Am Rand der Städte verschwinden

Entre les docks et les grues, au bord de l’eau

la cathédrale rêve de partir comme les bateaux :

dans le port il y des zèbres, des bananes, du caoutchouc et du café

l’Afrique entière est rangée au fond des entrepôts

Marseille, mélange de mer et de ville

réalité crue

rues soûles

danse mécanique des têtes urbaines

et puis les tables tranquilles, les silences frais

les ombres sans nombre et les odeurs rares

les regards exotiques

Marseille

Non pas l’orient mais ville où tous les orients se rêvent

Tant de vent !

Comme si l’invisible sans cesse chavirait

Marseille ville-navire

ville assouvie de mer

où dans chaque rue, dans chaque arbre, dans chaque fenêtre

est inscrite la mer

comme en un corps la trace du plaisir

où pour toujours

le soleil a raison

Marseille

c’est ici que commence l’ailleurs

H.-Frédéric Blanc

Eine selbstgestellte Aufgabe hat mich die vergangenen Jahre beschäftigt und war vor allem ein Vorwand, immer wieder nach Marseille zurückzukehren. Wäre ich objektophil oder besser urbanophil, dann wäre Marseille mein größter Crush.

Marseille, die Wilde. Marseille, die Sonnendurchflutete, vom Mistral Windgepeitschte. Stolz und kühn, mit dem selbstsicheren dunklen Blick und der schwarzen Mähne der Mädchen des Südens. Melange aller Gegenden des Mittelmeers von Marokko über Griechenland bis zur Levante.

Es ist jedenfalls ein gutes Gefühl, Aufgaben, an denen man lange und beharrlich gearbeitet hat, zu einem Ende zu bringen: vor kurzem habe ich den Wanderweg GR 2013 bei Marseille beendet.

Der Wanderweg wurde von Wanderern und Künstlern unter Initiative des Philosophen und Verlegers Baptiste Lanaspèze konzipiert und im Jahr 2013, als Marseille amtierende Kulturhauptstadt Europas war, freigegeben.

Wikipedia dazu:

„In Form einer liegenden 8 verläuft der GR 2013 vom TGV-Bahnhof Aix  in der Peripherie der Hafenmetropole Marseille. Im Westen umrundet er das Binnenmeer Étang de Berre, im Osten das Massif de l‘Étoile und Garlaban. Die von seinem Initiator als Metropolenwanderweg bezeichnete Route führt durch Städte und ihre Randgebiete. Der GR 2013 durchkreuzt Kommunen, Einkaufszentren, Industriegebiete, römische Kastelle, Eisenbahnstrecken, Felder, Autobahnen, Wohnsiedlungen, Industriebrachen, aber auch Natura 2000-Gebiete und zwei Gebirgsketten.

Die Bezeichnung „Metropolenwanderweg“ (frz.: sentier métropolitain) wurde durch den Erfinder des GR 2013 Baptiste Lanaspèze geprägt. Ein solcher Weg führt durch die Stadt, Vorstädte und ihre Peripherien. Die Festlegung des Weges soll der Bevölkerung ermöglichen, alle Teile der Stadt – inklusive der sonst gemiedenen Randgebiete – zu Fuß zu erwandern. Ziel eines Metropolenwanderweges ist es, den Stadtraum anders zu erfahren, Beziehungen zwischen Orten herzustellen, von denen man dachte, sie seien weit voneinander entfernt und die Bereiche Ökologie und Stadtplanung, zeitgenössische Kunst und Literatur, Tourismus, öffentlicher Nahverkehr, Kommunalpolitik und Biodiversität miteinander zu verknüpfen.“

Und genau das war es, was mich damals an dem Weg gereizt hat, als ich zum ersten Mal in der französischen Meeresendung „Thalassa“ von ihm hörte.

Auch wenn ich Einzelgänger bin und immer eingenbrötlerischer werde, brauche ich ein Minimum an Zivilisation in der Nähe. Ich glaube, ich Kind der Stadt, würde in der totalen Wildnis dekompensieren.

Seit 2016 bin ich fast jedes Jahr ein längeres oder kürzeres Teilstück der 365 km langen Strecke gelaufen. Zu unterschiedlichen Jahreszeiten in unterschiedlichen Konstellationen: mit einem guten Freund, mit dem die Freundschaft leider in die Brüche gegangen ist, allein, mit der ganzen Familie, mit meinen Töchtern, nur mit meiner älteren Tochter, mit guten Schuhen, mit schlechten Schuhen, in der Hitze des Spätsommers, im Frühling, im kühlen Spätherbst (bedroht durch die Kugeln der psychopathischen Jäger), nach einem schweren Streit mit meiner Frau, mit schwerem Rucksack, mit leichtem Rucksack, fit oder verletzt (Achillessehne, Kapselriss am Knie). Wandern geht immer.

Geschlafen habe ich an den Orten, die gerade verfügbar waren: in Hostels, auf Campingplätzen, in Schutzhütten, im Wald, im Park unter einem Baum.

Mir gefällt es, durch die Landschaft zu streifen, mit den seltenen Menschen, die einem außerhalb der Städte begegnen einen Gruß zu wechseln, mit dem Obsthändler oder dem Espressoverkäufer zu schnacken, wissend, dass ich sie wahrscheinlich nie mehr wieder sehen werde.

An verlassenen Höfen oder Gebäuden im Wald innezuhalten, mir die Gespenster der Menschen vorzustellen, die früher hier gewohnt hatten.

Ich folge den gelb-roten Markierungen, die auf Bäumen, Felsen oder schiefen uralten Betonblöcken aufgepinselt sind.

Ich atme den fruchtigen Duft der Pinien und der Kräuter des Südens ein.

Der Weg bleibt immer am Rand der beiden Pole Marseille im Süden und Aix-en-Provence im Norden, durchquert kleine Städte und Dörfer.

Er bedient alle Gefühlsregungen, die in mir sind: Einsamkeit – Geselligkeit, Stadt – Land, Sesshaftigkeit – Fernweh, Meer- Gebirge.

Marseille und das Département Bouches du Rhône waren noch bis Mitte der 1980er Jahre ein Industriezentrum, und zwar nicht nur der Hafen, sondern vor allem ein wichtiger Standort von Raffinerien und für Bergbau.

Bauxit wird wegen seiner Umweltbelastung nicht mehr abgebaut, aber in Gardanne steht noch das Alumin-Werk, dessen Staub die Fassaden der Häuser rot färbt.

All dies ist größtenteils vorbei, man sieht die Relikte des Industriezeitalters, die Industrieruinen, die wie Dinosauriergerippe in der Landschaft stehen.

Mitten im Wald, in der Nähe von Aix-en-Provence, steht der Zola-Staudamm. Er wurde von François Zolla, dem Vater des späteren berühmten Schriftstellers Émile Zola (nach der Franzisierung nur noch mit einem „l“) entworfen, dem Schöpfer sozialkritischer Werke wie der Roman „Germinal“, in dem er die menschenunwürdigen Ausbeutungszustände im Kohlebecken Nordfrankreichs anprangert. Später war Zola einer der wenigen, die für den zu Unrecht des Hochverrats angeklagten jüdischen Offiziers Alfred Dreyfus Partei ergriffen.

Sein Vater konnte den Staudamm nicht vollenden, da er vorher von einer Lungenentzündung, die er sich auf der Baustelle zugezogen hatte, hinweggerafft wurde.

Um den Bahnhof Aix-TGV haben sich zahlreiche ungeheure Z-Wort-Lager mit aufgetürmten Müll und ihrem sauren Geruch breitgemacht.

Die savannenartige Hochebene bei Vitrolles ist interessant. Der Stadt merkt man allerdings die kurze Periode an, in der das Rathaus vom Front National geführt wurde, auch wenn die Stadt nun schon seit geraumer Zeit in sozialistischer Hand ist

Die Blicke der Einwohner sind abweisend. Ein Mann mit Rucksack, der durch die abendlichen Straßen spaziert, wird nicht gern gesehen. Macht nichts.

Der provenzalische Waldboden ist jedenfalls gastfreundlich.

Und dann natürlich Marseille, die Wilde. Ganz anders als der Rest der Küste, das abstoßend prollige Monaco oder das nach Botox und Silikonimplantaten stinkende Nizza.

Es kann meine romantische Einbildung sein, aber ich finde man merkt der Stadt den griechischen Ursprung an. Relikte der Vielgötterei in der Mentalität, die Lebensfreude und Wildheit, Roheit, Direktheit hervorbringen.

Marseille ist die älteste Stadt Frankreichs. Vor fast 3000 Jahren von Griechen aus dem heute in der Türkei gelegenen Phokäa gegründet, daher auch der französische Beiname „Cité Phocéenne“.

Die Place de Lenche am Rande des Panier (von Jean-Claude Izzo in seinen Krimis stimmungsvoll beschrieben) hat noch die rechteckige Form der antiken Agora, wo die Griechen ihrer Sitte gemäß die Angelegenheiten der Polis zu besprechen und verhandeln pflegten.

Ich mag das Schmutzige, das Rauhe, das Dreckige – das Menschliche.

Der Geruch der Abgase, die grellen, billigen Neonlichter in den Cafés und Wohnungen, die Graffitis, die ausgebrannte Autowracks, die benutzten Kondome auf den Wegen.

Eine Stadt, in der Drogen gehandelt und schon Kinder im Kugelhagel der Kalaschnikows sterben, wenn die Dealer ihre Rechnungen begleichen. Zum Zeitpunkt des Artikels im April 2023 sind bereits seit Anfang des Jahres 16 Personen erschossen worden.

Der Wanderweg führt an einer dieser gefährlichen Betonsiedlungen vorbei, der Cité La Bricarde. Man steht erst auf einer Anhöhe, wo schon ein Späher in einem Liegestuhl fläzt und den Fremden fragt, was er hier will. Nach dem Blick auf die Landkarte in meiner Hand, zieht er sich wieder in den Schatten der Pinien zurück. Kein Bulle, er ist beruhigt.

Unterhalb der Anhöhe liegen ausgebrannte Autowracks, die vermutlich nach einem Bruch abgefackelt und den Abhang heruntergekippt wurden.

An den Wänden der Cité sind die Preise für die Drogen in einer ungelenken Mischung aus Slang, Verlan und rechtschreibschwachem Französisch an die Wände gesprüht: „Beuh“, „Super moula“, „Cok“, „Peufra“.

Scharfe Augen erblicken sofort den Wanderer, der mit Rucksack den parallel verlaufenden Wanderweg herabkommt. Die kleinen Späher, halbwüchsige Jungen im Alter von ca. 12 bis 17 Jahren, im Drogenhändlerjargon „choufs“ genannt, stoßen sofort ihren Alarmruf aus, der sich wie „ara-ara“ anhört, sobald sie meiner ansichtig werden. Man sieht etwas ältere Gestalten, sich in den Schatten oder Hauseingänge zurückziehen.

Hier war mir etwas mulmig. Das Einzige, was mir als Verteidigungswaffe dienen konnte, war ein kleines Messer, mit dem ich Brot oder Salami schneide. Doch natürlich passierte nichts. Die Drogenhändler wollen nicht in ihren Geschäften gestört werden, alles, was die Polizei anzieht, ist schlecht. Es wird nicht gekämpft oder geraubt, solange es nicht unbedingt notwendig ist.

Marseille ist wie alle armen Gegenden religiös. Katholizismus und Islam dominieren.

Alle Religionen sind scheiße und der Islam noch mehr als alle anderen Religionen aber die Freundlichkeit und Herzlichkeit der Menschen sind gleichzeitig unleugbar. Und das ist schön.

Die Stadt ändert sich schnell. Im Verlauf der Wanderung musste ich feststellen, dass manche Wege oder Brücken gesperrt sind oder abgerissen wurden, so dass man Umwege laufen muss. Das ist die Dynamik der Stadt.

Am besten gefällt mir, dass der Weg die Form einer liegenden Acht hat, das Unendlichkeitszeichen. Wenn man die Strecke beendet hat, kann man wieder von vorn beginnen.

Und bald werde ich wieder hier sein.

Wenn ich die weißen, scharfkantigen Steine oder den typischen grobkörnigen französischen Asphalt unter meinen Füßen spüre, fühle ich mich lebendig.

Veröffentlicht unter Frankreich, Gesellschaft, Kunst, Reise, Stadtleben | Verschlagwortet mit , , | 4 Kommentare

Die dunkle Seite von ’68

Einige meiner besten Leseempfehlungen – unter anderem „Oro“ von Cizia Zykë – habe ich aus dem Feed eines jungen französischen Schriftstellers, der anonym unter dem Pseudonym „Hazukashi“ auf Medium schreibt. Wer gut Französisch spricht, dem lege ich seine wirklich interessanten und gut geschriebenen Essays ans Herz.

Das Buch, um das es heute gehen soll, ist von Simon Liberati und trägt den Titel „Anthologie des apparitions“.

Die Handlung ist im Jahr 2000 angelegt. Claude ist ein heruntergekommener Clochard, der vor dem Sozialamt sitzt und darauf wartet, dass seine Nummer aufgerufen wird und er seine Unterlagen abgeben kann, damit er Sozialhilfe bekommt.

In der Wartezeit zieht er eine Lebensbilanz. Er ist um die 40 Jahre alt, hat keine Arbeit, keine Ausbildung, keine Wohnung, kein Geld. Er lebt bei wechselnden Frauen, die er verachtet. Ab und zu lutscht er alten Bastarden den Schwanz, um ein paar Francs für ein Päckchen Kippen zu haben.

Sein engster Freund Ali ist ein schwuler, misogyner, antisemitischer Araber, mit dem er abends in Absturzkneipen verschwindet, bevor seine jeweilige Hauswirtin von der Arbeit kommt, weil ihm das banale Gerede, wie es ein einer abgeschmackten Beziehung stattzufinden pflegt, unerträglich ist oder – Gott bewahre! – sexuelle Annäherung.

Früher, in den 1970er Jahren, da war er ein begehrter Schönling, der im Pariser Nachtleben lustwandelte, von Vernissage zu Modedéfilé zu mondänen Abendessen.

Claudes Schwester Marina ist verschwunden, schon seit einigen Jahren.

Aber Claude scheint das nicht mehr zu beunruhigen, als die Frage, ob seine Unterlagen für den Sozialhilfeantrag vollständig sind. Er war ein kleiner hedonistischer Opportunist, der selbst nahestehende Personen für kleine Gefälligkeiten verraten hat und ist nun ganz am Boden der Talsohle angekommen.

Nach und nach wird klar, dass Claude mit seiner Schwester in ihrer frühesten Jugend mit Heroin in Berührung kamen. Ihre Eltern nahmen eine Wesensveränderung wahr. In  dem Glauben, ihren Kindern etwas Gutes zu tun schickten die Eltern das Geschwisterpaar  in die Praxis des berühmten Docteur Ben Chemoul, einer Koryphäe auf dem Gebiet der Kinderpsychologie. in der Avenue Georges-Mandel im feinen 16. Arrondissement.

Die Therapie sah so aus, dass stets ein gutes Dutzend verstörter Kinder sich darum balgte, im Roll Royce des guten Dr. Ben Chemoul fahren zu dürfen, der stets in Unterhose in seiner Praxis umherzulaufen pflegte.

Die Fahrt im Rolls Royce war eine Belohnung. Nur derjenige, der sich den zahlreichen dekadenten Freunden des Doktors für eine Nacht oder auch länger hingab, durfte mitfahren.

Die Devise des guten Doktors war nämlich die, dass die Familie die Keimzelle des Faschismus und der Unterdrückung sei.

Sein Behandlungskonzept erklärte er den Kindern folgendermaßen: „Ihr seid krank. Eure Eltern erziehen euch zum Gehorsam, damit ihr in der Schule und später in den Büros und in den Fabriken schuftet. Wir sprengen die Familie, um euch die Freiheit zu geben, die sexuelle Freiheit führt zur persönlichen und spirituellen Befreiung des Individuums, und je früher man damit anfängt, in der Kindheit, desto besser ist das. Und die Prostitution ist die oberste Stufe der freien Sexualität.“

So kam es, dass der Doktor halbwüchsige Jungen und Mädchen der Prostitution zuführte und Claude der Zuhälter seiner eigenen Schwester wurde.

Es ist ein Refrain, den man in dieser oder anderer Form immer wieder, auch in Deutschland, gehört hat. Leute wie Daniel Cohn-Bendit haben in der ihnen eigenen pseudo-ironischen Weise die perverse Theoretisierung für das Unwesen geliefert, das die bei den Grünen der Anfangszeit zahlreich vorhandenen Päderasten treiben durften.

Als Simon Liberati das Buch geschrieben hat, konnte er noch gar nicht die Skandale erahnen, die das französische linke Establishment erschüttern sollten.

Erst der Skandal um den lange vom Kulturestablishment protegierten pädophilen Autor Gabriel Matzneff und dann vorletztes Jahr der Rückzug des langjährigen Vorsitzenden des Verwaltungsrats der Eliteuniversität SciencesPo, Olivier Duhamel, nachdem seine Stieftochter in einem Enthüllungsbuch seine inzestuösen Übergriffe auf ihren Bruder entlarvte.

Es ist ein gut geschriebenes Buch, das heißt in einem schönen Französisch, trotz des brutalen Themas teilweise mit lustigen Beschreibungen und Formulierungen.

Die titelgebenden Erscheinungen scheinen mir die Geister aus seiner Vergangenheit zu sein: Bekannte, Freunde, Therapieopfer, die an einer Überdosis draufgegangen, vom Dach gesprungen oder – wie seine Schwester – einfach verschwunden sind.

Ich stelle es mir so vor wie in dem Lied „Walk on the Wild Side“ von Lou Reed.

Oder wie in dem Lied „People Who Died“ von Jim Carroll, dem Schriftsteller und kurzzeitigen Punkikone, dem Leonardo DiCaprio in einer Zeit vor dem Ruhm und den Blockbustern in einer obskuren Verfilmung seiner Autobiographie „The Basketball Diaries“ ein filmisches Denkmal gesetzt hat.

Es ist ein krasses Buch über eine Epoche, die zugleich unglaublich frei und heruntergekommen war und mir so vorkommt als hätte sie sich vor hundert Jahren abgespielt. Düster, beklemmend und dreckig wie eine Linie schlechtes Koks.

Der Autor lebte übrigens lange Zeit mit der Schauspielerin Eva Ionesco zusammen, die in ihrer frühen Kindheit von ihrer eigenen Mutter an Fotografen vermietet wurde, die von ihr Softpornobilder und Aktfotos schossen, die man heute ohne zu polemisieren als ästhetisierende Kinderpornographie bezeichnen kann.

Zum Abschluss dieser drollige Ausschnitt aus der Show mit Thierry Ardisson, in der Simon Liberati auftritt, um sein Buch vorzustellen. Ich habe an anderer Stelle geschrieben, dass Thierry Ardisson bescheuert ist, aber es stimmt nicht. Ich muss meine Meinung revidieren. Er hat in seiner Show die unterschiedlichsten Menschen mit verschiedensten Biographien eingeladen und ihnen mit Neugier und Freundlichkeit zugehört, ohne über sie zu urteilen. Es ist natürlich auch eine Unterhaltungssendung, in der Schauspieler und Schriftsteller ihre neuesten Werke promoten dürfen und Stars und Sternchen aus dem Showbiz in ausgelassener Diskussion ihren Senf dazugeben.

Hier sieht man Simon Liberati, der sich vor lauter Nervosität vorher einen angesoffen hat oder noch ganz andere psychotrope Substanzen zu sich genommen hat und die Treppe in das gleißende Studio herunterwankt, so dass man an Thierry Ardissons leicht besorgten Gesichtsausdruck die Frage ablesen kann, ob die Sache wohl gut über die Bühne gehen wird.

Veröffentlicht unter Frankreich, Gesellschaft, Kunst | Verschlagwortet mit , , , , , , , | Kommentar hinterlassen

Serienkritik: „Dahmer“

Normalerweise misstraue ich Hypes instinktiv. So auch der überall angepriesenen Netflix-Miniserie „Dahmer“, die von dem schwulen Serienkiller und Kannibalen von Milwaukee handelt, der 1991 gefasst und wenig später im Knast von einem Mithäftling totgeprügelt wurde.

Im Gegensatz zu früher sehe ich praktisch keine Serien mehr, weil mir die Konstanz und die Konzentration fehlt, um einer Handlung über mehrere Teile oder gar Staffeln zu folgen.

Anderseits erinnerte ich mich noch ziemlich gut an den Artikel im Spiegel kurz nach seiner Verhaftung mit all seinen morbiden Details, den ich mir damals in den Sommerferien bei meinem französischen Familienzweig im Ferienhaus im Nizzaer Hinterland zu Gemüte führte.

Ich gab der Serie also eine Chance, und nun ja, sie ist ziemlich okay.

Positiv herauszustellen ist, dass sie unwoke ist, was bei Netflixserien fast schon eine Ausnahme darstellt.

Die Produzenten und Regisseure (wie heutzutage üblich, werden einzelne Folgen einer Serie von unterschiedlichen Regisseuren gedreht, unter anderem, wie ich feststellen musste sogar von Jennifer Lynch, der Tochter des Priesters des Bizarren David Lynch, Schöpfer von „Eraserhead“, „Der Elefantenmensch“, „Dune“, „Wild at Heart“, „Lost Highway“ und anderen Klassikern) haben sich bei der Konzeption für die historische Treue entschlossen, was bedeutet, dass sich die Handlung größtmöglich an den tatsächlichen Ereignissen orientiert. Das geht bis hin zu den akribisch nachgebildeten Ziffern an der Zimmertür des berüchtigten Apartments 213, in dem Dahmer zum Schluss mit den Köpfen seiner Opfer im Kühlschrank und einem Torso in einer Plastiktonne lebte.

Oder auch bei der Szene der Gerichtsverhandlung, bei der die Schwester eines Opfers Dahmer konfrontiert.

Der Darsteller, der Christopher Scarver spielt, den Häftling, der Dahmer im Gefängnis tötet, könnte sein Zwillingsbruder sein.

Unweigerlich führt das allerdings dazu, dass dramaturgisch nur sehr wenig Spielraum bleibt.

Allerdings werden auch nicht alle Morde gezeigt und vor allem nicht Dahmers liebste und Mordmethode, die er über die Jahre immer weiter ausfeilte, nämlich seinen betäubten Opfern mit einem Akkuschrauber ein Loch in den Kopf zu bohren und mit einer Pipette Salzsäure hineinzuträufeln, um sie seiner Phantasie gemäß in willenlose Sexzombies zu verwandeln.

Was sich schon beim Lesen grauenerregend anhört, wird noch dadurch übertroffen, dass in der Realität eins seiner Opfer, der laotische Junge Konerak Sinthasomphone nach einer solchen Behandlung wieder zu sich gekommen war, während Dahmer Biernachschub war.

Bei Dahmers Rückkehr saß das Opfer vor der Eingangstür und unterhielt sich benommen mit Hausbewohnern und Nachbarn. Doch Dahmer nahm ihn wieder in seine Wohnung mit, und behauptete, er habe sich nur mit seinem Freund gestritten und kläre das jetzt.

Sehr gelobt wurde die Darstellung des Hauptdarstellers Evan Peters.

Dieser ist zweifellos ein sehr guter und talentierter Schauspieler, bekannt wurde er hauptsächlich durch seine Teilnahme an fast allen Staffeln von „American Horror Story“.  

Dennoch finde ich ihn fehlbesetzt, weil er mit seinem ruhigen, freundlichen Gesicht überhaupt nicht dem Bild entspricht, das man sich von Dahmer und seinem leeren, stumpfen Gesichtsausdruck, wie man es von seinen Polizeifotos kennt, gemacht hat.

Was den Zuschauer zu der Frage führt, wie Dahmer, der nicht als Serienkiller auf die Welt gekommen ist, sich zu der Person entwickeln, als die er traurige Berühmtheit erlangt hat.

Hatte Dahmer ein verborgenes Seelenleben?  Oder war er vielleicht einfach nur eine vollständig leere Persönlichkeit. Ein Produkt der entfremdenden amerikanischen Gesellschaft,  das ab und an seinen mörderischen Trieben nachgab.

In Ansätzen versucht die Serie Dahmers Persönlichkeit zu erklären und gibt dabei den Eltern eine nicht unerhebliche Verantwortung für sein psychopathisches Verhalten.

Dahmer kam nicht aus einer verwahrlosten, mittellosen Familie. Sein Vater war ein Chemiker und Wissenschaftler an der Universität, seine Mutter war Hausfrau.

Und doch lebte er in einer dysfunktionalen Familie, in der er zumindest emotional missbraucht wurde. Die Mutter nahm schon während der Schwangerschaft in rauhen Mengen Schlafmittel und Tranquilizer. Seine Eltern wären sich am besten niemals begegnet. Schon als kleines Kind wurde er Zeuge ihrer heftigen Ehestreitigkeiten.

Sein Vater ist eine ambivalente Persönlichkeit. Er war zwar abwesend, aber er war auch derjenige, der immer zu ihm gehalten hat und immer wieder versucht hat, ihm wieder auf den geraden Weg zu helfen, als er von der Universität flog oder wegen seines Alkoholkonsums unehrenhaft aus der Armee entlassen wurde.

Andererseits hat er ihm auch das Präparieren von überfahrenen Tieren beigebracht und damit einen mächtigen Trigger in Gang gesetzt.

Sehr krass ist auch die tatsächliche Begebenheit, dass seine Eltern, die sich nicht mehr ausstehen konnten, ihn kurz vor seinem Schulabschluss einfach ganz allein gelassen haben.

Sein Vater war mit seiner neuen Lebensgefährtin in ein Hotel gezogen und ließ ihn bei der Mutter. Die hat jedoch einfach ihre Sachen gepackt und war mit seinem jüngeren Bruder verschwunden. In der wichtigen Phase des Schulabschlusses war Jeffrey Daher mehrere Monate völlig allein im elterlichen Haus.

In dieser Lebensphase, mit achtzehn Jahren, verübte er seinen ersten Mordversuch an einem Jogger und tötete kurz darauf einen Anhalter.

Die Serie geht seine Persönlichkeit aus dem Winkel an, dass Dahmer ein unvorstellbar einsamer seltsamer Junge war, der einen Freund suchte, und die Menschen tötete, die ihn verlassen wollten. Um zu verhindern, wieder allein gelassen zu werden, wie er es von seinen Eltern wurde. Als Stilmittel wir bis zum Überdruss der schnulzige Song „Please Don’t Go“ von KC & The Sunshine Band gespielt.

Jedenfalls hat die Serie mein Interesse an weiterer Recherche geweckt. Man findet zum Beispiel ein ziemlich interessantes Interview von CNN. Die 80er und die 90er Jahre war die Epoche der noch relativ neuen Nachrichtensender, die Voyeurismus unter dem Vorwand der Information betrieben.

Es ist natürlich schon morbide, aber dennoch ist aus meiner Sicht das Interview ein höchst interessantes kriminologisches und historisches Zeitdokument.

Es ist interessant zu hören, wie seine Stimme klingt und ihm bei seinen Argumenten zu folgen. Eine weitere Überraschung ist, dass Dahmer ziemlich redegewandt und in der Lage ist, sein eigenes Verhalten zu reflektieren.

Mit ein paar Kilos mehr, hat er auch gar nicht mehr diese Verbrechervisage wie von seinen „mug shots“ bei der Polizei.

Wer war Dahmer wirklich? Wahrscheinlich werden wir es niemals herausfinden.

Veröffentlicht unter Film, Gesellschaft, Kriminalität | Verschlagwortet mit , , , | Kommentar hinterlassen

Filmreihe: Die Dämonen des Ostens

Das düstere Reich des Ostens hat mich – ganz losgelöst vom aktuellen Konflikt in der Ukraine – schon immer sehr interessiert. Die Länder, die nach dem Zweiten Weltkrieg für fast fünfzig Jahre hinter dem Eisernen Vorhang verschwanden, sind nicht einfach nur Länder, die sich durch liebenswürdige leicht klischeehafte Eigenarten unterscheiden, wie beispielsweise ein Lenkrad auf der rechten Seite oder die Angewohnheit um fünf Uhr nachmittags Tee oder einen Espresso unter Renaissance-Kolonnaden zu trinken oder sein Croissant in eine Schale mit Milchkaffee zu stippen und Gauloises zu rauchen, aber ansonsten doch recht ähnlich sind, sich vor allem auf einen Bestand gemeinsamer Erfahrung stützen: Frieden, Wohlstand, Freiheit und Individualismus.

Nein, es sind fremde Welten. Zumindest für mich. Entfernte Planeten mit anderer Mentalität und anderen Sitten, so wie Odysseus nach dem Ende der Trojanischen Krieges auf seiner Irrfahrt zurück nach Ithaka die fremden Völker der Lotophagen, Laistrigonen und Zyklopen erschienen sein mögen („Dort ist weder Gesetz, noch öffentliche Versammlung; Sondern sie wohnen all‘ auf den Häuptern hoher Gebirge/ In gehöhleten Felsen, und jeder richtet nach Willkür / Seine Kinder und Weiber, und kümmert sich nicht um den andern“). Nein, natürlich ist das in der Realität nicht so. Hinter der Mauer lebten empfindsame, vernunftbegabte Wesen, die man aber unterjocht und gepeinigt hat, was in den Seelen und im Verhalten seine Spuren hinterlassen hat.

Den Begriff „Dämonen“ im Titel verstehe ich in dem Sinne, wie ihn Dostojewski in seinem Roman „Бесы“ (deutsch: „Die Besessenen“ oder „Die Dämonen“) verwendet, in welchem er das Aufkommen der Nihilisten und das Vorausahnen damals noch fernen des stalinistischen Terrors thematisiert. Seine Übersetzerin ins Deutsche Swetlana Geier hat den Titel „Бесы“ etymologisch näher an seinem eigentlichen Sinn als „Böse Geister“ übersetzt. Und um diese handelt es sich hier: die Geister des Hasses und der Barbarei, die noch in diesen Ländern glimmen. Das Nachwirken des Terrors und der Unmenschlichkeit, die man in den Augen der Menschen sehen kann.

Dass wir uns recht verstehen: diese Geister und Monster lauern auch in Deutschland, und zwar en masse. Die Deutschen haben sie nur in einer atemberaubenden Verdrängungsleistung in die hintersten und entferntesten Kammern ihres kollektiven Gewissens verbannt, wovon im Verlauf dieses Artikels noch die Rede sein wird. Wie Peter Pomerantsev in einem Interview sehr klug analysiert hat, sind Deutschlands verdrängte Verbrechen und Traumata mit dem Krieg in der Ukraine unmittelbar verbunden.

Vor einigen Wochen habe ich einen sehr interessanten Artikel des Filmkritikers von Le Monde, Jacques Mandelbaum, gelesen, in welchem er die neuesten russischen, ukrainischen und rumänischen Filme vorstellt und sie mit einem fast schon expressionistischen Vokabular anpreist: „Ohne jeden Film in seiner Eigentümlichkeit beschreiben zu müssen, möchten wir auf essenziellere Weise die großen Motive herausarbeiten, die sie beherrschen und sie sie ganz oder teilweise teilen. Als da wären: der Hass auf seine Mitmenschen, der Bruch zwischen Eltern und Kindern. Die Rückkehr zu primitiven Kräften (Wälder und Tiere). Die Zerstörung durch das Feuer. Der Abstieg in die Nacht. Ein allgemeiner Befund, der die alten deuteronomischen Verwünschungen beschwört“ (Übersetzung durch den Verfasser).

Diese Zeilen haben mich sofort in ihren Bann gezogen, so dass ich beschlossen habe, alle dort genannten Filme anzuschauen und zu besprechen. Zum Zeitpunkt des Verfassens sind noch nicht alles Filme im Stream erhältlich, so dass der Artikel nach und nach ergänzt wird.

  1. Loveless

Den Anfang macht der Film „Loveless“ aus dem Jahr 2017 des Regisseurs Andrej Swjaginzew.

Der Filmtitel auf Russisch lautet Нелюбовь, wörtlich übersetzt: „Nicht-Liebe“, und gibt das Thema schon gleich vor. Er handelt von dem Hyper-Materialismus und der Lieblosigkeit in den post-sowjetischen Gesellschaften zwischen den Menschen und Mitbürgern, zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern.

Das Drama spielt sich innerhalb einer Kleinfamilie ab. Ein Ehepaar zerreißt sich in einer häßlichen Scheidung. Der Mann, ein opportunistischer Karrerist, hat schon eine jüngere Frau als Partnerin, die von ihm auch bereits schwanger ist. Auch die Frau hat einen gut situierten Mann gefunden. Nun muss nur die Eigentumswohnung verkauft werden, was zu Streit führt.

Auf der Strecke bleibt der gemeinsame zwölfjährige Sohn Aljoscha, ein trauriger, einsamer Junge mit einem ruhigen Gesicht und schönen grünen Augen, der unter den hasserfüllten Streitigkeiten seiner Eltern leidet und nicht mehr beachtet wird. Weder Vater noch Mutter wollen ihr neues Leben mit ihm belasten. Es ist beschlossene Sache, dass er in ein Internat gesteckt werden soll. Der gemeinsame Sohn ist das Relikt einer gescheiterten Ehe, schon längst Vergangenheit und für die beiden Egoisten nur ein Problem, das einem zwischen dem Verkauf der Wohnung und der Scheidung Kopfschmerzen bereitet.

Abgesehen von der eigentlichen Handlung ist auch das Setting interessant: nach dem Kommunismus der Ultra-Kapitalismus. Das zwanghafte Nachholen des Konsums und des Materialismus. Das obsessive Anhäufen von Statussymbolen und der übermächtige Wert, der dem richtigen Job und einer Eigentumswohnung beigemessen wird. Das permanente und penetrante Nachahmen klischeehafter westlicher Verhaltensweisen (Smartphones, Selfies, Anweisungen an „Siri“, „Foodies“ im Restaurant für Instragram).

Das zerstrittene Ehepaar lebt in einer trügerischen Blase des relativen Luxus in einem ansonsten heruntergekommenen Land. Die Eigentumswohnung, um die es sich streitet, ist geschmackvoll eingerichtet und doch ist es eine Wohnung in einem Sowjet-Plattenbau.

Es ist schmerzhaft dabei zuzusehen, wie sich die ehemaligen Ehepartner zerfleischen und demütigen. Besonders Schena, die Mutter, ist giftig und aggressiv.

In dieser Situation verschwindet Aljoscha nach der Schule. Die Eltern engagieren eine private Suchorganisation, deren Mitglieder sich allerdings als einzige Sorgen um Aljoscha zu machen scheinen. Die Eltern schaffen es noch nicht einmal in einer solch ernsten Situation zusammenzuhalten.

Kurz darauf wird in der Rechtsmedizin eine übel zugerichtete Jungenleiche eingeliefert, auf die Aljoschas Beschreibung passt. Beide Eltern weigern sich, den toten Jungen als ihren Sohn Aljoscha zu identifizieren.

Am Ende ist die Wohnung verkauft. Die Scheidung ist vollzogen und die Eltern leben mit ihren jeweils neuen Partnern zusammen.

Schena hat ihren Status verbessert. Sie lebt mit ihrem wohlhabenden Partner in einer luxuriösen Wohnung. Boris hat sich verschlechtert. Er lebt mit seiner neuen Partnerin und dem Säugling in einer kleineren Wohnung und muss noch mit seiner grauenhaften Schwiegermutter zusammenwohnen. Es bahnt sich genau die gleiche Beziehungskatastrophe an, wie zuvor.

Aljoscha bleibt verschwunden. Warum er verschwunden ist, wo er abgeblieben ist und ob er der Junge auf dem Seziertisch war, bleibt ungeklärt.

Es ist ein trauriger, düsterer, deprimierender Film, in dem einige Kritiker eine Metapher für Russland uns seine Gesellschaft sehen. Eine Gesellschaft abgestumpfter, egoistischer Erwachsener, in der Kinder schnell unter die Räder kommen können. Eine entpolitisierte Gesellschaft, die nach maximalem materiellen Wohlstand strebt und die Vergangenheit und die Dämonen verdrängt, die zu dieser Situation geführt haben.

Erschütternd sind die geschilderte Achtlosigkeit, die Sprachlosigkeit, der Egoismus und die zwischenmenschliche Brutalität. Es ist schwer zu verstehen, wie zwischen zwei Menschen, die sich einmal wenn nicht geliebt, so doch verstanden haben, ein solcher Hass entstehen kann.

2. Babyn Yar. Kontext

Der dokumentarische Film „Babyn Jar. Kontext“ aus dem Jahr 2021 behandelt das größte Einzelmassaker an Juden im Zweiten Weltkrieg. An zwei Tagen im September 1941 wurden zwischen 25.000 und 33.000 Juden in einer Schlucht in der Nähe von Kiew erschossen. Während in den Vernichtungslagern in Polen mit Gas gemordet wurde, fand auf dem Gebiet der Ukraine die „Shoah mit Kugeln“ statt. Die berüchtigten Einsatzgruppen löschten mit Unterstützung ruthenischer/ukrainischer Gehilfen Menschenmassen wie Fliegen aus. Mein Bloggerkollege Andreas Moser hat darüber einen interessanten Artikel geschrieben.

Regisseur Sergei Loznitsa hat für diesen Film bisher unveröffentlichte Filmaufnahmen zu einer Dokumentation montiert.

Zwei Ausschnitte sind besonders erschütternd. Der erste ist die Zeugenaussage einer ukrainischen Frau, die von den Deutschen fälschlicherweise als Jüdin zur Schlucht verschleppt worden war. Es gelingt ihr, den Irrtum aufzuklären, woraufhin ihr befohlen wird, mit anderen Russen und Ukrainern, die nicht erschossen werden sollen, neben der Grube zu warten, die sich immer weiter mit Leichen füllt.

Die Erschießungen dauerten bis zum Einbruch der Dunkelheit. Als sie am Abend freigelassen werden sollte, erschien ein Gruppenführer und befahl, auch die fälschlicherweise verschleppten Ukrainer und Russen zu erschießen, da sie ansonsten von dem Massaker berichten könnten.

Es ist bereits Dunkel, als sie mit den anderen Schicksalsgenossen an den Rand des Massengrabs geführt wird. Sie wird von den Schüssen nicht getroffen und lässt sich ins Massengrab fallen. In der Dunkelheit gelingt es ihr dann aus der Grube zu kriechen, als bereits Erde auf sie geschaufelt wird und zu entkommen.

Der zweite entsetzliche Ausschnitt ist die Aussage des Soldaten Boris Drachenfels, der über den Ablauf der Erschießungen aussagt. Die Kinder wurden von ihren Eltern getrennt, die zuerst erschossen wurden. Die Soldaten nahmen sodann die Kinder in den Arm, verpassten ihnen einen Kopfschuss und warfen die Kinderleichen auf die ihrer Eltern ins Massengrab.

Es ist ein auf ewig unentschuldbarer Frevel. Ich denke, dass es trotz der aktuellen russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine nicht schadet, sich in Erinnerung zu rufen, was unsere Groß- und Urgroßväter vor gar nicht so langer Zeit in exakt diesem geschundenen, blutbesudelten Land getan haben.

Das Thema „Shoah der Kugeln“ und Babyn Jar ist auch in der Ukraine ein sehr heikles Thema, und zwar nicht nur wegen Stepan Bandera, des ukrainischen Freiheitsidols mit der widersprüchlichen Biographie: einerseits ein glühender Nationalist, andererseits ein eingefleischter Antisemit, der sich im Zweiten Weltkrieg den Deutschen andiente, von ihnen aber auch eine zeitlang ins KZ gesteckt worden war.

Regisseur Sergei Loznitsa erklärt die Verlegenheit so: „In Lwiw, das 1939 zu Polen gehörte, bestand die Bevölkerung zu 60 % aus Polen und zu 25 % aus Juden. Die Juden wurden von den Nazis ermordet. Stalin hat die Polen 1945 deportiert und die Stadt für die Ukraine annektiert. Wer, glauben Sie, hat sich in den Wohnungen der einen und der anderen einquartiert? Wer hatte ein Interesse daran, dass niemand zurückkehrt, um seine Wohnung herauszuverlangen? Dieselbe Situation hat sich in allen Städten im Westen und im Zentrum der Ukraine wiederholt. Ein Volk ist verschwunden: es gab mehr als zwei Millionen Juden in der Ukraine, heute sind es vierzigtausend. Und die Mehrheit derjenigen, die überlebt haben, hat das Land sofort nach der Öffnung der Grenzen 1988 verlassen. Fragen Sie sich mal, warum. »

Die Sowjets und die Ukrainer, wollten nach dem Zweiten Weltkrieg nichts mehr von dem Massaker in Babyn Jar und anderswo wissen und verfüllten die Schlucht mit Industrieschlamm. Nach größeren Regenfällen und einem Unfall in der nahegelegenen Ziegelei brach der Damm am 13. März 1961 und überflutete Vororte im Norden Kiews. 146 Menschen starben. Karma?

3. Evolution

Sehr schwere Kost, die in der zweiten Hälfte etwas heiterer wird, ist der ungarische Film „Evolution“ von Kornél Mundruczó aus dem Jahr 2021.

Der Film umfasst drei Teile, die nach Personen benannt sind, und beschäftigt sich mit den generationenübergreifenden Traumata des Holocausts und dem Versuch zu erklären, wie man das Gewicht tragischer Ereignisse tragen kann, die man jedoch selbst nie erlebt hat.

Der Film ist in seiner Form und seinen Ausdrucksmitteln sperrig und schert sich überhaupt nicht darum, das Thema für eventuell für einen weiteren Personenkreis zu versüßen. Kornél Mundruczó  und die Drehbuchautorin Kata Wéber sind gewissermaßen die Anti-Spielbergs.

Der Film ist meist in sehr langen Einstellungen ohne Schnitte gedreht und bedient sich teilweise des Stilmittels des magischen Realismus.

Im ersten Teil des Films, dem kürzesten der drei, wird überhaupt nicht gesprochen. Drei Arbeiter – vermutlich Häftlinge – reinigen nach der Befreiung von Auschwitz eine Gaskammer mit Desinfektionsmitteln. Die Tätigkeit in der beengten von Zwielicht erhellten Mordzelle mit den grünlichen Wänden ist erdrückend. Aus den Ritzen in den Betonwänden ziehen die Häftlinge menschliche Haare, dann Strähnen, dann ganze Stränge und schließlich endlos lange Lianen aus Haaren aus der Mauer.

Plötzlich hören sie Babygeschrei und holen nach frenetischer Suche ein kleines Mädchen unter einem Abflussgitter hervor. Es ist Éva, die von Rotarmisten mit Mänteln und Tschapkas gewärmt und gerettet wird.

2. Teil und Sprung in die Gegenwart: Éva lebt als leicht senile alte Frau in ihrer Wohnung in Budapest. Ihre gestresst wirkende Tochter Léna stürmt herein. Zwei Dinge müssen erledigt werden: Éva soll als Holocaustüberlebende und Zeitzeugin bei einer Feierlichkeit auftreten und geehrt werden und Lénas Sohn Jónas muss in einem Kindergarten angemeldet werden. Es entwickelt sich ein Kammerspiel zwischen Léna und ihrer Mutter, bei dem der Eindruck entsteht, dass dieses bereits unzählige Male zwischen den beiden aufgeführt wurde.

Évas obsessives und zwanghaftes Kreisen um den Holocaust und Lénas Versuch, diese Last abzuschütteln und ein normales Leben zu leben.

Sie benötigt die Geburtsurkunde ihrer Großmutter, um ihren Sohn in einem jüdischen Kindergarten anzumelden. Problem: Évas Mutter und Lénas Großmutter hatte fünf Geburtsurkunden, alle gefälscht, um zu überleben. Die einzige, die auf eine jüdische Herkunft hinweist, will Éva nicht herausrücken, denn „man soll seine Kinder nicht auf den Listen der Deutschen eintragen. Das führt zu einer Katastrophe. Als mein Vater das getan hat, sind wir in Auschwitz gelandet.“

Man spürt die Last, die Léna nicht nur während ihrer Jugend, sondern auch ihr gesamtes Leben bis hin zur Gegenwart hat tragen müssen. Sie hadert mir ihrer Mutter und ihrem Leben: „Es heißt, Gott hat jedem einzelnen Menschen in der Gaskammer die Hand gehalten, warum hält er meine nicht? Warum mussten wir Brotrinden in Plastiktüten aufbewahren, Mutter?“, beschuldigt sie ihre Mutter. „Warum konnte ich keine normale Kindheit haben?“ Antwort: „Ich hatte selbst keine normale Kindheit!“. Éva wurde während eines Appells in Auschwitz geboren, die anderen Häftlinge schirmten die Mutter ab, während sie gebar und sich dabei in ihre Faust biss.

In Zwischensätzen spürt man die Perpetuierung von Verhaltensweisen: Léna ist frisch geschieden und erzieht ihren Sohn allein. Auch Lénas Vater ist gegangen, nach dem Aufstand von 1956 ist er nach Israel gegangen. Denkbar ist aber auch, dass er das ständige Kreisen um das immer selbe Thema irgendwann nicht mehr ertragen hat. Wer weiß.

Im dritten Teil lässt die erdrückende Spannung des familiären Kammerspiels nach.

Es geht um Jónas, Lénas halbwüchsigen Sohn, der in Berlin auf eine Schule geht und von seinen muslimischen Mitschülern gemobbt wird.

Er sollte als Hausaufgabe eine Martinslaterne bauen, hat sie jedoch aus Faulheit nicht gebastelt, so dass seine Mutter Léna die Laterne gebastelt hat. Allerdings hatte sie nicht die geringste Ahnung, wie eine Martinslaterne aussieht, so dass sie eine Chanukka-Laterne gebaut hat. Die Folge war, dass die Laterne von seinen Mitschülern angezündet wurde und in der Schule ein Feuer ausbricht, was ihm Ärger einbringt.

Andererseits ist das Feuer auch der Anstoß für eine Liebesbeziehung zu einem türkischen Mädchen mit kurzgeschorenem Haar.

So wird in dem relativ kurzen Film ein weiter Bogen vom Alptraum der Gaskammer zu einer zarten entstehenden Liebesbeziehung geschlagen. Der Zuschauer hofft, dass Jónas sich aus dem Bauch des Wals der transgenerationellen Traumata befreien kann.

To be continued.

Veröffentlicht unter Film, Gesellschaft, Krieg | Verschlagwortet mit , , , , , | 2 Kommentare

Eine Wanderung durch Gaza

Auch wenn ich diese Wandung gerne selbst unternommen hätte, handelt es sich hier nur um die Übersetzung einer Reportage von Louis Imbert in Le Monde, die ich sehr interessant fand, und ich hoffe, meine Leser auch. Viel Vergnügen.

Gaza ist ein Mann, der weint und es nicht sagen will

Sechs Tage lang haben die Journalisten Louis Imbert, Lucien Lung und Hassan Jaber die enge Enklave zu Fuß durchquert und haben dabei die Sympathie der Bevölkerung gewonnen und das Misstrauen der Autoritäten erregt. Im Verlauf der Begegnungen haben sie die absurde Atmosphäre des Gebiets wahrgenommen und das Eingesperrtsein, das auf den Gazanern lastet, ermessen.

Am Grenzübergang Erez betreten die Reisenden Gaza, indem sie einer Abfolge von Pfeilen folgen, die mit blauem Marker auf DIN-A-4-Blätter gezeichnet sind.

Eine anonyme Hand hat sie mit Tesafilm an die Wände der zahlreichen Schleusen in der riesigen, fast leeren Halle aus Glas und Stahl geklebt.

Über uns auf einer Empore in einer gläsernen Gangway haben die israelischen Soldaten unser Kommen und Gehen im Blick. Sie nehmen das Öffnen und Schließen der Türen vor, wenn ein arabischer Angestellter mit weit ausholenden Gesten und lauten Rufen ein unvorhergesehenes Problem meldet.

Unten sind die Soldaten fast abwesend, die Kameras sind allgegenwärtig. Die weitere Kommunikation findet mit den palästinensischen Beschäftigten in diesem „Terminal“ statt. Das verringert die „Spannungen“ mit den ungefähr 17.000 Gazanern, die von der Armee mit einem Passierschein ausgestattet wurden. Es sind Handwerker oder Unternehmer, die meisten von ihnen Familienväter, Kranke auf dem Weg in die Krankenhäuser Jerusalems, also „Privilegierte“.

Um Erez erstreckt sich die israelische Mauer: ein weitläufiges Bauwerk aus Beton und Gittern, bestückt mit Kameras und Sensoren. Sie umfasst Gaza-Stadt und sein Hinterland. Aber ein „Land“ im eigentlichen Wortsinn gibt es nicht. Gaza ist nur eine enge Sandzunge am Rand des Mittelmeers, kaum 40 Kilometer lang und zwischen sechs und zwölf Kilometer breit.

Mehr als zwei Millionen Palästinenser leben hier und sind seit 2007 einer israelischen Blockade unterworfen. Dem Jahr als die islamistische Bewegung Hamas die Kontrolle über die Enklave übernommen und die Palästinensische Autonomiebehörde vertrieben hatte. Um dieses eingezäunte Areal erfassen zu können, haben wir es zu Fuß durchquert, von Norden nach Süden zu Beginn des Monats Oktober [2022]. Sechs Tage lang haben wir früh morgens und am späten Nachmittag gemeinsam mit dem Fotografen Lucien Lung und dem gazaner Journalisten Hassan Jaber dieses Gebiet durchquert, wo der Widerstand der Körper und der Seelen unbegreiflich bleibt.

Am Ende der Mauer beginnt die Fußreise mit der Durchquerung einer weiten, vergitterten Erderhebung unter freiem Himmel die sich über annähernd zwei Kilometer erstreckt. Wir grüßen die Zöllner, die so freundlich wie nutzlos sind, es sind die letzten Überbleibsel der palästinensischen Autonomiebehörde, und passieren den Checkpoint der Hamas.

Während wir uns nordwärts bewegen, sehen wir ein Dorf aus Holz und Wellblech, Maisfelder. Eine Kamera der Hamas, die in einem Baum hängt, und ein Wachtposten in seinem Wachhäuschen, beäugen uns. Wir biegen nach Osten ab unter dem Auge eines israelischen Überwachungsballons, der ganz weiß und rund ist.

Plötzlich, genau nach einem kurzen Abhang, flacht das Gelände ab und wird zu einem Industriegebiet unter freiem Himmel. Ahmad Al-Kafarneh kommt hinter einer Pyramide aus Kies hervor, sein Gesicht ist mit weißem Staub bedeckt. Ahmad, 27 Jahre alt, sammelt die Trümmer ein, die durch die israelischen Bombardierungen im August verursacht worden waren. Er zerkleinert sie und macht neue Bausteine daraus. Diese Luftschläge gegen den Islamischen Dschihad, einer kleinen mit der Hamas verbundenen Bewegung, haben ihn enttäuscht.

Ich bete um einen neuen Krieg“, scherzt er provokant. „Der von 2021 war besser [elf Tage andauernde Bombardements, 260 tote Palästinenser und 13 in Israel]. Der von 2014, wallah! Sehr gutes Geschäft!“ Die israelische Armee hatte damals zuletzt nach der Landoperation von 2008 – 2009 Panzer und Infanterie nach Gaza hineingeschickt.

Ahmad Al-Kafarneh kann sich nicht beklagen. Er besitzt eine Hütte unter den Olivenbäumen seines Vaters, der den größten Familienclan in der Umgebung anführt (2500 Mitglieder). Sie thront auf einer kurzen Felsklippe, die ihre Felder teilt, zwei Kilometer von Erez entfernt im Landesinneren. Der Blick reicht weit nach Israel hinein. Ahmad hat Cousins dort: ein Ingenieur und ein Geschäftsmann. „Sie sind sanft und schön, so wie du. Das macht das Geld“, urteilt er und fegt den Staub von seinen Unterarmen. Er bietet Guaven an. In zehn Tagen wird er die Oliven ernten. In seinen Wäldern könnte man denken, dass er außerhalb der Welt lebt. Doch das stimmt nicht. „Die Typen von der Hamas laufen hier dauernd durch. Sie jagen diejenigen, die versuchen, Gaza zu verlassen. Da ist eine Schwachstelle, da, in der Mauer. Sie haben Angst, dass diese Ausbrecher die Israelis informieren. Gerade vor zwei Wochen haben sie einen 13-jährigen geschnappt.“

Wir wandern bis zum Abend auf Erdwegen. Bauern bewässern enge Parzellen mit Kartoffeln und Zwiebeln in der am meisten überwachten Zone der Enklave, die sich, nur einige hundert Meter breit, zwischen einer Linie mit Wachhäuschen der Hamas und der israelischen Mauer erstreckt. Der Gazastreifen produziert nur ungefähr 10% von dem, was er verzehrt.

Auf einer Anhöhe steht die Stadt Beit Hanun, die diese landwirtschaftliche, enge und bukolische Region dominiert. An diesem Abend feiert dort die Familie von Ahmad eine Hochzeit. In der Abenddämmerung reißt uns die Hochzeitsgesellschaft hinter dem Bräutigam mit, der durch die Straßen kreist, aufrecht neben seiner Mutter durch das Schiebedach eines Autos stehend und gefolgt von einem Gefolge von Vuvuzelas.

Nicht weniger als 3000 Personen erwarten ihn auf einer Fläche unter bunten Zeltbahnen. Morgen werden die Al-Masris, die ihre Hochburg in der Hauptstraße des Dorfs haben, eine zweite Hochzeit in derselben Größenordnung feiern.

Die Hamas sichert den Frieden zwischen diesen verfeindeten Familien, die sich lange Zeit gegenseitig bekriegt haben. Zuletzt war die Situation 2004 nach einem Verkehrsunfall zwischen zwei Jugendlichen der jeweils beiden Clans zu Gefechten und Kämpfen ausgeartet, die drei Monate dauerten und neun Tote und ungefähr 300 Verletzte forderten.

Zwei Straßen durchqueren Gaza von Norden nach Süden. Eine führt die Küste entlang. Die andere folgt im Landesinneren dem Verlauf einer antiken Römerstraße. Sie führt schnurgerade durch ein Geflecht aus Kleinindustrie. Man durchquert unmerklich ländliche Gegend, Vorstädte, an der Stadt Jabalia vorbei, wo 1987 die erste Intifada ausgebrochen war, und dann taucht man in Gaza-Stadt ein.

Lastwagen wirbeln einen mordsmäßigen Staub auf. Unsere kleine Wandergruppe erregt fast überall Sympathie, wenn nicht sogar Gelächter. Autohupen. Fahrradklingeln. Geplauder. Überall schlängeln sich Erdwege in den Obsthainen und stoßen an Stacheldraht, undurchdringliches Kaktusfeigengewächs oder Gitter. Jeder Grundeigentümer grenzt auf diese Weise seine Grundstücke ab.

Gaza ist ein Fraktal aus Sackgassen. Nichts ist umstrittener als das Grundbuch, das niemals richtig geführt wird in diesem Land der Flüchtlinge, wo noch immer das Bodenrecht des Osmanischen Reichs und des Britischen Mandats (1922 – 1948) gilt.

Gaza-Stadt ist unter dem Aufschwung von annähernd 200.000 Palästinensern gewachsen, die bei der Geburt des Staates Israel gezwungen waren, hier im Jahr 1948 während der Nakba, der „Katastrophe“, Zuflucht zu suchen. Das urbane Wachstum hat die Strömungen der Küste verändert: am Fuß des Flüchtlingslagers von Shati haben sie den Strand fortgetragen. Auf einer Rampe aus Steinen und Beton säubern Fischer kleine Herbstkrebse mit blauen Bäuchen. In ihrem Rücken dringt das Tageslicht kaum durch die so zusammengedrängten Gassen, dass es schwierig wäre, einen Sarg herauszutragen.

Außerhalb von Shati mangelt es Gaza nicht an Charme. Der Plan seiner neuen Stadtteile ist ebenmäßig, der Meereswind fegt die Gehsteige, die breit sind und von Eukalyptus, Palmen, Flammenbäumen und Majnoun- („verrückten“) Sträuchern beschattet werden. Auf den überfüllten Boulevards im Zentrum begegnet man jungen Mädchen ohne Kopftuch und jede Menge Autofahrerinnen. Die Sittenpolizei der Hamas hat andere Sorgen.

In einer ruhigen Straße des Zentrums laufen wir am Café Mazazik und dem Spielzeugladen von Al-Alami vorbei (Schwimmreifen und Plastikmaschinengewehre) und treffen unseren Wanderführer des Tages: Ziad Obaid.

Der Generaldirektor des Hafens von Gaza ist ein Wanderer. Jeden Morgen im Morgengrauen wandert er alleine am Rand der Stadt. Seine Frau, die an Krebs leidet, hat aufgehört, ihn zu begleiten. Ziad Obaid ist seit zwanzig Jahren Direktor eines Hafens, der nicht existiert, außer in seinen Träumen.

Seine Kais stehen wie ein Versprechen im Osloer Friedensabkommen von 1993, aber sie wurden nie gebaut. Eine Baustelle wurde im Winter 1999 errichtet, die jedoch schnell von der zweiten Intifada (2000 – 2005) unterbrochen wurde.

Als ich die israelischen Apache-Helikopter gesehen habe, wie sie das Polizeihauptquartier von Gaza bombardierten, dachte ich mir, dass die Probleme dauern würden.“ Ziad Obaid führt uns 3 Kilometer in den Süden der Stadt auf ein kleines Stück Land am Rand des Meeres, dort wo die Pier seines Hafens hätte angefügt werden sollen. Bauern pflanzen dort Paprika. „Ich frage mich, wer ihnen die Erlaubnis gegeben hat. Das ist ein staatliches Grundstück.“, wundert sich Ziad. „Nach dem Krieg von 2014 haben wir aufgehört, mit Israel über die Errichtung zu verhandeln. Niemand glaubt mehr daran.“ In diesem Jahr ist Ziads Vater gestorben. „Meine Frau ermuntert mich noch, sie sagt: ‚Du wirst deinen Hafen schon noch bekommen. Du darfst die Hoffnung nicht verlieren…‘ Aber selbst diesen Traum zu träumen wird irgendwann schmerzhaft.“

Ein Korridor wohin?

Die palästinensische Autonomiebehörde hat Ziad Obaid zu unzähligen Konferenzen nach Europa geschickt, um seine Existenz zu rechtfertigen: das Programm Euromed, „Autobahnen des Meeres“… Er hat die Kais von Marseille, Toulon, Genua, Neapel, Barcelona, Hamburg, Athen gesehen und die von Istanbul, Dubai und Oman. „Jetzt erwägt die Autonomiebehörde, uns in Rente zu schicken“, fürchtet Ziad Obaid, Angestellter des Transportministeriums. Ende September hat er gequält gelacht als die Islamisten die Öffnung eines „maritimen Korridors“ am kleinen Fischereihafen der Stadt gefeiert haben: eine angebliche Öffnung in die Außenwelt. „Das bedeutet nichts“, seufzt er. „Ein Korridor, wohin? Womit? Das ist ein schlechter Scherz, den sie einfachen Menschen vorspielen, die nichts verstehen.“

Im Landesinneren erstreckt sich eine quer von Osten nach Westen verlaufende Straße, die lange den Israelis der Siedlung von Netzarim vorbehalten war. Sie wurde 2005 von der Armee demoliert, wie alle Ansiedlungen in Gaza. Hohe Verwaltungsgebäude, ein Gericht, eine Universität, ein Krankenhaus, die mit Hilfsgeldern aus der Türkei und aus Katar gebaut wurden, erheben sich in einem weiten, unbestimmten Raum: Felder, Wohnbebauung und Brachgelände.

Unter den Mauern eines militärischen Ausbildungsgeländes parken plötzlich zwei Agenten des Geheimdienstes der Hamas ihren Pick-Up neben uns. Einer trägt eine ausgeleierte Jogginghose, Latschen und ein strenges Gesicht, der andere hat ein breites Lächeln. Wanderer sind selten in Gaza. Überall ruft unser Erscheinen Erstaunen, dann Misstrauen und damit Kontrollen hervor.

Eine Stunde vorher hatten wir schon eine halbe Stunde auf die Erlaubnis zum Passieren eines Checkpoints gewartet. Eine gute Gelegenheit, um mit drei Mitgliedern  der Qassam-Brigaden, des bewaffneten Arms der Hamas, über die Vorteile unserer Schuhe – alle aus chinesischer Herstellung – zu fachsimpeln. Sie beschweren sich: sie müssen ihre Uniformen aus eigener Tasche zahlen. Ein Militär gesellt sich bald zu den beiden Geheimdienstlern. Und dann kommt ihr Chef angelaufen. Schließlich halten drei Offiziere der Hams in Zivil mit ihrem SUV neben uns. Ein Brummen lässt uns aufblicken: das weiße Kreuz einer israelischen Überwachungsdrohne steht im Schwebeflug über uns. Sie sind allgegenwärtig. Die israelische Armee verbucht in „normalen“ Zeiten viertausend Flugstunden pro Monat über Gaza – das entspricht fünf Fluggeräten, die ununterbrochen in der Luft sind. Ein Furz aus Pulver, langgezogen und dumpf, lässt sich von hinter der Mauer des Militärcamps vernehmen. Eine Wolke aus grauem Rauch erhebt sich. Es war eine Rakete, die gerade in Richtung Mittelmeer gestartet ist. Die Hamas testet ihre Abschussrampen. Unsere Vernehmer lächeln. Sie tun so, als hätten sie nichts gehört und wünschen uns eine gute Wanderung.

Am dritten Tag haben wir schon fast die Hälfte von Gaza durchquert, von Norden nach Süden im Zickzackkurs. In der Morgendämmerung erreichen wir ein schattiges Sandplateau, das Gazas einzigen Fluss in der Nähe der israelischen Mauer überragt. Schilfrohr wächst üppig zwischen den Baracken der Beduinen.

Fadel Al-Utol bietet Kaffee an. Am Vortag hat dieser Archäologe, der einen Strohhut trägt, eine Grabungsstätte eröffnet. Er gräbt um byzantinische Mosaiken herum, die gerade erst in dieser verarmten und abgelegenen vom Bebauungsdruck verschonten Gegend ausgegraben wurden.

Auf dem Grund von zwei breiten Löchern leuchten geometrische Flechtwerke und Medaillons, auf denen Vögel – eine Ente, Stelzvögel – eine Ziege und andere Huftiere, große Katzen dargestellt sind.

Es ist seltsam“, wiederholt Fadel unentwegt, „der Mosaikboden ist nach Osten ausgerichtet, das deutet auf eine Kirche hin.“ Es könnte auch eine Villa sein. Solche Funde sind nicht selten in Gaza, aber dieser hier ist außergewöhnlich. Fadel schätzt es auf die Zeit zwischen 5. und 7. Jahrhundert.

Der Grundstückseigentümer, Salman Al-Nabahin, reibt die Mosaiksteine mit einem feuchten Schwamm, damit wir die Farbabstufungen und die Feinheit des Bildes bestaunen können. Er hat drei palästinensische Fahnen um die Grabungsstelle herum in den Boden gesteckt, um es feierlich aussehen zu lassen. Dieser Polizist in Rente hat die Entdeckung vor sechs Monaten gemacht als er mit seinem Sohn einen Olivenbaum pflanzte.

Fadel Al-Utol ist 42 Jahre alt und lebt „wie ein Fisch im Meer“ inmitten der alten Steine. Manchmal hebt er den Kopf und stellt fest, dass „Gaza wie ein Mann ist, der weint und es nicht sagen will. Bei jeder Ohrfeige, die ihm die Israelis versetzen, sagt er: ‚Das ist die letzte‘ und dann kriegt er doch noch in die Schnauze.“ Er bringt seinen Schülern bei, dass ihr Land nicht nur eine schmerzvolle Sackgasse gewesen ist, sondern der Endpunkt der Straßen Arabiens und des Fernen Ostens, die hier die mediterrane Welt erreichten.

Seine Lehr-Grabungsstätte ist das Kloster des Heiligen Hilarion. Es ist das Älteste im Heiligen Land. Es lässt sich von der Größe her mit dem Kloster des Heiligen Simeon im Norden Syriens vergleichen. Hilarion hat es mit seinen Jüngern im 14. Jahrhundert einen Kilometer südlich des Flusses gegründet.

Fadel ist ein Kriegsarchäologe, so wie es Frontärzte gibt. Seit 2018 bildet er ein Team von Spezialisten in Gaza aus, unter der Schirmherrschaft der Französischen biblischen und archäologischen Schule von Jerusalem mit Mitteln, die von der französischen Organisation Première Urgence eingeworben wurden. Gemeinsam haben sie um das Grabmal des Hilarion prachtvolle Mosaike einer Kirche restauriert, mehrere Taufkapellen, eine Herberge und Bäder, in denen Reisende aller Konfessionen sich den Staub der Straßen bis ins 9. Jahrhundert vom Leibe wuschen.

Fadel Al-Utol ist im Flüchtlingslager Shati geboren. Mit vierzehn Jahren hat er schüchtern den Dominikanermönch Jean-Baptiste Humbert um Arbeit gebeten. Dieser war Archäologe und unternahm Grabungen fast genau unter dem Fenster von Fadels Wohnung im antiken Hafen von Anthedon. Er hat ihm erst einen Schwamm und dann eine Spitzhacke anvertraut. „Während der ersten Intifada war ich kaum in der Schule gewesen. Gaza wurde ein Paradies“, erinnert sich Fadel. „Jassir Arafat war gerade aus dem Exil zurückgekehrt“, um 1994 in Gaza die palästinensische Autonomiebehörde aus der Taufe zu heben. „Mit ihm sind viele Ausländer und Palästinenser aus Israel gekommen. Es war wie in Pigalle hier.“

Der Apoll und die Hamas

Fadel Al-Utol wurde im Louvre und in Saint-Denis ausgebildet, in Arles, in Chatel-sur-Moselle für das Steinmetzhandwerk, in Epinal, in Nancy und in Genf. Seit fast zehn Jahren beschäftigt ein griechischer Gott seinen Geist Tag und Nacht: der Apollon von Gaza.

Diese Lebensgroße Statue aus antiker Bronze, exzellent erhalten, war 2013 in der Enklave von einer Familie von Fischern entdeckt worden. Es ist ein Schatz für die Kunstgeschichte, vergleichbar mit den Museumsstücken in den großen Museen Europas. Die Hamas hat ihn beschlagnahmt und hält ihn an einem geheimen Ort verborgen, vielleicht in einem ihrer Tunnel, wo sich ihre Offiziere verstecken. „Sie glauben, dass die Israelis ihn suchen“, meint Fadel.

Im Jahr 2021 ist es dem Archäologen gelungen, einen hohen Offizier der Hamas zu treffen. „Sie wissen, dass ich Kontakte zum Louvre habe. Sie wollten den Apollon für 50 Millionen Dollar an die Franzosen verkaufen oder ihn vermieten. Der Offizier sagte zu mir: Du gibst mir das Geld und ich bringe dich mit ihm zum Grenzübergang Erez.“

Dieser Offizier erklärte Fadel, dass der Apollon an seinen empfindlichsten Stellen in mehrere Teile zerbrochen wäre – an den Knien, den Armen, den Fußgelenken und am Hals. Dies sei durch ein israelisches Bombardement passiert. „Ich habe dem Soldaten geantwortet: Selbst für 2 Schekel [50 Cent] nehme ich ihn nicht. Er ist für Gaza. Es ist verboten ihn zu verkaufen.“ Fadel weiß, dass der Apoll an der Luft korrodiert. „Wir werden ihn in Staub aufgelöst wiederfinden.“

All das hat er geduldig dem Offizier der Hamas erklärt, bevor er ihm diesen Vorschlag unterbreitete: „Du gibst ihn mir, ich begutachte ihn, ich nehme ihn nach Erez mit und bringe ihn den Franzosen, damit sie ihn restaurieren. Ich regele alles, ich sorge für die Papiere und du siehst zu. Wenn es erledigt ist, stellen wir ihn im archäologischen Museum von Gaza aus…. Der Typ hat mich komisch angeschaut. Wenn du nicht über Geld redest, versteht er nicht.“

Unweit von seinem neuen Grabungsfeld hat uns Fadel Al-Utol ans Ufer des Wadi Gaza geführt. Der Fluss brodelt schwarz, ungefähr fünf Meter breit und nicht sehr tief, unterhalb eines Abhangs, von wo die Abfälle bis zu den grasigen Ufern hinabrollen. Jenseits des Kamms ragt der Turm einer brandneuen Kläranlage in den Himmel, die im Dezember 2020 eingeweiht wurde. Sie hat dem Fluss das Leben zurückgegeben, indem sie geklärtes Wasser einleitete.

Bis vor zwei Jahren floss der Wadi Gaza nur im Winter, wenn Israel flussaufwärts die Dämme öffnete. Die Ufer wurden befestigt. In der Sonne schimmert das Wasser in allen Farbschattierungen von orange. Seinen Geruch nach Kanalisation kann man zwar ausblenden, aber er packt einen etwas weiter wieder an der Kehle, dort, wo eine Fabrik oder Wohngebiete ihre Abwässer ausspeien.

Nach dem Unterqueren der Brücke der Saladin-Straße verbreitert sich dass Tal. Im Juni haben Bulldozer hier eine ehemalige Mülldeponie gesäubert. Auf dieser Erdfläche, wo der Fluss unter einer undurchdringlichen Masse von Dornensträuchern verschwindet, feiert die Familie Tatah die Hochzeit ihres jüngsten Sohnes, Youssef. „Ich hatte ein Stipendium für ein Studium in Deutschland“, vertraut er uns an, „aber mein Vater wollte mich in seiner Nähe haben.“ Mittags geht ihr Nachbar Ahmed Abu Naim am Ufer im Staub seiner Tätigkeit nach. Seine Arme, sein Gesicht sind von einer dicken Fettschicht geschwärzt.

Ahmed Abu Naim ist ein Industrieller. Er sammelt Altplastik. Er schmilzt es in riesigen Bottichen ein und verwandelt es vom gasförmigen in flüssigen Zustand mithilfe einer Art Destillierkolben. Daraus fließt Dieselöl, das nur für landwirtschaftliche Maschinen geeignet ist, und Benzin für widerstandsfähige Rostlauben.

Es ist ein ganz neuer und lukrativer Beruf. Die Konkurrenz ist zahlreich. Benzin von der Tankstelle ist teuer und der Einfallsreichtum der Gazaner grenzenlos.

Heute will Ahmed Abu Naim die Schornsteine seines Betriebs mit einer Art großem Ventilator ausstatten: „Kein Rauch, kein Gestank“, behauptet er entgegen jeder Offensichtlichkeit.

Als Ölmagnat, der etwas auf sich hält, versucht er sich ein „grünes“ ökologisches Label zu geben. Er muss ein Komitee überzeugen, das aus fünf Rathäusern, die sich den Lauf des Flusses teilen, dass sein Betrieb nicht umweltverschmutzend ist. Denn andere erfinderische Geister haben das Entwicklungsprogamm der UN (UNPD) überzeugt 65 Millionen Euro bereitzustellen, um ein Naturschutzgebiet im Wadi Gaza einzurichten.

Aber wer wird sich darum kümmern, die Soldaten zu vertreiben? Wie jede vorgeblich „leere“ Fläche in der Enklave ist das Wadi ihr Spielfeld. Im Osten sind die unzähligen militärischen Wachhäuschen in der Nähe der israelischen Mauer. Westlich der Saladin-Straße breiten die Ausbildungslager ihre Mauern aus, im Bett des Wadi und auf seinem Kamm. Um diese sensiblen Zonen zu durchqueren, die in Gaza allgegenwärtig sind, haben wir schließlich eine Lösung gefunden.

Hassan Jaber, unser gazaner Kollge, folgt uns im Auto. Sobald sich ein Checkpoint ankündigt, steigen wir ein. Wir passieren die Kontrolle inkognito auf der Rückbank. Weiter vorne hält das Auto an und wir gehen zu Fuß weiter. Es kommt nicht in Frage, auf Hassan und seinen vorsintflutlichen gelben Mercedes zu verzichten. So wie wir hier allein und ohne Führer laufen, würde man uns sicher für israelische Spione halten.

Flanieren, eine unbewegliche Aktivität

Nur wenige Menschen wandern in Gaza nur zum Vergnügen. Dabei gibt es im Westjordanland eine palästinensische Wandertradition, die Sarha heißt. Es ist die Kunst eines Bergvolks, die Welt zum Teufel zu schicken uns sich ohne Ziel in den Hügeln zu verlieren. Aber in Gaza ist Flanieren eine unbewegliche Tätigkeit: sie wird bevorzugt vor dem Meer sitzend ausgeübt. Fünf Kilometer südlich der Mündung des Wadi Gaza, in den Außenbezirken von Deir Al-Balah führen uns unsere Schritte an den schönsten Aussichtspunkt der Enklave. Ein Felsvorsprung zahlreiche Meter oberhalb des Strands. An diesem schon brennend heißen Morgen, rauchen die in der Nacht angezündeten Mülleimer noch. Jungen aus Al-Agra lungern drohend im Schatten auf beiden Seiten der Straße. Am Vortag hatten Polizisten der Hamas zwei Mitglieder der Familie erschossen, Kamal und Nasser. Kamal, ein Drogenhändler laut der Hamas, hatte im August auf einen Polizisten geschossen, der ein Auge verloren hatte.

Wir biegen vorsichtig ins Landesinnere ab, ins Zentrum von Deir Al-Balah. Die Milizionäre des Islamischen Dschihad paradieren auf einem Blumenteppich, am Vortag ihres 35-jährigen Geburtstags.

Nach ungefähr zehn Kilometern öffnet sich die große Stadt des Südens, Khan Younis, die die Gazaner Ende der 1980er Jahre „Islamische Republik“ nannten. Seine Clans, die Grundeigentümer sind, bleiben dort mächtig. Auf dem Platz in der Stadtmitte hat uns ein Bettler aus voller Lunge als „Juden“ bezeichnet.

Am nächsten Morgen legen wir die letzten Kilometer auf der Küstenstraße zurück. Am Rand des Strands verfangen sich in hohen Netzen erschöpfte Zugvögel aus Europa, die niemals das Heilige Land betreten werden.

Mohamed Zohrab, 23 Jahre alt und Rettungsschwimmer mit einer roten Uniform wie in „Baywatch“, Angestellter des örtlichen Rathauses springt von seinem Ausguck, um uns drei Wachteln zu zeigen. „Es sind Weibchen: schau dir ihre weißen Kehlen an“. Faustgroß flattern sie in einem Käfig herum. „Wir fangen täglich drei bis fünf von ihnen seit einem Monat“, sagt sein Cousin Hani, ein Arbeitsloser, wie 60 % der Jugend in Gaza. „Ich verkaufe sie für 25 Schekel [7 Euro] pro Paar auf dem Markt. Das ist mein einziges Einkommen. Man kann sie wie Hühnchen essen, gegrillt oder mit Reis und Gewürzen gefüllt.“

Sechs Kilometer weiter zeichnen sich zwei militärische Wachtürme am Horizont ab: ein palästinensischer und ein ägyptischer. Sie stehen so nach beieinander, dass man eine Wäscheleine zwischen ihnen aufspannen könnte. Hier erstreckt sich Rafah, eine Stadt, die sich an die Grenzmauer lehnt.

Auf dem Markt herrscht Hochbetrieb. Es ist Zahltag und Tag der Einkäufe. Vor den Banken, drängt sich eine Ansammlung von armen Menschen. Sie beziehen Hilfen, die die palästinensische Autonomiebehörde zum ersten Mal seit fast zwei Jahren wieder auszahlt. Rafah ist eine Mauer. Eine Masse von Flüchtlingen stieß 1948 dagegen.

Wir kommen aus ganz Palästina: das hat in Rafah die Keimzelle einer Zivilgesellschaft geschaffen“, bemerkt Samira Abdel Alim, Koordinatorin in Gaza der Union der Komitees der palästinensischen Frauen. Israel hat kürzlich ihre feministische Organisation als „terroristisch“ eingestuft und geht gegen sie vor, ohne ihre europäischen Geldgeber zu beeindrucken.

Samira ist ein Kind der Grenze. „Ich war acht Jahre alt als israelische Soldaten 1981 unser Haus mit der Planierraupe zerstört haben, um eine militärische Pufferzone südlich von Rafah freizumachen“, erinnert sie sich, nach dem israelischen Rückzug aus dem benachbarten Sinai, das seit 1967 besetzt war. „Wir lebten zwei Meter von der neuen Grenze entfernt. Meine Mutter hat sich geweigert zu gehen, als die Israelis unser Haus zerstören wollten. Die Soldaten haben die Fenster zugemauert. Dann haben sie sich drinnen breitgemacht. Meine Mutter hat erst aufgegeben als sie angefangen haben, Nachbarn zu verhaften. Aber sie hat das Geld zurückgewiesen, das sie zur Entschädigung angeboten haben.“

Marxistin-Leninistin und gläubig

Samira Abdel Alim hat ihren Vater nicht kennengelernt. Ihre Mutter war eine bekannte Linke in Gaza. „Sie war säkulär und rauchte, sie half Kämpfern der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP)“, die aus dem arabischen Nationalismus und dem Marxismus entstanden war. Wie sie bezeichnet sich Samira als Marxistin-Leninistin. Dass sie gläubig ist und ein Kopftuch trägt, ändert nichts daran. „Die Religion ist für Gott und das Vaterland für alle“, entscheidet sie.

Lange war sie Abgeordnete im politischen Rat der PFLP von Gaza, die von der Europäischen Union als terroristische Organisation eingestuft wird. Seit den 1990er Jahren hat sie im Rat mit den Aktivisten der Hamas um die Herzen der Armen von Rafah konkurriert – das lange einer der ärmsten Flecken in Gaza war.

Das hat sich sie den 2000er Jahren geändert. Geheime Tunnel, die unter der ägyptischen Grenze gegraben wurden, haben die örtliche Bourgeoisie mit Schmuggel aller Art reich gemacht. Zwei Schritte von Samira Abdel Alims Haus, Mitten in Rafah findet man den Grenzübergang nach Ägypten.

Ganz am Ende der Saladin-Straße ist es die einzige – und teure und schwierig zu öffnende – Tür zur offenen Welt, über die die Gazaner verfügen, die nicht nach Israel einreisen dürfen.

Die antike Römerstraße verläuft gerade und mitten im Nirgendwo durch die Wüste des Sinai. Doch an diesem Nachmittag ist das Terminal geschlossen. Der Wind hebt Sandfahnen unter dem alten Aluminiumbogen in die Luft.

 

Veröffentlicht unter Gesellschaft, Krieg, Naher Osten, Reise | Verschlagwortet mit , , | 3 Kommentare

Tote Kurden beim Griechen

Vor dreißig Jahren, am 17.  September 1992, ermordete ein iranisches Terrorkommando vier Menschen in einem Berliner Restaurant und verletzte weitere schwer.

Die Todesopfer waren der Vorsitzende der Demokratischen Partei Kurdistans im Iran (DPK-I), Sadegh Scharafkandi, sowie seine Vertreter für Europa, Fattah Abdoli, und für Deutschland, Homayoun Ardalan. Das vierte Todesopfer, Nouri Dehkordi, war nicht kurdisch. Er war Perser, fühlte sich den Kurden jedoch sehr verbunden. Zum einen, weil sie Verbündete im Kampf gegen das theokratische Regime in Teheran waren, zum anderen, weil die Kurden ihm 1982 geholfen hatten, außer Landes zu fliehen, als die Mullahs, die die Revolution gegen den Schah gekapert hatten, gegen alle Oppositionellen vorging. Damals war Dehkordi in die Berge Kurdistans geflohen und hatte sich dort versteckt. Die Kurden hatten ihn dann zu Pferde über die Grenze in die Türkei geführt, so dass er zurück nach Deutschland hatte fliehen könne, wo er bereits politisches Asyl zuerkannt bekommen hatte, weil er schon gegen Mohamed Reza Schah Pahlevi opponiert hatte.

Die Kurden waren als Gäste eines Kongresses der Sozialistischen Internationale auf Einladung von Björn Engholm zu Besuch in Berlin, da die DPK-I zur sozialdemokratischen Strömung gerechnet wurde. Dehkordi, der kein Übersetzer war, wie er auf Wikipedia dargestellt wird, sondern ein Flüchtlingshelfer in Berlin, war eine zentrale Figur der iranischen Exilszene in Berlin und organisierte Proteste und Öffentlichkeitsarbeit gegen die Mullahs.

Auch aktuell ist der Iran in Aufruhr und wird seit dem Tod des kurdischen Mädchens Mahsa Amini, die von Schlägern der Sittenpolizei angeblich wegen eines zu locker gebundenen Kopftuchs totgeprügelt worden war, von gewaltsamen Protesten erschüttert.

Mahsa Aminis Tod führt jedoch vor Augen, dass das iranische Regime schon immer besonders brutal gegen Kurden vorgegangen ist. Als die Kurden nach der Flucht des Schahs im Januar 1979 die gute Gelegenheit nutzen wollten und ihre Unabhängigkeit oder zumindest eine Autonomie erlangen wollten, wurden die Sezessionsbestrebungen mit unbarmherzig niedergeschlagen und tausende Kurden fanden den Tod.

Mit besonderer Brutalität tat sich dabei der Blutrichter Sadegh Khalkhali hervor, der stets mit umgegürteter Pistole Sitzung hielt und ein würdiger Nachfolger von Freisler und Fouquier-Tinville war.

In Kurdistan verurteilte er in einer dreißigminütigen Verhandlung 13 Kurden zum Tode. Das Urteil wurde stehenden Fußes vollstreckt. Das von Foto von der Erschießung, das der Fotograf Jahangir Razmi geschossen hatte, erhielt den Pulitzer-Preis.

IRAN. August 27, 1979. After a short show-trial, 11 people charged as being „counterrevolutionary“ were executed at Sanandaj Airport. Nine of the eleven men in this photo were Kurds. This photo won the Pulitzer Prize in 1980. The recipient was known as „anonymous“ until 2006 when Jahangir RAZMI told the Wall Street Journal that he had taken it.

Doch der terroristische Arm Teherans reichte bis nach Europa und darüber hinaus. Vor seinem Tod im Jahr 1989 hatte Ayatollah Chomeini an seine Vertrauten eine Liste mit den Namen von 500 Regierungsgegnern, Oppositionellen, Schriftstellern, Künstlern aber auch ehemaligen Mitgliedern der Schah-Regierung ausgegeben, die liquidiert werden sollten.

Schon kurz nach der „Islamischen Revolution“ machten sich die Schergen der Mullahs auf den Weg, um die Liste abzuarbeiten. Es war der Beginn der sogenannten Kettenmorde. Streng genommen könnte man Salman Rushdie, der im August dieses Jahres knapp einem Mordanschlag entgangen ist, auch zu der Mordserie zählen. Seit dem Erscheinen seines Romans „Die Satanischen Verse“ im Jahr 1988 steht er weit oben auf der Liste. Rushdie hatte geglaubt oder vielleicht gehofft, dass ihn die Ayatollahs nach mehr als dreißig Jahren vom Haken gelassen hätten, doch die religiösen Fanatiker haben ihn niemals vergessen und auch niemals den Auftrag aus den Augen verloren.

Die Mullahs dulden keinen Widerspruch oder Widerstand, sei er religiös, säkular oder ethnisch.

Aktuell wird nach dem Anschlag auf die Synagoge in Essen (es wurden einige Schüsse aus einer scharfen Waffe auf die Eingangstür abgegeben) wieder über Teherans Terrorexport diskutiert. Mysteriöserweise ist in diesen Anschlag Ramin Yektaparast verwickelt, ein Hells Angel aus Mönchengladbach, der Verdächtiger in einem Mordfall an einem angeblichen Spitzel innerhalb des Charters ist, dessen Leiche zerstückelt im Rhein gefunden worden war, und der vor dem Prozess den Iran geflohen war. Seine Telefonnummer fand sich bei dem mutmaßlichen Schützen, der auf die Synagoge geschossen hatte.

Zuletzt wurde im Jahr 2018 ein Bombenanschlag auf das Jahrestreffen des Nationalen Widerstandsrat in Villepinte bei Paris durch den Tip eines westlichen Geheimdienstes vereitelt. Ein iranisches Paar wird in Belgien verhaftet. Und – besorgniserregender – der dritte Botschaftsrat der iranischen Vertretung in Wien, Assadollah Assadi, wird in Deutschland festgenommen.

Zu dem Attentat im Restaurant Mykonos, der als erster Anschlag durch ein deutsches Gericht als Staatsterrorismus qualifiziert wurde, findet man in Deutschland merkwürdigerweise kaum noch Quellen oder Material, das sich für eine Recherche eignen würde. Auch auf Youtube findet man kaum Nachrichtensendungen aus der Epoche oder Reportagen, dabei kann ich mich noch gut daran erinnern, dass es ein aufsehenerregendes Ereignis war und häufig und breit darüber berichtet wurde.

Man muss also auf angelsächsische Literatur zurückgreifen, und zwar auf das sehr interessante Buch „Assassins of the Turquoise Palace“ der Journalistin Roya Hakakian, das auf das Attentat, die Protagonisten auf Opfer- und Täterseite aber auch auf die Prozessbeteiligten des Strafprozesses vor dem Kriminalgericht Moabit zurückblickt. Peinlicherweise ist dieses Buch nicht auf Deutsch übersetzt worden und es gibt auch kein deutsches Pendant, das sich mit diesem Thema befasst.

Das iranische Mullahregime ist aus europäischer Perspektive nur schwer zu durchschauen, so unverständlich sind seine Entscheidungen und seine Denkweise.

Hilfreich als Einstieg für das Verständnis ist dieser lange Artikel aus dem Time-Magazine vom Januar 1980, das Chomeini als „Man of the Year“ auf das Titelbild gehoben hat, natürlich nicht, weil die Amerikaner ihn besonders mochten (die Geiselnahme in der amerikanischen Botschaft war noch in vollem Gange), sondern weil er das Jahr 1979 in wesentlicher (negativer) Weise beeinflusst hatte.

Sehr lehrreich sind auch die Reportagen des kürzlich verstorbenen langjährigen „Le Monde“-Reporters Marc Kravetz. Damals war er für die Zeitung „Libération“ zwischen 1979 und 1981 für sechs längeren Aufenthalte im Iran und hat seine Erkenntnisse aus Gesprächen mit Akteuren der „Islamischen Revolution“, mit seinen linken Freunden und Bekannten, die voller Enthusiasmus den Sturz des Schahs begrüßt hatten. Als Franzose hatte er im Iran zumindest in der Zeit kurz nach der Revolution einen guten Stand und damit einen idealen Zugang, denn die Mullahs waren dem französischen Volk sehr dankbar, dass sie ihren Führer Chomeini so gastfreundlich in Neauphle-le-Chateau aufgenommen hatten, nicht ahnend, welchem Monster es Asyl gewährte. (Ein Hinweisschild, das über den Aufenthalt des Obersten Führers in dem kleinen Ort informierte, wurde im Januar 2023 von Unbekannten zerstört.)

Seine Beobachtungen über den Abstieg des relativ modernen Iran in eine Dunkelheit aus Obskurantismus, Dummheit, Intoleranz und Gewalt hat er in einem sehr interessanten Buch mit dem düsteren Titel „Irano Nox“ zusammengefasst (natürlich nicht übersetzt).

Durch ihn habe ich (glaube ich) verstanden, was mir vorher nie wirklich klar war: warum linke iranische Marxisten im Chor mit den Mullahs mit  dem Ruf „Allah Akbar“ protestierten. Es gab zu Beginn der Proteste im Jahr 1978 eine Konvergenz der Interessen und ein gemeinsames Feindbild: den amerikanischen Imperialismus und seinen „Lakaien“, den Schah, der das Öl verschleuderte und sich Paläste baute, während große Teile der Bevölkerung hungerten und in Armut lebten. Es gab sogar links-islamische Strömungen. Manche linken Denker konnten sich eine Übereinstimmungen zwischen dem islamischen Konzept des Tauhid, d.h. der Einheit vor Gott, und der angestrebten klassenlosen Gesellschaft vorstellen. Dachten sie zumindest. Die naiven Linken hatten allerdings keine charismatische Galionsfigur, den hatten allerdings die Mullahs mit Chomeini. Sie unterschätzten die Entschlossenheit und Gewaltbereitschaft des schiitischen Klerus, den sie für marginal hielten und in Grenzen zu halten können glaubten. Wie sehr und bitter sie sich täuschten! Im Handumdrehen mussten die iranischen Linken, die teils aus dem europäischen Exil nach Iran zurückgekehrt waren, maßlos enttäuscht und desillusioniert wieder vor einer noch brutaleren Repression fliehen. Oder arrangierten sich mit ihr.

Kurz nach dem Sturz des Schahs tauchten auch europäische Feministinnen in Teheran auf, weil sie sich um die Rechte ihrer iranischen Schwestern sorgten. Und natürlich war auch die unvermeidliche Alice Schwarzer mit von der Partie. Man muss allerdings fairerweise zugeben, dass der Mullahstaat tatsächlich ein stimmiges Reiseziel war, wenn es darum gehen sollte, das Patriarchat zu bekämpfen.

Erwartungsgemäß kam es zu den bekannten Lagerkämpfe und sinnlosen Diskussionen, ob man gegen den Tschador oder das Kopftuch protestieren soll oder ob man zu sehr die Perspektive westlicher bourgeoiser Feministinnen einnimmt

Die Einzige, die wirklich geradlinig war und nicht die Übermutter Simone de Beauvoir um Rat fragen musste, war die italienische Journalistin Oriana Fallaci. Eine heute fast schon vergessene Journalistin, aber in den 70er und 80er Jahren eine Ikone, die für Ihre Reportagen aus Kriegs- und Konfliktgebieten aber vor allem für ihre Interviews berühmt war. Vor ihrem Tod im Jahr 2006 war sie – meiner Meinung nach zu Unrecht – als islamophob und rechtsextrem verschrien. Doch von all diesen feministischen Maulheldinnen war sie die Einzige, die während eines Interviews mit Chomeini, die Eier hatte, sich das Kopftuch vom Kopf zu reißen.

Back to the point:

Die hochkarätige Führung der DPK-I hatte sich am Abend des 17. September 1992, einem Donnerstag, im Mykonos versammelt, um sich mit anderen iranischen Exiloppositionellen zu treffen.

Das Restaurant hatte ein Jahr zuvor den Betreiber gewechselt. Inhaber war nun ein iranischer Exilant namens Aziz Ghaffari. Den Namen und das griechisch gestaltete Interieur hatte er aus Mangel an Geld oder einfach aus Faulheit und Bequemlichkeit beibehalten. Es war ein Treffpunkt der iranischen Oppositonsszene in Berlin.

Der Vorsitzende der DPK-I, Sadegh Scharafkandi, wurde von seinen Anhängern ehrfurchtsvoll „Doktor“ genannt, was er seinem Studium der analytischen Chemie in Frankreich zu verdanken hatte. Er war ein zurückhaltender, wenig charismatischer Mann, das komplette Gegenteil seines Vorgängers Abdulrahman Ghassemlou. Dieser war drei Jahre zuvor, im Juli 1989 in Wien ermordet worden. Um eine diplomatische Krise mit Teheran abzuwenden, hatten die österreichischen Behörden den Tätern, die sich in der iranischen Botschaft versteckt hatten, freies Geleit zum Flughafen gewährt.

Zu dem Treffen in Berlin, das Nouri Dehkordi organisiert hatte, waren kaum Leute erschienen. Der Wirt des Mykonos hatte sich im Datum geirrt und die Gäste für Freitag bestellt, obwohl ihm Nouri Dehkordi mehrmals den Donnerstag eingeschärft hatte, weil der „Doktor“ am Freitag an einer weiteren Konferenz in Paris teilnehmen sollte. Eine der vielen Merkwürdigkeiten in diesem Fall.

Um vor dem von ihm verehrten Doktor Scharafkandi nicht das Gesicht zu verlieren, telefonierte Dehkordi alle iranischen Bekannten herbei, die er erreichen konnte. Unter ihnen befand sich auch Parviz Dastmalchi, der an sich nicht mehr ausgehen und einen ruhigen Abend verbringen wollte. Er ist es, der bis heute die Erinnerung an das Attentat wachhält.

Die kurdischen Ehrengäste saßen an der Stirnseite des Hinterzimmers des Restaurants als in einer Wohnung im Senftenberger Ring in Berlin-Reinickendorf zweimal das Telefon klingelte. Das vereinbarte Signal, mit dem der Mordanschlag ins Rollen kam. Das Treffen war verraten worden. Von wem ist bis heute nicht geklärt.

Das Mordkommando nutzte zwei Autos und die U-Bahn, um zum Restaurant im Stadtteil Wilmersdorf zu gelangen. Dort beobachtete das aus vier Männern bestehende Team eine Stunde lang das Restaurant von außen.

Der Anführer war ein Iraner, die anderen drei waren Libanesen. Ein Mann blieb als Fluchtfahrer beim blauen BMW an der Kreuzung, ein weiterer blieb vor dem Restaurant, um Schmiere zu stehen. Der Anführer und ein weiterer Mann betraten das Restaurant, durchschritten es und blieben im Durchgang zum Hinterzimmer stehen. Das Gespräch erstarb. Nach Angaben der Überlebenden trat ein Totenstille ein. Alle blickten zu den beiden maskierten Männern, die auf sie herabstarrten. Der Anführer stieß einen Fluch auf Persisch aus: „Ihr Hurensöhne!“ Dann schoss er aus einer automatischen Waffe, die in einer blauen Sporttasche, Marke „Sportino“, verborgen war, mehrere Salven auf die Anwesenden ab. Die drei Kurden und Nouri Dehkordi brachen zusammen, weitere Personen wurden schwer verletzt. Der zweite Täter tötete die Sterbenden mit Schüssen aus einer schallgedämpften Pistole.

Dann verschwanden die Täter wieder. Sie stiegen in den BMW, der mit quietschenden Reifen davonfuhr. Die Täter stiegen während der Fahrt getrennt voneinander an unterschiedlichen Orten in der Stadt aus. Zuletzt parkte der Fahrer den Wagen im Halteverbot und warf die Tasche mit den Waffen in der Hektik kurzerhand unter ein parkendes Auto.

So konnte die Polizei wenige Tage später das Fluchtauto und die Tatwaffen sicherstellen: der spanische Lizenznachbau einer Uzi und eine spanische Pistole Marke Llama. Die Ermittlungen ergaben, dass beide Waffen im Jahr 1972 von Spanien an die kaiserliche iranische Armee verkauft worden waren.

Für die Exiliraner in Berlin und anderswo war die Sache klar: dieser Vierfachmord trug die Handschrift des iranischen Regimes.

Die Berliner Polizei war sich dessen nicht so sicher. Sie verdächtigte zunächst offiziell die PKK. Aus Sicht der Polizei war es plausibel, dass im Kampf um die politische Hegemonie eine Konkurrenzorganisation geschwächt werden sollte, zumal die PKK in der Vergangenheit auch zu solchen Mitteln gegriffen hatte. Diese Hypothese wurde auch geraume Zeit an die Medien kommuniziert.

Es ist Parviz Dastmalchi zu verdanken, dass er, der die Täter aus nächster Nähe gesehen hatte und den Fluch auf Persisch gehört hatte, dass die Ermittler ihre Hypothese überdachten.

Der entscheidende Faktor war jedoch ein Hinweis vom Bundesamt für Verfassungsschutz, der seinerseits einen Tip vom britischen Geheimdienst erhalten hatte. Die amerikanischen und britischen Dienste waren trotz des Mauerfalls noch in Berlin aktiv und überwachten iranische Akteure und Hisbollah-Sympathisanten.

So wurde als erster der Libanese Yousef Amin im nordrhein-westfälischen Rheine festgenommen. Der Mann, der vor dem Restaurant Schmiere gestanden hatte. Er der am wenigsten ideologisch Gefestigte in dem Team gewesen. Es dauerte nicht lange, und erfahrene BKA-Ermittler hatten ihn weichgekocht. Er verriet seine Mittäter.

Der Anführer mit der Maschinenpistole war der Iraner Abdulrahman Bani-Haschemi, der Mann mit der schallgedämpften Pistole war der Libanese Abbas Rhayel. Planer und Anstifter der Aktion war ein gewisser Kazem Darabi. Letzterer war Anfang der 1980er Jahre als Student nach Deutschland gekommen und bereits 1982 als Beteiligter an einem Überfall von regimetreuen Studenten auf das Studentenwohnheim Inter 1 in Mainz negativ aufgefallen. Mehrere regimekritische iranische Studenten waren durch Stahlruten teilweise schwer verletzt worden, eine deutsche Studentin starb. Er sollte ausgewiesen werden, konnte jedoch nach Intervention der iranischen Botschaft bleiben. Er ging nach Berlin, wo er sich für das Fach Bauingenieurwesen einschrieb, jedoch mangels Ablegens von Prüfungen exmatrikuliert werden sollte. Erneut kam ihm die iranische Botschaft zu Hilfe. Er betrieb danach einen Gemüseladen in Berlin-Neukölln. Der Erwerb wurde ihm, der weder Ausbildung noch Beruf noch Geld hatte, vom iranischen Regime finanziert. Es war (und ist es wahrscheinlich auch noch heute) eine verbreitete Praxis des Regimes, seinen Anhängern im Ausland kleine Geschäfte zu finanzieren, damit seine Sympathisanten eine Erwerbstätigkeit nachweisen und damit einen Aufenthaltstitel bekommen können und – der Zweck des Ganzen: im Zielgebiet wirken können. Netter Bonus: das iranische Regime kann in diesen kleinen Läden sein schmutziges Geld aus kriminellen Aktivitäten waschen.

Darabi war vor dem Attentat nach Teheran ausgereist, um Spuren zu verwischen und nicht in Verbindung gebracht zu werden. Da aus Deutschland entgegenstehende Signale ausblieben, fühlte er sich so sicher, dass er wieder nach Deutschland einreiste und am Flughafen Frankfurt festgenommen wurde.

Diese Affäre kam für die deutsche Regierung zur Unzeit, denn Kohl und seine Regierung befanden sich just zu diesem Zeitpunkt mitten in ihrem berühmt-berüchtigten „kritischen Dialog“ mit dem Iran. Chomeini war seit drei Jahren tot, es war ausreichend Gras über die Exzesse gewachsen. Es war Zeit, die Beziehungen zu normalisieren – und natürlich gute Geschäfte zu machen.

Es wäre ungerecht zu behaupten, dass untragbare Wirtschafts- und Außenpolitik erst mit dem gierigen Gasprom-Gerd begonnen hätte, die von der prinzipienlosen Merkel und dem beratungsresistenten Scholz weitergeführt wurden. Kohl und die Regierungen davor haben es zu ihren Zeiten schon ganz genauso gemacht.

Das ahnten die iranischen Exiloppositionellen nur zu gut. Sie vertrauten der deutschen Polizei und waren überzeugt, dass die deutsche Justiz die Täter überführen und sie einer gerechten Strafe zuführen würde.

Was die Exilanten fürchteten, waren opportunistische Politiker, die den Prozess durch einen Deal torpedieren könnten, der die Verurteilung der Täter verhindern würde. Oder aber die Täter nach einer kurzen Anstandsfrist freilassen würden. Die Exiliraner hatten die richtigen Instinkte: genau so trat es auch ein.

Im Oktober 1993 begann der Prozess gegen den Anstifter Kazem Darabi, den Pistolenschützen Abbas Rhayel und den Späher Yousef Amin. Letzterer wurde, da er bei der Polizei ausgepackt hatte, im Gefängnis bedroht und wurde von den Mitangeklagten im Prozess getrennt, indem er der Hauptverhandlung in einem separaten Plexiglaskasten vis-à-vis der beiden anderen Angeklagten beiwohnen musste. Während Darabi und Rhayel eisern schwiegen, störte Amin die Verhandlung durch Zwischenrufe und theatralische Allüren.

Der Prozess endete 1997 mit lebenslangen Freiheitsstrafen mit Feststellung der besonderen Schwere der Schuld für Darabi und Rhayel. Yousef Amin wurde wegen Beihilfe verurteilt. Bemerkenswert war, dass das Gericht direkt das iranische Regime, und insbesondere Informationsminister (d.h. Geheimdienstminister) Ali Fallahian, als Drahtzieher des Attentats benannte.

Der Schütze mit der Uzi, Bani-Haschemi, konnte in den Iran entkommen und wurde nie für die Morde zur Rechenschaft gezogen.

Nicht aufgeklärt wurde, wer der Verräter gewesen war, der dem Terrorkommando das Signal zum Losschlagen gegeben hatte. Der Verdacht lastete schwer auf dem Restaurantbesitzer Azis Ghaffari. Bei ihm wurde nach dem Attentat bei einer Durchsuchung eine größere Geldsumme gefunden. Vom Vorsitzenden hierzu befragt, gab der Zeuge unter Ausschluss der Öffentlichkeit eine Erklärung ab, die „das Gericht zufriedenstellte“, wie der Vorsitzende im Anschluss mitteilte. Andererseits fragten sich die Exiliraner, wie es sein konnte, dass der mittellose Ghaffari ein Restaurant erwerben konnte. Hatte das iranische Regime wie bei Darabi ein bißchen Anschubhilfe geleistet? Lag es an dem Misstrauen, das ihm entgegenschlug oder lag es anderen Gründen? Ghaffari brach mit der Zeit alle Kontakte zu seinen ehemaligen Gesinnungsgenossen ab. Er war auch der Einzige, der nach dem Prozess in den Iran zurückkehrte und sich eine neue Existenz als Apotheker aufbaute.

Wie kam es zu der falschen Datumsangabe, wenn denn tatsächlich Ghaffari der Verräter gewesen sein sollte? Hatte er bewusst, den Gästen das falsche Datum genannt? War es ein letztes Zugeständnis an sein Gewissen, um nicht unnötig Blut zu vergießen? Oder wollte er nur für das Terrorkommando die Anzahl der anwesenden Personen überschaubar halten, damit die Operation handhabbar bleibt und nicht aus dem Ruder läuft?

Niemand hat bis heute eine Antwort auf diese Fragen.

Das Regime in Teheran, das direkt des Auftragsmordes bezichtigt worden war und das Gesicht verloren hatte, schäumte und drohte. Da es keinen Einfluss auf die Justiz nehmen konnte und auch diplomatischer Druck nichts brachte, verlegte es sich auf alte Taktik, durch Entführungen deutscher Staatsangehöriger einen Gefangenenaustausch herbeizupressen. Zuerst durch die Geiselnahme des Geschäftsmannes Helmut Hofer und dann von Donald Klein.

Im Hintergrund sind sicherlich permanent Gespräche gelaufen. Nachdem ein wenig Gras über die Sache gewachsen war und das Attentat nicht mehr so sehr im Fokus der Öffentlichkeit stand, wurden Darabi und Rhayel nach 15 Jahren – trotz der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld – in den Iran respektive in den Libanon abgeschoben.

Ein Deal, wie er für die Regierung unserer Kanzlerin der Herzen, Angela Merkel, nicht typischer hätte sein können.

Die iranische Jugend indes kämpft vereint und ethnienübergreifend weiter gegen die korrupten Blutgreise, die ihr das Leben und ihre Jugend stehlen wollen.

Dilem für Charlie Hebdo

Veröffentlicht unter Gesellschaft, Kriminalität, Naher Osten, Terrorismus | Verschlagwortet mit , , , , , , | 3 Kommentare

Drogen, Gold und blaue Bohnen

Leser meines Blogs wissen, dass ich große Sympathien für Abenteurer habe, die sich vorgezeichneten Lebenswegen und den gesellschaftlichen Erwartungen an ein respektables Leben entziehen und nur den Eingebungen ihres starken Charakters folgen.

Cizia Zykë gehört zweifellos in diese Kategorie. Bis zu seinem Tod mit 62 Jahren im Jahr 2011 hat er so viel Action erlebt, dass es für zehn Bürolurche ausreichen würde.

Als Sohn einer Griechin und eines albanischen Fremdenlegionärs im damaligen Protektorat Französisch-Marokko geboren, zog es ihn lange vor seiner Volljährigkeit in die Welt hinaus. Zunächst wie seinen Vater zur Fremdenlegion, aus der er aber bald entlassen wurde, weil Gehorsam nicht zu den Charaktereigenschaften gehörte, die ihm bei der Geburt mitgegeben wurden.

Er schlug sich dann als Geldeintreiber in Toronto und als LKW-Schmuggler in Westafrika durch, bis er sich in der Karibik niederließ und eine Familie gründete.

Sein Sohn starb jedoch kurz nach der Geburt am plötzlichen Kindstod. Er führte dann ein zielloses Leben, das hauptsächlich aus Drogenkonsum und Glückspiel in den Kasinos von Hong Kong und Macao bestand.

Irgendwann beschloss er, dass Grenzen und Regeln für ihn keine Gültigkeit haben sollten, außer seinem eigenen Gesetz, das er außerdem für viel gerechter hielt. Insbesondere das einmal gegebene Manneswort.

In Südamerika schlug er sich zunächst mit dem Schmuggel von präkolumbischen Artefakten aus Raubgrabungen über Wasser, bis er von dem sagenhaften Goldreichtum auf der Osa-Halbinsel in Costa Rica hörte.

Und so macht er sich mit seiner Frau, einer 357er Smith & Wesson und seinen Eiern in den costa-ricanischen Dschungel auf, um Gold im Dschungel zu schürfen.

Costa Rica ist im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern verhältnismäßig wohlhabend und fortschrittlich. Es wird auch die Schweiz Zentralamerikas genannt. Das Land hat sich einer strikten Neutralitätspolitik verschrieben, sein Militär aufgelöst und das Geld in Bildung investiert. Große Teile des Landes sind Naturschutzgebiet.

Trotz allem ist es natürlich ein südamerikanisches Land mit seinen korrupten Bullen, gierigen Politikern und Geschäftsleuten.

Die Anfänge sind schwierig. Bei der Kooperation mit erfahreneren Goldschürfern wird er übers Ohr gehauen und fängt sich außerdem die Malaria ein.

Beim zweiten Versuch wird er wegen Drogenbesitzes eingebuchtet, aber vor allem, weil er sich mit seiner ungestümen Art viele Feinde gemacht hat und zu oft von seiner 357er Gebrauch gemacht hat, als es die geduldigen costa-ricanischen Bullen zulassen konnten.

Beim dritten Mal kommt er mit Mitgliedern der Präsidentenfamilie Carazo ins Geschäft, und zwar dem kriminellen Familienzweig, der in schmutzige Drogen- und Waffengeschäfte verwickelt ist (unter anderem beliefern sie in Nicaragua parallel die Contras und die Sandinisten).

Sie geben Zykë eine Schürflizenz und Geld für Männer. Hier zeigt sich Zykës despotisches Naturell. Er lässt seine Männer im Fluss schuften, was bedeutet, dass sie im fließenden Wasser stehen müssen und mit einer Eisenstange, einem sogenannten Strahlstock, die Felsen aufbrechen müssen und andere in einer aufgespannten Canoa den Goldstaub und die Nuggets auffangen müssen. Cizia Zykë hingegen sitzt am Ufer in einem Schaukelstuhl, in der einen Hand einen Kaffee in der anderen einen fetten Joint mit Mango-Rosa-Gras und überwacht die Arbeit. Zwischendrin zieht er seine 357er und lässt die Kugeln über die Köpfe der Männer zischen, wenn sie zu langsam arbeiten.

Zu spät bemerkt er, dass die kriminellen Geschäftsleute nur herausfinden wollen, ob die der Abschnitt am Fluss reich an Gold ist, so dass sich eine größere Förderung lohnt, und ihn mit einer fingierten Drogengeschichte ausbooten wollen.

Dies ist das Thema seines Buches „Oro“, das erstaunlicherweise sogar nach seinem Erscheinen im Jahr 1983 ins Deutsche übersetzt wurde. Auf Amazon finden sich alte Hardcoverausgaben unter dem Titel „Oro – Gold aus dem Dschungel“. Neuauflagen habe ich nicht gefunden. Ob es an der Nachfrage mangelt?

Ich glaube, dass ein solches Buch heute gar nicht mehr erscheinen könnte, denn es thematisiert vieles, was heute als „toxische Männlichkeit“ gegeißelt wird: Cizia Zykë geht keiner Schlägerei aus dem Weg, regelt Konflikte mit Diplomatie aber, wenn sie scheitert, mit seiner 375er oder einer 45er Magnum. Das Konzept der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau ist ihm nicht geläufig und dass er nicht gerade LGBTQ-affin ist, wäre noch eine deutliche Untertreibung.

Trotzdem war es eine sehr kurzweilige und amüsante Lektüre.

Triggerwarnung: Cizia Zykë hat „problematische Ansichten“ und das Buch könnte Angehörige der Millenials und der Generation Y und jünger nachhaltig verstören.

Veröffentlicht unter Kunst, Uncategorized | Verschlagwortet mit , , , , , | 1 Kommentar

Das Îlot Chalon – ein ehemaliges Pariser Viertel

Das INA-Medienarchiv lässt vergangene Zeiten und untergegangene Orte wiederauferstehen. Diese interessante Reportage hebt das sogenannte Îlot Chalon aus der Versenkung, das vor etwa 25 Jahren unter den Planierraupen und Abrissbirnen verschwunden ist.

Es war ein winziges kleines Viertel nordöstlich der Gare de Lyon im 12. Arrondissement.

Nach der Einweihung der Gare de Lyon bot es Werkstätten, Lager und Wohnungen für die Bahnhofsarbeiter. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kaufte die Eisenbahngesellschaft große Teile der Häuser auf, um sie zur Erweiterung des Bahnhofs abreißen zu können. Indes: der 1. Weltkrieg kam dazwischen. Nichts geschah. Die Häuser blieben stehen und verfielen. Weder die Eisenbahngesellschaft noch die verbliebenen Eigentümer hatten Interesse daran, Geld für die Sanierung von Gebäuden auszugeben, die dem Abriss geweiht waren.

Chinesen aus der Provinz Zhejiang siedelten sich an und im Îlot Chalon entstand das erste Chinatown von Paris. Später kamen noch Muriden aus dem Senegal hinzu und gesellten sich zu den übrig gebliebenen Franzosen hinzu – einfachen Leuten, aber auch kleinen Beamten. Die Ethnien blieben jedoch streng voneinander abgegrenzt.

Das Viertel verfiel immer mehr. Es konnte keine Einigung über den Kauf herbeigeführt werden, weil die verbliebenen Eigentümer vor dem Abriss den Preis hochtreiben wollten.

Ende der 70er / Anfang der 80er Jahre siedelten sich Künstler und Musiker aus der Punkszene in den Häusern an, wobei „Punk“ in Frankreich eine Sammelbezeichnung für alles ist, was sich nicht in das klassische Rock-Schema einordnen lässt.

Irgendwann wurde das Îlot Chalon zu einem Drogenumschlagplatz und die Häuser zu Heroin-Schießbuden. Das besiegelte das Ende.

Der Fotograf Francis Campiglia  hat von 1986 bis zum Abriss im Jahr 1996 das Leben und den Verfall des Viertels dokumentiert und auch die Szene um den Musiker Hervé Haine und die damals noch unbekannten Bands „Les Négresses Vertes“ und „La Mano Negra“ kurz vor ihrem Durchbruch.

Ich hatte damals zu diesem Thema recherchiert, konnte bei meinem letzten Parisbesuch leider nicht mit Francis Campiglia sprechen.

Der Musiker Hervé Haine mit seiner Frau und seinen Kindern.

Hervé Haine mit „Les Négresses Vertes“; mit der Gitarre der Sänger Helno Rota, der 1993 an einer Heroin-Überdosis starb.

Veröffentlicht unter Frankreich, Gesellschaft, Kunst, Stadtleben | Verschlagwortet mit , , , , , , , , | 2 Kommentare

Die Pariser Metro vor 40 Jahren

Das französische Medienarchiv INA (Institut national de l’audiovisuel) hat auf seinem sehr sehenswerten Youtube-Channel eine Sammlung von alten Sendungen und Reportagen von den Anfängen des Fernsehens bis ca. zum Beginn der 2000er Jahre zusammengestellt.

Im Jahr 1982 war ein Reporterteam des Senders FR3 mehrere Monate lang im unterirdischen Labyrinth der Gänge und Stationen des fast 250 km langen U-Bahnnetzes unterwegs. Ein unbekannter Kontinent, wie sie ihn nennen, den die Menschen tagein-tagaus durchqueren, ohne ihn zu betrachten. Statistisch verbringt jeder Pariser bis zur Rente ein Jahr seines Lebens in der Metro.

Die Reporter filmen die interessanten, amüsanten und teils skurrilen Begegnungen mit den Menschen in der Metro: die Musiker, die Punks, die Abhänger, die Pendler, der Feuerschlucker, der sich den Bart verbrennt, der Polizist, der zum Clochard wurde und nun an den Stationen Zigaretten und Münzen schnorrt.

Beim Betrachten des Films werde ich nostalgisch, denn diese Szenerie ist mir aus meiner Kindheit wohlbekannt, wenn wir Familie und Freunde meiner Mutter in Paris besuchten. Ich finde, dass sich am Aussehen der Stationen und der gekachelten Gänge gar nicht so viel geändert hat. Sogar der Warnton, bevor sich die Türen schließen, ist gleichgeblieben. Andererseits hat man den Eindruck, als liege diese Epoche hundert Jahre zurück.

Leider kann man als Nutzer bei Youtube keine Untertitel mehr einfügen (oder ich finde nicht mehr dorthin) . Leser, die des Französischen nicht mächtig sind, können sich trotzdem von den Bildern forttragen lassen und der schönen Sprache lauschen.

Veröffentlicht unter Dokumentarfilm, Frankreich, Reise, Stadtleben | Verschlagwortet mit , , , , | Kommentar hinterlassen

Massenmord in Nizza, Teil 2

Im Anschluss an den letzten Artikel zum Terroranschlag am 14. Juli 2016 in Nizza, wollte ich noch einen weiteren Artikel über den Verhandlungsteil hinzufügen, in welchem die Eltern und Freunde über die Persönlichkeit des Täters ausgesagt haben.

Zwischenzeitlich sind alle Angeklagten als Mittäter und Gehilfen zu teils hohen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Zwei von Ihnen zu 18 Jahren Gefängnis. Ich habe es nur nicht früher geschafft, den Artikel zu übersetzen.

Was in diesem Teil des Prozesses über die Persönlichkeit des Täters zur Sprache kommt, ist mehr als bizarr.

Ich bin weder Sozialarbeiter noch Psychologe und dennoch bin ich der Meinung, dass die Eltern von Mohamed Lahouaiej Bouhlel einen überragenden Anteil an der kranken Persönlichkeit und damit auch an der Tat selbst haben. Ich glaube überdies, dass man das bei islamistisch motivierten Tätern durchaus generalisieren kann: die Erziehung mit und die Normalisierung und Banalisierung von Gewalt, die Bildungsverachtung bzw. das Streben nach einer formalisierten in Diplomen darstellbaren Bildung, die Ignoranz, das Nicht-Wissen-Wollen, die Schuldabwehr…

Ich bin nicht abgeneigt, bei solchen Taten, die Eltern mit auf die Anklagebank zu setzen.

Hier ist die Übersetzung:

Versuch der Ergründung eines „Monsters“

Die Sitzungswoche, die vergangenen Freitag geendet hat, war der Persönlichkeit des Terroristen gewidmet. Um die zehn Verwandte und ihm nahestehende Personen haben von seiner Kindheit in Tunesien berichtet, von seiner Obsession für Sex, seinen „Verhaltensauffälligkeiten“. Ein vielstimmiges Portrait, das jedoch nicht vermocht hat, die tieferen Beweggründe seines wahnsinnigen Verbrechens zu verstehen.

Wie kann man die Persönlichkeit eines Täters rekonstruieren, der das Undenkbare begangen hat, eines der monströsesten Massaker, das man sich vorstellen kann?

Wie kann man die tieferen Beweggründe eines Terroristen entschlüsseln, bei dem alles darauf hindeutet, dass er psychisch schwer gestört war.

In Ermangelung einer psychiatrischen Expertise, mangels erwiesener Mittäter oder eines selbstverfassten Bekennerschreibens hat Mohamed Lahouaiej Bouhlel, der am 14. Juni 2016 an Bord eines LKW 84 Menschen getötet hat, indem er in die Menge gefahren ist, das Geheimnis seiner wahnsinnigen Tat mit ins Grab genommen.

War der Mörder Promenade des Anglais verrückt? War er depressiv, selbstmörderisch und sadistisch, radikalisiert oder all das zugleich?

Im Verlauf der vergangenen Prozesswoche, deren Verhandlung vollständig der Persönlichkeit des Terroristen gewidmet war und die am Freitag, dem 28. Oktober (2022) geendet hat, hat das spezielle Schwurgericht von Paris versucht, das Unentwirrbare zu entwirren durch die Zeugenaussagen von ihm nahestehenden Personen.

Jede dieser Personen hat eine Facette des Sohns, des Bruders, des Neffen, eine Erinnerung an den Liebhaber, ein Teilchen des „Monsters“ beigesteuert.

Die genaue Natur seiner Störungen und der Auslöser für seine Tat blieben unbegreiflich. Doch im Zuge der Befragungen, um Verlauf der Zeugenaussagen hat sich allmählich ein Mosaik abgezeichnet, das Portrait eines labilen Mannes, der Frustration nicht ertrug, reizbar und gewalttätig war, der narzisstische Störungen aufwies, zur Empathie unfähig und dem Religion „schnuppe“ war, der jedoch schließlich begonnen hatte, sich in den Wochen vor der Tatbegehung sehr oberflächlich für den Islam zu interessieren.

Seine Eltern und seine Schwestern, die aus Tunesien angereist waren, haben als erste im Gerichtssaal seine Kindheit in einer ungebildeten Familie aus M’Saken, einer kleinen Stadt im Sahel von Tunesien, seine gequälte Jugend, seinen Klassen-Komplex, seine „Verhaltensauffälligkeiten“ und auch seine Zornausbrüche beschrieben.

Andere ihm nahestehende Personen, die in Frankreich leben, eine Tante, ein Schwager, ein Cousin, ein Liebhaber und seine zwei Geliebten haben später sein Leben in Nizza beschrieben, seine krankhafte Obsession für Sex, seine Frau, die er nach Lust und Laune verprügelte und auch hier wieder seine Verhaltensauffälligkeiten

Er hasste sich

Vor seiner Jugend in Tunesien hat man einen Charakterzug registriert, den der Mörder bis zu seinem Tod mit 31 Jahren begleitet zu haben scheint: Mohamed Lahouaiej Bouhlel mochte sich nicht. „Er hasste sich“, hat seine Tante Rafika in ihrer Zeugenaussage zusammengefasst, dem einzigen Familienmitglied, dem sich der Terrorist nach dem Aufbruch nach Frankreich noch verbunden fühlte. Dieser Selbsthass wurde nur noch von einem tiefen Ressentiment gegenüber seinen Eltern übertroffen: „Er war hasserfüllt, er sagte, dass sie Ratten seien und Wilde“, sagt die alte Tante, in einen großen schwarzen Mantel gehüllt.

Der Ursprung dieser Wut? Die Scham über seine soziale Herkunft, ein Gefühl der Ungerechtigkeit, für das er seinen Vater verantwortlich machte. Dieser ließ ihn auf seinem Bauernhof schwer arbeiten und der junge Mohamed litt darunter, schlecht angezogen zu sein und in der Schule zu stinken, weil er sich um die Tiere kümmern musste, was ihm die Hänseleien seiner Mitschüler einbracht e.

Er fühlte sich von den anderen Kindern geringgeschätzt, da er nicht gut angezogen war, er roch schlecht“, erzählt die Tante.

Es war nicht gerade wie in Mogadischu bei ihnen aber fast. Im Ort galten sie als Hinterwäldler“, bestätigt sein Cousin Mehdi, der sich als Bäcker im Département Alpes-Maritimes niedergelassen hat.

Wenn man ihm Glauben schenkt, hat Mohameds Vater seine Kinder „auf die harte Tour erzogen“: er erinnert sich, dass er sich, dass er sie einmal gesehen hat, wie sie alle aus einem Bottich gegessen haben und sich um die Stücke stritten, „wie Tiere“.

War es also wegen seiner Komplexe und der Hänseleien über seine äußere Erscheinung? Jedenfalls hat Mohamed Lahouaiej Bouhlel beim Heranwachsen eine Obsession für seinen Körper entwickelt. Er praktizierte regelmäßig Bodybuilding und konsumierte „große Flaschen mit Proteinen“, erinnert sich sein Vater Mondher, ein Landwirt von 63 Jahren mit von der Sonne zerklüfteter Haut, der die Reise aus M’Saken angetreten hat, um die Fragen des Gerichts zu beantworten. „Er hatte ein Talent für nur eine Sache: Bodybuilding. Er beobachtete sich die ganze Zeit im Spiegel“.

Gefährlicher Blick

Je weiter er heranwuchs und Muskeln bekam, begann er, der selbst die Schläge und den Stock seines Vaters zu spüren bekommen hatte, seine Brüder und Schwestern beim geringsten Ärgernis zu schlagen.

– „Haben Sie schon mal ihren Sohn geschlagen?“ fragt der Vorsitzende den Vater.

– „Ja, er gehorchte nie! Ich lebe auf dem Land. Dort schlägt jeder seine Kinder, aber es hinterließ keine Spuren… Er bekam manchmal eine Ohrfeige oder einen Fußtritt…“

Es kam vor, dass sein Vater in schlug, normal, nicht mehr als die anderen, aber Mohamed war der älteste. Es stimmt, dass es ein bißchen hart war, wir wollten, dass er im Leben Erfolg hat, dass er ein Mann wird“, erinnert sich seine Mutter Chérifa, eine Frau von 58 Jahren mit pergamentener Gesichtshaut, eingehüllt in ein langes khakifarbenes Gewand, den Kopf mit einem rosafarbenen Kopftuch bedeckt.

Hier beginnt das Kapitel der „Verhaltensauffälligkeiten“ des Mörders, das Wort ist mehrfach im Verlauf der Verhandlung aufgetaucht. Wie jener Tag als Mohamed Lahouaiej Bouhlel seine ganze Familie zu Hause mithilfe einer Kette eingesperrt hatte, weil ihm sein Vater kein Motorrad kaufen wollte. Oder dieses andere Mal, als er die Türen und Fenster des elterlichen Hauses zerstört hatte, was seinen Vater dazu bewogen hat, mit ihm einen Psychiater aufzusuchen.

Das war im Jahr 2004, Mohamed war 19 Jahre alt. „Als ich die Türen und Fenster beim Nachhausekommen zerstört vorgefunden habe, habe ich gefragt, was passiert ist. Er hat nicht geantwortet, er hat mich mit einem gefährlichen Blick angeschaut. Er ist jähzornig, er wird wütend, wenn er ein Problem nicht regeln kann. Wenn er auf ein Hindernis stößt, wird sein Kopf rot und blau… Der Doktor hat ihm ein Medikament zur Behandlung verschrieben, aber er hat sich nicht daran gehalten, denn die Medikamente machten ihn müde während seiner Kurse an der Universität.“

Unersättlicher sexueller Appetit

Drei Jahre später zieht Mohamed Lahouaiej Bouhlel nach Nizza mit seiner jungen Frau, die auch gleichzeitig seine Cousine ist. Er ist 22 Jahre alt. Diese, mit der er drei Kinder bekommen hat, war das erste Opfer seiner Gewaltausbrüche, die sie dazu bewogen hat, zweimal Anzeige zu erstatten. Der Mörder hat sie fast jeden Tag, den ihre Ehe gedauert hat, geschlagen, er hat sie mit einem Stock vergewaltigt als sie schwanger war, sie mit dem Tod bedroht, auf sie uriniert und in ihr Zimmer defäkiert. Die junge Frau, von den Jahren der ehelichen Gewalt und dem Attentat traumatisiert, hat nicht die Kraft gefunden, als Zeugin auszusagen.

Abdallah, der Schwager des Terroristen, hat schließlich im Zeugenstand diese Begebenheit berichtet: „Er sagte mir, dass er in ihre Wohnung defäkierte, wenn sie sich weigerte zu putzen. Das war seine Art zu reagieren. Er war der Auffassung, dass sie sich nicht gut um ihn kümmerte, dass sie ihn vernachlässigte.“

Ihm zufolge warf der Mörder seiner Frau auch vor, ihn sexuell nicht zu befriedigen. Dazu muss man sagen, dass sein Sexualtrieb unersättlich war: bis zu sechs Mal am Tag, hatte seine arme Ehefrau den Ermittlern berichtet, die zu ihrer Mutter floh, wenn er zu zudringlich wurde. „Er sagte, dass er die ganze Zeit einen Steifen hätte“, erinnert sich sein Schwager. Wenn seine Frau nicht mit ihm schlafen wollte, hatte er eine aufblasbare Puppe, um sich zu erleichtern.

Seine Obsession für Sex hat den eingefleischten Aufreißer, der als „sehr aufdringlich und penetrant“ beschrieben wurde, der jedoch nach einhelliger Ansicht die Frauen „vergötterte“, dazu gebracht, vier Jahre lang intime Beziehungen mit einem Mann, dem vierzig Jahre älteren Robert. „Er nannte mich ‚mein Lieber‘ aus Gag“, erinnert sich der kleine 80-jährige Mann mit der Erscheinung eines jungen Mannes, der während seiner aktiven Berufsjahre, eine Gaysauna in Paris betrieben hatte.

Auf Befragen der Staatsanwaltschaft, willigt der Rentner ein, zu wiederholen, was er schon im Jahr 2020 vor der Presse erklärt hat: während des Verkehrs mit dem Terroristen, wollte „Momo“, wie er ihn nannte, die Rolle einer liederlichen Frau spielen. Das war eine Phantasie zwischen uns. Um ihm Lust zu bereiten, behandelte ich ihn wie eine Pennerin und machte mit ihm Dinge von der Straße und das gefiel ihm.“

Die Erinnerung an die geflickten Kleider und den Klassen-Komplex des jungen Mohamed schwebt im Gerichtsaal.

Unempfindlich für Emotionen

Abgesehen von Robert, der sich selbst als „Mentor“ und väterliche Figur beschreibt, hatte der Mörder noch zwei andere länger andauernde Beziehungen zu zwei Frauen, auch sie älter als er. Beide hatte er bei Salsakursen kennengelernt: Dominique, eine schöne, adrette und gepflegte Frau von 65 Jahren, dreißig Jahre älter als er, eine Sprechstundenhilfe in Rente und Evelyne, eine Chefsekretärin von 55 Jahren. Alle drei beschreiben einen zwar labilen aber dennoch höflichen und charmanten Mann.

Er war sympathisch, lächelnd, vollkommen normal. Ich habe nicht das Monster vom 14. Juli gekannt“, sagt Evelyne. „Er war schweigsam, einzelgängerisch, er erschien mir unglücklich in seinem Leben, er hatte Komplexe… Aber ich habe nichts Besorgniserregendes bemerkt. Nach dem Attentat habe ich nicht die Verbindung zu dem Mann herstellen können, den ich gekannt habe“, erinnert sich Dominique, die ihn „chouchou“ (Schatzi) nannte.

Robert räumt allerdings ein, dass Mohamed Lahouaiej Bouhlel zwei Gesichter haben konnte: „Er war ein hübscher Junge, wenn er lächelte, aber wenn er nicht lächelte, waren seine Augen Kalaschnikows, er sah sehr böse aus. Wenn er kalt und gefühllos war, hatte er diesen schwarzen, starren Blick, der die Seele dieses Jungen widerspiegelte.“

– „Fanden Sie ihn kalt, gefühllos?, fragt der Vorsitzende nach.

– „Ja, schon…unempfindlich für Emotionen. Eines Tages auf der Promenade des Anglais, das Meer war aufgewühlt, schleuderten die Wellen Kieselsteine auf die Geschäfte. Momo hat begonnen angesichts der Schäden vor Freude zu springen, er lachte wie ein Verrückter. Mir tat es leid, die Händler zu sehen, wie sie hektisch versuchten, ihre Sachen einzupacken. Ich fragte ihn: „Findest du dieses Desaster lustig? Er sagte ja. Er musste seine Stimmungen haben…“

„Er sagte, dass er Jude sei“

War es, um die Scham seiner Jugend in Tunesien ein für alle Mal zu verbannen? Seiner Tante Rafika zufolge hatte Mohamed Lahouaiej Bouhlel die Angewohnheit, sich „Salomon“ nennen zu lassen und auch „Shalom“ zu sagen. Robert bestätigt das: „Wenn er Salsa tanzen ging, sagte er, dass er Jude sei und manchmal auch Brasilianer. Ich sagte zu ihm, warum sagst du nicht, wer du bist? Er sagte nur, dass er sich schämte, dass er Araber hasse. Er selbst fühlte sich nicht wohl, er wäre lieber Europäer gewesen… Für mich hat er keine Rasse ausgewählt, um es [das Attentat] zu begehen, er hat es getan, damit man von ihm spricht…“

Abdallah, der Schwager, bestätigt, dass der Terrorist, der Schweinefleisch aß, demonstrativ mit seiner Herkunftskultur gebrochen hatte: „Er kritisierte die ganze Zeit den Koran und seinen Vater, das sind Dinge, die man nicht so sehr in der arabischen Kultur tut. Irgendwas lief nicht gut in seinem Kopf…“ „Er verspottete die Religion und alles übrige auch“, bestätigte seine Tante.

Was könnte die Tatbegehung des Mannes, der die Religion verachtete, erklären? Mehrere der ihm nahestehenden Personen hatten Veränderungen bei dem Mörder in den Wochen vor dem Anschlag beobachtet.

Die erste war körperlicher Art: Mohamed Lahouaiej Bouhlel, der regelmäßig Bodybuilding betrieb, hatte stark an Gewicht verloren. „Er war abgemagert und war an den Schläfen weiß geworden“, erinnert sich Evelyne. „In kurzer Zeit war er gealtert“. Robert hatte auch diese Veränderung bemerkt, die laut ihm auch mit einer Verhaltensänderung einherging: „Er war in der Zeit unmittelbar davor sehr kalt geworden, immer traurig, er lächelte nicht mehr.“

In diesem Zeitraum, der möglicherweise eine depressive Episode darstellte, hat der Mörder zum ersten Mal in seinem Leben begonnen, sich für den Islam zu interessieren. Er lauschte Suren des Korans, surfte auf dschihadistischen Internetseiten, ging acht Tage vor dem Attentat in die Moschee, zum Gebet zum Schluss des Ramadans, den er jedoch nie eingehalten hatte.

Hat er in der Religion einen Sinn für seinen Selbstmord und sein Massaker gesucht, der im Begriff war zu begehen? Keiner seiner Familienmitglieder oder Freunde war in der Lage gewesen, eine Erklärung für seine Tat zu geben: „Warum hat er all die Menschen umgebracht“, fragt sich seine Schwester Rabeb, die wie ihre Eltern aus Tunesien in der Hoffnung angereist war, zu verstehen.

Ich habe den Eindruck, dass er zwei Persönlichkeiten hatte. Sagen wir, dass er seelisch krank war… aber in dem Fall, warum hat er sich nicht einfach umgebracht? Das hätte ich akzeptiert. Das hier, das verstehe ich nicht…“.

Veröffentlicht unter Frankreich, Gesellschaft, Krieg, Kriminalität, Naher Osten, Terrorismus | Verschlagwortet mit , , , , , , | 5 Kommentare