Memos an mich selbst

Wer fragt sich in dieser unruhigen Zeit nicht manchmal im Stillen, wo das alles hinführen wird?

Ich persönlich halte mich für relativ gefestigt, aber trotz allem gibt es schon Momente – wenn man auf der Autobahn fährt, an seinem Schreibtisch sitzt oder mit dem Einkaufszettel in der Hand vor dem Müsliregal steht – in denen man sich fragt, was der Sinn hinter dem Ganzen hier ist.

Umso mehr als dass mittlerweile klar sein sollte, dass die Nachkriegsordnung, die uns Frieden und Wohlstand beschert hat, vorbei ist und nicht mehr wiederkehren wird. Wir sind in einer Zwischenphase, bei der noch nicht klar ist, welche Kräfte sich wie durchsetzen werden.

Wer kann einem in diesem Chaos Orientierung bieten?

Wer soziale Netzwerke nutzt, wird jeden Tag mit hunderten von Botschaften und Instagram-Kacheln überschüttet, die an einem Tag dieses und am nächsten Tag das Gegenteil predigen und der Staat mischt munter mit durch tausenderlei Anweisungen (zur Gewährleistung ihrer Sicherheit tun Sie bitte dies, unterlassen Sie das, gehen Sie hier entlang, biegen Sie hier ab, wenden Sie bitte, nähern Sie sich nicht, sagen Sie jenes nicht, lassen Sie sich impfen, sehen Sie diese Sendung …. ).

Niemand entgeht den Meinungsäußerungen von Influencerinnen mit Schlauchbootlippen, die nutzlose, oberflächliche Motivationssprüche von sich geben, wie man sie meist am Frontdesk beliebiger Fitnesstudios sieht, im Stil von „Eat, Drink, Yoga, Repeat“.

Dann gibt es noch unentrinnbaren Mauldreck, der fast immer von irgendwelchen Werbern kommt („Expect the unexepected“ und ähnlichen Scheiß).

Fast noch schlimmer sind die Crypto- oder Geld-Bros, die meine Youtube-Dokus mit ihrer Dreckswerbung unterbrechen, und mir vor einer Wolkenkratzerkulisse von Dubai stammelnd erzählen, dass sie jahrelang bei der Finanzelite gearbeitet haben und es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren können, dieses Wissen für sich zu behalten und mir nun erklären wollen, wie ich „mit nur 5.000 € auf ewig reich und unabhängig“ werden könne. Dabei will ich doch nur meine Doku über Christopher Hitchens oder einen alten Film sehen und das Einzige, was mir dann in den Sinn kommt, ist, diese miesen, verschlagenen Triebtätervisagen, die meinen Film unterbrechen, töten oder sie in eine Zelle mit 15 knastschwulen Russen stecken zu wollen. (Edit: übertroffen werden die nur noch von Ralf Schumacher und seiner penetranten Frage, ob ich wissen wolle, was mein Auto wert ist; der ist noch zehnmal nerviger).

(Anscheinend hält der Youtube-Algorithmus diese Werbung für mich relevant, warum auch immer; ich frage mich, ob andere Leser auch diese Werbung eingespielt bekommen oder irgendwas anderes?).

Ich will mich gar nicht so sehr reinsteigern, denn Thema dieses Artikels ist etwas anderes: man muss sich zwingen, den digitalen Lärm zum Schweigen zu bringen, soziale Medien nicht mehr nutzen und die Apps am besten gleich löschen.

Manche suchen Rat in der Spiritualität, andere lesen Ratgeber (eine andere Plage unserer Zeit). Den Guru der verunsicherten Männlichkeit, Jordan Peterson, jedenfalls finde ich mit seiner pedantischen Art und seiner Fistelstimme hochgradig lächerlich.

Stoizismus ist das, wonach ich suche, um den Anfechtungen des Alltags und unserer Epoche zu begegnen. Und dabei entdeckte ich eins dieser Bücher, bei denen man sich fragt, weshalb man es nicht schon viel früher gelesen hat.

Marc Aurel, seines Zeichens römischer Kaiser von 161 bis 180 n. Chr. hatte sich mit der Philosophie der Stoa beschäftigt und in der Mitte seines Lebens die wesentlichen Linien seiner Weltanschauung in griechischer Sprache niedergeschrieben.

Es sind manchmal kurze fast schon instagrammierbare Aphorismen, die man in eine bunte Kachel packen könnte, manchmal auch längere Passagen, die aber eine Seite nicht überschreiten.

Es ist so, als würde einem ein lebenserfahrener, väterlicher Freund den Arm um die Schulter legen und ein paar Lebensweisheiten mitgeben. Ein fast 2000 Jahre alter Freund.

Es ist auch interessant zu sehen, dass vor 2000 Jahren, Menschen ähnliche Gedanken bewegten: sich nicht ablenken lassen, sich auf seine Aufgaben konzentrieren, nichts auf das Gewäsch anderer Menschen geben, sich selbst treu bleiben. Und das zu Zeiten ohne Fernseher oder Soziale Medien.

Was auch eine in dem Buch mehrmals wiederholte Aussage bestätigt, dass alles kommt und geht und sich wiederholt.

Wiederkehrende Motive sind die Ewigkeit; die Vergänglichkeit und Kürze des Lebens und die Lebensprinzipien, die sich daraus ergeben; die Einheit des Kosmos und der Natur des Weltganzen; die Bewahrung der menschlichen Gemeinschaft, die heilig sei, weil sie von Zeus geschaffen wurde, was bedeutet, dass man sich von den Menschen nicht abwenden darf, auch wenn sie einem schaden oder Leid antun; Annehmen, was unvermeidbar ist.

Letzteres, die Pflicht, sich in sein Schicksal zu fügen, hat teilweise auch etwas Fatalistisches, was mir nicht behagt. Das widerspricht zu sehr meiner Vorstellung eines freien Willens und meiner Auffassung, davon, dass der Mensch Herr seines Schicksals ist und es beeinflussen kann.

Es hat etwas von der islamischen Glaubenslehre und dem fatalistischen Ausruf: „Maktoub!“(„so steht es geschrieben“), was den Gläubigen von jeglichem Handeln und auch von Verantwortung enthebt.

Aber wer weiß, vielleicht ist auch der freie Wille nur eine Illusion und wir sind einfach Sklaven des von der Natur erhaltenen Intelligenzquotienten in Wechselwirkung mit den biochemischen Prozessen, die in unserem Gehirn ablaufen.

In diesem Zusammenhang kam mir dieses sehr interessante Gespräch zwischen dem Hirnforscher Hans Markowitsch und Jan-Philipp Reemtsma in den Sinn, dessen Intelligenz und Klugheit umgekehrt proportional zu der seiner Nachkommenschaft ist, insbesondere seiner Nichte (Carla Reemtsma), die mit der generationstypischen Mischung aus Autoritarismus, Größenwahn und Hysterie nichts weniger als das Klima retten will.

(Wer den Artikel hinter der Bezahlschranke nicht lesen kann, nimmt diese schöne Seite removepaywall.com; dankt mir später.)

Die Griechen in der Antike glaubten auch, dass der Mensch seinem Schicksal nicht entkommen könne, innerhalb dessen aber Handlungs- und Gestaltungsspielraum habe.

Interessanterweise mutet manche Weisheiten fast schon buddhistisch an, wenn dem Leser geraten wird: „Die Vorstellung wegwischen, dem Streben Einhalt gebieten, das Verlangen auslöschen und die leitende Vernunft in seiner Gewalt haben.“

Alexander der Große kam ja auf seinen Feldzügen bis zum Indus. Ich frage mich, ob in seinem Tross auch Leute gewesen sind, die vor Ort blieben und den Buddhismus beeinflusst haben.

Es scheint auch, als habe die Philosophie der Stoa auch den christlichen Glauben beeinflusst mit seinem Gebot zur Nächstenliebe und der Ablehnung des Zorns, der im christlichen Glauben als Todsünde gilt.

Ich habe, wie man den zahlreichen Post-Its entnehmen kann, dem Buch viele interessante Impulse entnommen.

Dennoch darf man natürlich nicht den Kontext außer Acht lassen: es ist etwas vollkommen anderes, als Kaiser auf seinen Latifundien zu wandeln und über die Staatskunst, das Leben und den Platz des Menschen darin zu sinnieren, als wenn man im „daily grind“ steckt und sich mit nervigen E-Mails und ermüdenden Telefonaten, dem Finanzamt und der Krankenkasse herumärgern muss.

Aber hier sind jedenfalls meine Top 5:

IV. Buch, 37

Du wirst bald tot sein und bist noch immer nicht schlicht und einfach, ruhig und ohne Argwohn, du könntest von außen einen Schaden erleiden, bist nicht freundlich zu allen Menschen und setzt dein Denken noch immer nicht ausschließlich darauf, gerecht zu handeln

IV. Buch, 49

Der Klippe gleich sein, an der sich unaufhörlich die Wogen brechen, sie aber steht fest, und rings um sie beruhigt sich das tosende Wasser. „Ich Unglücklicher, dass mir das widerfahren musste.“ Doch nein, sag das nicht, sondern: “Ich Glücklicher, dass ich obwohl mir das widerfahren ist, unbekümmert bleibe, ungebrochen vom gegenwärtigen Unglück und ohne Furcht vor der Zukunft.“ Denn solches könnte jedem widerfahren, aber nicht jeder wäre darüber unbekümmert geblieben. Warum also sollte jenes Ereignis mehr Unglück als Glück sein? Kann man überhaupt etwas als Unglück des Menschen bezeichnen, was nicht ein Missgeschick der menschlichen Natur ist? Scheint dir das ein Missgeschick der menschlichen Natur zu sein, was nicht gegen den Willen seiner Natur ist? Wie nun? Den Willen kennst du. Hindert dich etwa dieses Ereignis daran, gerecht, großherzig, beherrscht, besonnen, zurückhaltend, wahrhaftig, bescheiden, unabhängig, zu sein und all die anderen Eigenschaften zu haben, in deren Zusammentreffen die Eigentümlichkeit der Natur des Menschen besteht? Denke künftig bei allem, was dir Leid bereitet, daran, dich an folgenden Grundsatz zu halten: Das ist kein Unglück, im Gegenteil, es mit Anstand zu ertragen, ist ein Glück.

VII. Buch, 8

Die Zukunft soll dich nicht beunruhigen. Denn du wirst ihr, wenn es nötig sein wird, mit derselben Vernunft begegnen, die dir auch jetzt schon für die Gegenwart zu Gebote steht.

XI. Buch, 18

(…) Und ebenso: wie du dich davor hüten musst, ihnen zu zürnen, musst du dich auch davor in Acht nehmen, ihnen zu schmeicheln. Denn beides ist der Gemeinschaft nicht zuträglich und führt nur zum Schaden. Im Zorn aber sei dir stets gegenwärtig, dass nicht das Zürnen mannhaft ist, sondern Milde und Sanftmut; diese sind nicht nur menschlicher, sondern auch männlicher; auch verfügt dieser Mensch über Stärke, Spannkraft und Tapferkeit, und nicht einer der sich ärgert und unzufrieden ist. Denn je verwandter dies der Leidenschaftslosigkeit ist, desto verwandter ist es auch der Stärke. Und wie der Kummer, so ist auch der Zorn ein Zeichen eines schwachen Menschen. Denn beide sind verwundet und habe sich hinreißen lassen. Wenn du willst, dann empfange noch ein zehntes Geschenk von dem Musenführer, nämlich dass es unsinnig ist, von den Schlechten zu verlangen, dass sie keine Fehler begehen. Denn da verlangt man Unmögliches. Sich aber damit abzufinden, dass die anderen eben so sind, und dabei zu verlangen, dass sie sich nicht gegen dich verfehlen, ist unvernünftig und tyrannisch.

XII. Buch, 13

Wie lächerlich und fremd ist der, der sich über etwas wundert, was im Leben geschieht.

Dies sind also zweitausend Jahre alten Weisheiten, die, so meine ich, auch heute noch ihre Relevanz und Gültigkeit haben.

Es ist angenehm, sich von diesen Sinnsprüchen inspirieren zu lassen, aber tief in mir weiß ich, dass meine Natur nicht so stoisch und kontemplativ ist.

Ich mache mir selbst nichts vor. Ich neige zu Zorn, Rachsucht und Schadenfreude, also Eigenschaften, die wie oben beschrieben als absolut unmännlich anzusehen sind.

Ich neige dazu, stark und heftig zu empfinden und schätze auch ungestüme Gefühle wie Zorn, Liebe, Freude und den Wunsch nach Aufregung.

Mit dem Streben nach Stoizismus und größerer Gelassenheit, geht allerdings auch eine (antrainierte) Verflachung der Affekte einher, was in gewisser Weise schade ist, gehören sie doch zur unperfekten menschlichen Natur.

Man strebt etwas an, aber vermisst dann doch, was man nicht mehr hat. So ist der Mensch.

Es gibt übrigens auf X einen Account, der die Weisheiten der Stoa auf unsere Zeit überträgt und den ich gerne und mit Gewinn lese. Leider postet er nicht regelmäßig, sondern nur von Zeit zu Zeit.

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1 Response to Memos an mich selbst

  1. Ein wunderschöner Artikel, der die Weisheiten der Stoa gut vermittelt! Angesichts deines Widerspruchs gegen das, was dir zu fatalistisch vorkommt, ist mir der Spinoza zugeschriebene Satz eingefallen „Freiheit ist, zu wollen was man muss“. Das ist provokant formuliert. Googles KI formuliert die gängige Interpretation so:

    „Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit: Der Satz impliziert, dass wahre Freiheit nicht darin besteht, von äußeren Zwängen unabhängig zu sein. Vielmehr liegt Freiheit in der Erkenntnis der eigenen Natur, der Gesetze der Natur und der Notwendigkeiten, die sich aus diesen ergeben.

    Wollen, was man muss: Wenn man diese Notwendigkeiten erkennt und akzeptiert, und sie nicht als Einschränkung, sondern als Teil der eigenen Natur ansieht, dann kann man sie auch wollen. Es ist diese innere Zustimmung, diese Akzeptanz, die Freiheit schafft.“

    Wenn ich also weiß, dass ich als Mensch ein soziales Wesen bin, das nicht alleine existieren kann, sondern in vielerlei Hinsicht (nicht nur materiell, sondern bis hin zur psychischen Gesundheit) von Anderen abhängt, kann ich mich – entgegen spontanen Emotionen, die aufkommen mögen – durchaus gelassen so manche Zumutung betrachten, die durch allerlei Mitmenschen und ihre Institutionen zustande kommen.

    Die stoischen Einsichten und Handlungsanleitungen basieren nun alle auf rein mentalen Überlegungen – und wie du richtig sagst: Gut situierte Leute in komfortablen Lebensumständen haben sie formuliert.

    Es gibt jedoch auch einen anderen Weg, die „Leidenschaften“ zu besänftigen: Über den Körper! Denn die Emotionen, die „ungestümen Gefühle“ haben eine körperliche Basis. Wenn man diese verändert, versschwinden „Zorn, Rachsucht und Schadenfreude“ so schnell, wie sie auftauchen – ganz „von selbst“. Falls sie überhaupt noch auftauchen…

    Ich hab das so erlebt, es zu erläutern, würde hier den Rahmen sprengen. Bei Interesse siehe den Namenslink).

    Zu den Videos/Youtube: Ich hab mir Premium gegönnt, eine wirklich sinnvolle Investition, keine Werbung mehr! Was die Stoa angeht, gibt es dort leider „Faceless Videos“, die – vermeintlich – stoische Weisheiten verbreiten, allerdings klingt das dann mehr wie eine Anleitung zum egozentrischen leben.

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