche Gewalt in der unmittelbaren Wendezeit, und auch eine Geschichte der Brutalität, die im Stalinismus – doch etwas anders als im Nationalsozialismus, der Menschen erst ausgrenzte, bevor er sie ermordete – auch gegen innen, gegen das eigene Volk gerichtet war.

    Ein wahnsinnig bewegendes Buch dazu ist „Secondhand-Zeit“ der Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, in dem sie einfach alte Sowjetbürger über ihre Erfahrungen in der UdSSR und in der Wendezeit befragt: https://andreas-moser.blog/2020/08/27/secondhand-zeit/
    Und fast jede Lebensgeschichte weist Gewalt, Lagerhaft, Folter, Armut, atomare Verstrahlung, Obdachlosigkeit oder Selbstmorde in der Familie auf.
    Und am krassesten fand ich diejenigen, die Opfer des Stalinismus waren, aber trotzdem die Sowjetunion irgendwie vermissen. (Wegen der Gemeinschaft, in der man zusammen Großes geleistet hat, vom Sieg über die Nazis bis zur Raumfahrt.)
    Teilweise schwer nachzuvollziehen, aber ein faszinierender Einblick.

    • benwaylab.com schreibt:

      Hab den ersten Kommentar erst jetzt gesehen. Ja, diese Art von nachgeholtem Stockholm-Syndrom ist mir auch aufgefallen. Dieses gibt es in ähnlicher Form auch in Ostdeutschland und, ja, auch in Deutschland im Bezug auf die Verbrechen im „Dritten Reich“.
      Vielleicht haben die Deutschen geglaubt, dass die Russen ebensoschnell wie sie verdrängen wie sie und sich schnell zu treuen Demokraten entwickeln?
      Man muss allerdings auch sagen, dass die Alliierten in der Nachkriegszeit ein wenig nachgeholfen haben. Zumindest in West-Deutschland konnten sie ein besseres Gesellschaftsmodell anbieten.
      Zudem ist es so, dass sie – auch wenn sie sich nicht in das politische Tagesgeschäft einmischten – einfach da waren und die Deutschen trotz allem das Gefühl eines imaginären Auges in ihrem Nacken hatten, der sie daran hinderte, auf dumme Gedanken zu kommen.

      • Andreas Moser schreibt:

        Ja, mit den Amerikanern hatten wir echt Glück! (Und Japan und Italien ebenso.)

        Wobei ich finde, dass sie die Entnazifizierung gerne länger als nur bis 1948 und gründlicher hätten durchführen können.
        Aber dann war halt schon Kalter Krieg. :/

  3. Andreas Moser schreibt:

    Endlich weiß ich, wie man „sunk cost fallacy“ auf „Deutsch“ sagt, wobei die meisten Menschen mit „eskalierendem Commitment“ wahrscheinlich auch nichts anfangen können. 😉

    Ich bin mal bei einem ersten Date in Litauen irgendwie auf dieses Konzept zu sprechen gekommen. Am nächsten Tag hat mir die Frau geschrieben, dass sie sich wahnsinnig bedanke, weil sie jetzt ihr Leben überdacht habe und ihre schon seit Jahren hingeschleppte Promotion in Bildungswissenschaften offiziell abgebrochen hat.
    Leider haben wir uns danach nie mehr getroffen. Naja, so ist das Leben.

    • benwaylab.com schreibt:

      Es ist manchmal eigenartig. Man begegnet einem Phänomen und versucht es zu beschreiben und zufällig erfährt man irgendwann, dass es dafür sogar einen Begriff und eine völlig ausgearbeitete Theorie gibt.

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