Mein erster Besuch in England seit dem Brexit brachte die gewöhnungsbedürftige Situation mit sich, tatsächlich mit einer Grenzkontrolle konfrontiert zu werden und mit Grenzbeamten, die ihre Aufgabe wirklich ernst nehmen.
Ob es an meinem verdächtigen Aussehen lag oder nicht, es gab das volle Programm: was ich hier will, wohin ich will, wie lange ich bleiben will usw.

Das sind die Gelegenheiten, bei denen der Austritt eines Landes aus der EU nicht nur abstrakt und intellektuell registriert wird, sondern einem materiell klar wird.
Nun ja, es gibt Schlimmeres.
Ich erinnere mich an einen Aufenthalt vor ziemlich langer Zeit als ich in London war und mich kurz zuvor von meiner ersten großen Liebe getrennt hatte.
Der Zufall wollte es, dass gerade kurz zuvor Lady Di in einem Tunnel in Paris tragisch verunglückt war.
Eine sehr seltsame Stimmung lag über der spätsommerlichen Stadt, die vor Trauer wie von einem starken Narkotikum betäubt schien.
Doch vielleicht war das auch nur meine eigene getrübte Wahrnehmung.
Es schien als würde sich die Trauer der Londoner über die tote Prinzessin und meine eigene Trauer über die unmögliche Liebe zu einem brennenden Magma des Schmerzes vermischen, wobei quälende Gedanken an die Endgültigkeit und Unumkehrbarkeit und das Wissen, dass sie schon einen neuen Freund hatte, mich wie eine Traube von Teufeln mit glühenden Spießen zu umschwirren schien, die noch eine weitere Schicht an glühendem Schmerz hinzufügten.
Ich hatte keine Augen und keine Aufmerksamkeit für die Berge an Chrysanthemen und anderen Blumen, die sich – in meiner Erinnerung meterhoch – am Zaun von Buckingham Palace auftürmten.
Der Schmerz um meine verlorene Liebe war übermächtig, überlagerte, erdrückte alles andere.
Mehr als ein Vierteljahrhundert später flaniere ich mit meinen Kindern und meiner Frau durch die Stadt, an die ich so eine quälende Erinnerung habe.
Das einzige gute Andenken habe ich an meine damalige Unterkunft an einem wirklich seltsamen Ort. Es war ein Karate-Dojo/Box-Gym/Jugendclub für gefährdete Jugendliche in der Judd Street in der Nähe der King’s Cross Station. Tonbridge Club hieß er, wenn ich mich richtig erinnere. Die Übernachtung kostete 5 Pfund.
Man musste früh ankommen, um einen Platz zu bekommen wie in einem Obdachlosenasyl. Es ging in ein Untergeschoss, wo man auf einer großen Kampffläche seinen Schlafsack ausrollen konnte. Es war wie bei einem Festival oder beim Biwak in der Grundausbildung. Damals gab es kein AirBnB und auch keine fancy Hostels. Es gab Jugendherbergen oder solche obskuren Quartiere. In einer Ecke standen alte Sandsäcke, richtig oldschool aus braunem, gegerbtem Leder, die Milliarden von Jabs, Punches und Leberhaken eingesteckt hatten und schön nach altem Leder rochen.
Man traf dort Touristen mit schmalem Budget, Interrailer, Traveller aber auch Praktikanten. Ich schlief neben einem tschechischen Eishockeyspieler, der in London nach Arbeit suchte. Es waren eine Menge Franzosen dort. Kaum älter als ich, aber sie hatten schon ihr Studium beendet und waren in London für ein Praktikum. Sie waren sympathisch und spendabel. Abends saßen wir zusammen und tranken Dosenbier und eine Flasche Rotwein. Morgens in aller Frühe, wenn die 100 oder mehr Leute schnell einpacken mussten, damit die Karatekas und Boxer ihr Training beginnen konnten, rasierten sich die Franzosen in den Waschbecken der Umkleiden, zogen ihre Anzüge an, die sie feinsäuberlich in Kleiderhüllen an den Sprossenwänden oder am Geländer aufgehängt hatten, banden sich ihre Krawatten um und verschwanden zu ihrem Praktikum in einer Bank oder weiß Gott wo hin.
Erinnerungen.
Ich suche mit meinen Kindern Orte auf, die ein wenig Unterhaltung versprechen, wie zum Beispiel Speaker’s Corner im Hyde Park.
Ich habe ein Faible für Exzentriker und Spinner und habe darauf geachtet, meinen Kindern zu vermitteln, ihnen mit Mitgefühl und Menschlichkeit zu begegnen und sie nicht von vornherein abzulehnen. Normalerweise amüsieren sich meine Kinder über etwas komische und bekloppte Leute ebenso wie ich.
Ich erinnere mich, wie ich damals in der Ecke bei dem kleinen Pavillon saß und mir die Tränen über das Gesicht liefen, während die religiösen Fanatiker in ihrem Wahn krakeelten.
Denn wenn sich der Unbedarfte vorstellt, dass bei Speaker’s Corner der typische, leicht verschrobene Brite (vor meinem inneren Auge erscheint der Bauer aus Shaun das Schaf), sich auf seine kleine Klappleiter stellt und eine witzige, kluge mit britischem Humor gewürzte Rede hält, um dann mit den Umstehenden zu debattieren, dürfte enttäuscht werden.
Auf dem kleinen Areal geben sich Psychos, religiöse Fanatiker und sonstige Verhaltensauffällige ein Stelldichein und vor allem jede Menge Islamisten, die gegen Israel hetzen. Mir kommt es so vor, als währen es mehr als bei letzten Mal, aber das kann auch an dem Überfall von 7. Oktober und der Vergeltungsaktion der Israelis liegen.

Ich amüsiere mich jedenfalls, während ich die Eiferer beobachte, die wie taubstumme deklamieren, monologisieren, brüllen, gestikulieren und sich in geschriene Dialoge verstricken, bei dem niemand dem anderen zuhört und auf seine Argumente eingeht.
Aber ich merke, dass meine Kinder hier keinen Spaß haben, sondern eher von den Verrückten und Monomanen eingeschüchtert sind und ihnen die Heftigkeit der Begegnung mit dem Wahn Angst macht.
Wir verlassen den Park und spazieren weiter.
Ich habe jetzt eine Familie. Eine richtige Familie mit Kindern, sinniere ich, während ich später an der Themse sitze und in ganz kleinen Schlucken einen Cappuccino trinke. Das Wetter ist nicht zu heiß, bedeckt und es weht ein angenehm kräftiger Wind.
Während ich so die Szenerie beobachte, bemerke ich, dass die Gezeiten auch Einfluss auf die Themse haben und sich der Fluss bei Ebbe um mehr als die Hälfte seiner ursprünglichen Breite vom Ufer zurückzieht und einen breiten Kiesstrand freigibt. Habe ich vorher nicht gewusst. Was ist mir sonst noch entgangen als ich in London war?
Der Schmerz, von dem ich dachte, er würde mich umbringen, ist vergangen, auch wenn er nur schläft. Ich rühre lieber nicht daran.
