Kambodscha – der vergessene Genozid

„Für einen Mann von deiner Vergangenheit“, fuhr Iwanoff fort, „ist diese plötzliche Auflehnung gegen Experimente etwas naiv. Jahr für Jahr sterben Millionen sinnlos als Opfer von Epidemien und Naturkatastrophen. Und da sollten wir davor zurückschrecken, einige hunderttausend dem sinnvollsten Experiment der Geschichte zu opfern? Ganz zu schweigen von den Legionen jener, die an Unterernährung und Tuberkulose, in den Kohlegruben und Quecksilberminen, auf den Reisfeldern und Baumwollplantagen zugrundegehen. Kein Hahn kräht nach ihnen, kein Mensch fragt, warum und wofür; aber wenn wir hier ein paar tausend objektiv schädliche Leute umlegen, steht den Humanisten in der ganzen Welt der Schaum vor dem Mund. Jawohl, wir haben den parasitären Sektor der Bauernschaft liquidiert oder verhungern lassen. Es war eine chirurgische Operation, die ein für allemal durchgeführt werden musste; aber in den guten alten Zeiten vor der Revolution sind in Dürrejahren ebenso viel vor Hunger verreckt, bloß dass ihr Tod sinn- und zwecklos war. Die Opfer der Überschwemmungen des Gelben Flusses in China gehen mitunter in die Hunderttausende. Die Natur ist großzügig mit ihren sinnlosen Experimenten an der Menschheit, und du wagst es, der Menschheit das Recht abzusprechen, an sich selbst zu experimentieren?“

Arthur Koestler, Sonnenfinsternis

Genozid ist ein Word, das in der jüngsten Vergangenheit inflationär und häufig zu Unrecht verwendet wird.

Ich will mich mit dem aktuellen Thema nicht allzu lang aufhalten, denn ich will mich mit einem Genozid beschäftigen, der unzweifelhaft stattgefunden hat, und zwar weil er genau 50 Jahre zurückliegt.

Die Roten Khmer haben Ende der 1960er Jahre begonnen, einen Guerrillakrieg gegen das herrschende Establishment Kambodschas zu führen und haben vor genau 50 Jahren, im Jahr 1975, die Hauptstadt Pnomh Penh überrannt, die Bevölkerung aus der Stadt getrieben, sie zur Feldarbeit gezwungen und einen großen Teil ermordet. Ziemlich genau ein Viertel der Bevölkerung. Mehr als eine Million Menschen.

Einer der ganz wenigen Menschen, die in die Fänge der Roten Khmer gerieten und lebend aus der Gefangenschaft gekommen sind, ist der Franzose François Bizot.

Er war in den 1960 Jahren aus Abenteuerlust nach Kambodscha gekommen und hatte im Auftrag des französischen Staates die ländlichen buddhistischen Riten erforscht. Er hatte mit einer einheimischen Frau eine Familie gegründet und eine Tochter bekommen.

Der Moment, in welchem Bizot in dieses Land war der letzte Zeitpunkt, in welcher er noch das friedliche, an jahrhundertealte Rituale gebundene, weltabgewandte Land erlebte, das bis in die 1960er Jahre außerhalb der Zeit zu existieren schien, bevor es in einen blutigen Alptraum gestürzt wurde.

Bizot registrierte, wie die komplexe buddhistische Khmer-Gesellschaft, vom Eindringen der Moderne erschüttert wurde, ohne die Folgen ermessen zu können.

Die Region wurde, wie auch andere ehemalige Kolonialterritorien der europäischen Mächte, von den Nachwirkungen der Unabhängkeitskämpfe aufgewühlt. Kommunistische Agitatoren – je nach Ausrichtung von der Sowjetunion oder China bezahlt und unterstützt – verfolgten ihre Pläne in den verletzlichen Gesellschaften.

Hinzu kam noch der Vietnamkrieg, der im Nachbarland tobte, und auf Kambodscha übergriff. Waffenlieferungen über die Grenze nach Vietnam und der Rückzug von Vietcong und nordvietnamesicher Armee führten dazu, dass die Bombenkampagnen der US-Airforce auf Kambodscha ausgeweitet wurden. Informationen zufolge warfen die Amerikaner über Kambodscha mehr Bomben ab als über Japan im Zweiten Weltkrieg und mehr als halb so viel wie über Vietnam, mit dem sich die Vereinigten Staaten im Krieg befanden.

Die Beziehungen der unterschiedlichen Länder des ehemaligen französischen Kolonialreichs und der Machtblöcke des Kalten Krieges sind nicht einfach nachzuvollziehen.

Bis zur Flucht und Exil von König Sihanouk war Kambodscha ein Königreich. Entgegen der ersten Intuition, die man haben könnte, war Sihanouk aus Gründen, die ich nicht verstanden habe, allerdings so etwas wie ein Kryptosozialist, der den Kampf der Vietnamesen gegen die Amerikaner billigte und auch Waffenlieferungen und Nachschubrouten an die Kommunisten erlaubte, was den Amerikanern nicht gefiel.

Umso unverständlicher wird Sihanouks Handeln, wenn man bedenkt, dass Kambodscha und Vietnam historisch gesehen Erzfeinde sind und immer in einem mehr oder weniger feindseligem Misstrauen kohabitiert haben. Aus der Perspektive Kambodschas hat Vietnam in der Geschichte immer versucht, Kambodscha zu unterwerfen und sich des Staatsgebiets zu bemächtigen.

Die Amerikaner griffen dann auf ihr nur so mittelprächtig bewährtes Mittel des „Regime change“ zurück, unterstützten den Putsch von General Lon Nol, der den Amerikanern sehr viel wohlgesonnener ist und sowohl die Kommunisten im heimischen Dschungel wie auch in Vietnam bekämpft.

Sihanouk im Exil spielte ein doppeltes Spiel und versuchte mit Hilfe seiner Todfeinde, der Vietnamesen, wieder an die Macht zu kommen.

Die Roten Khmer, die im Dschungel im Hinterhalt lagen, Nadelstiche setzten und auf ihre Stunde warten, arbeiteten zwar mit den Vietnamesen zusammen, aber auch hier ist die Beziehung nicht klar. Sie hassen sich zwar, teilen aber eine gemeinsame Ideologie, den Kommunismus. Offensichtlich haben sie jedoch unterschiedliche Konzepte davon, denn auch wenn die Vietnamesen ihre Bevölkerung unterdrückt haben, sind jedoch nicht so weit gegangen, ein Viertel ihres Volkes abzuschlachten.

Als die Roten Khmer immer größere Teile des Landes unter ihre Kontrolle bringen, muss sich Bizot zurückziehen und seine Forschungen aufgeben. Er arbeitet von diesem Zeitpunkt an den Ausgrabungen der Tempelanlage Angkor Wat, führt jedoch sporadisch seine buddhistischen Forschungen im Hinterland weiter.

So geschieht, es dass er im Oktober 1971 in einem Kloster von einer Gruppe Roter Khmer mit seinen beiden einheimischen Begleitern festgenommen wird. Seine dreijährige Tochter, die auch dabei war, bleibt zurück.

Bizot und seine Leidensgenossen marschieren in das Lager „M13“ in der Nähe von Omleang, wo andere Häftlinge schmachten. Sie alle liegen in einer Hütte und sind mit hufeisenförmigen Fußschellen an eine lange Stange gefesselt, die am Ende mit einem Vorhängeschloss verschlossen ist. Bizot entgeht diesem entwürdigenden Zustand, indem er klarmacht, dass seine Fußgelenke zu groß für die Fesseln sind, so dass er außerhalb der Hütte mit einer Kette an einen Pfosten gefesselt wird.

Nach kurzer Zeit, begreift Bizot, wer im Lager das Sagen hat: ein magerer Mann, dessen helle Haut und die vielen ungeraden Zähne chinesische Vorfahren verrieten.

Wie alle kommunistischen Führer in Asien sprach er langsam und mit leiser Stimme, wobei er den Kopf nach hinten neigte und seine Augen fast vollständig schloss.

Äußerlich war nicht zu erkennen, dass er der Kommandant war, da er sich von den anderen bewaffneten Männern nicht unterschied, weil er nach der kommunistischen Ideologie betont schlicht gekleidet war, nämlich in der charakteristischen schwarzen pyjama-artigen Uniform, den Sandalen aus Autoreifen, der Proletariermütze und dem Krama-Schal.

Nur die Ehrerbietung der anderen verriet seine Stellung. Die Roten Khmer sprachen sich untereinander als „Mit“ (Genosse) an, die Anführer wurden mit „Ta“ (Großvater) angesprochen, um die Distanz und den Respekt zu markieren. So nennen ihn die größtenteils noch sehr jugendlichen, fast noch kindlichen Wachen des Lagers.

So lernte Bizot „Ta Duch“ alias Kang Kek Iev kennen, der seine Befehle direkt von „Angkar“, der Führungsebene, dem Politbüro der Roten Khmer erhielt, einer kleinen Gruppe in Frankreich ausgebildeter Intellektueller, angeführt von „Bruder Nummer 1“ alias Pol Pot alias Saloth Sar.

Wie Pol Pot war auch Ta Duch vor seiner Karriere als Revolutionär Lehrer gewesen. Mir ist der persönliche Gedanke erlaubt, dass mich das nur in meinem seit der Grundschule bestehenden, genuinen Misstrauen gegen Pauker bestätigt.

Die Gefangenschaft und die Begegnung mit Ta Duch werden für Bizot zu einer existentiellen, lebensverändernden Erfahrung.

Es ist schwer auseinanderzuhalten, was Stockholm-Syndrom und was ontologischer Versuch ist, seinen Feind und Folterknecht und seine Beweggründe zu verstehen.

Man muss sich stets im Klaren sein, dass der Lager „M13“ ein Todeslager ist, in dem täglich Menschen entweder an Krankheiten sterben oder als Verräter ermordet werden. Sie werden auf sehr primitive Weise mit einer Feldhacke erschlagen, da Gewehrmunition zu kostbar ist, um sie für Volksfeinde zu verschwenden.

Besonders perfide ist, dass die Opfer, wenn sie weggeführt werden, bis zum Schluss in dem Glauben gelassen werden, es werde ihnen nichts geschehen. Bis zum letzten Augenblick, an dem das Opfer vor der Grube kniet und den Schlag mit der Hacke auf den Hinterkopf erwartet, wird die Lüge aufrechterhalten, dass nichts passieren wird.

In dieser allgegenwärtigen Todesangst hat Bizot drei Monate lang bis zu seiner Freilassung an Weihnachten 1971 gelebt.

Aus Sicht von „Ta Duch“ ist Bizot ein Agent der CIA und er soll ein entsprechendes Geständnis unterschreiben. Bizot erklärt jedoch, dass er aus Liebe zum Land hier ist und Forschungen über den Buddhismus anstellt. Mit der Zeit scheint er den erbarmungslosen Mörder Ta Duch überzeugen zu können, der sich erstaunlicherweise sogar gegen seine Vorgesetzten durchsetzt, darunter der brutale Schlächter „Ta Mok“, der seinen Tod schon selbstverständlich beschlossen hatte.

Ta Duch nimmt ein großes Risiko auf sich, indem er sich gegen den ausdrücklichen Befehl von „Angkar“ stellt und Bizot freilässt. Seine beiden Begleiter bleiben im Lager zurück und werden ermordet.

Bizot musste sich eingestehen, dass das Bild, das er sich von einem Mörder und Folterknecht gemacht hat, nichts mit der Realität zu tun hatte.

Er musste die bestürzende Erkenntnis machen, dass ein Mensch grausam und unmenschlich und zugleich empfindsam, lustig und großzügig sein kann.

Und mehr noch: er musste anerkennen, dass er ebenso zu solchen Taten fähig wäre, wie Ta Duch. Die elementare Erkenntnis, die ihm Gefangenschaft im Dschungel vermittelt ist die, dass diese Anlagen ins uns allen sind.

Dies muss sich Bizot eingestehen, hatte er doch selbst seine Flucht geplant und sich einen Stein zurechtgelegt, mit dem er den Erstbesten erschlagen wollte, der sich ihm in den Weg stellen würde, und sei es ein Kind.

Die Begegnung mit Duch war für Bizot ein Spiegel, der ihn in den eigenen inneren Abgrund hat blicken lassen.

Bizot hat durch diese äußerst negative Erfahrung, am eigenen Leib die Banalität des Bösen und die Komplexität der menschlichen Natur erfahren. Die brutalsten Massenmörder sind eben keine Sadisten und Psychopathen, sondern „ganz normale Männer“, die Befehle befolgt haben, ohne viel nachzudenken und nachzufragen, so wie Hannah Arend „Eichmann in Jerusalem“ porträtierte, so wie der Rudolf Höss, der KZ-Kommandant von Treblinka, der gegenüber der Journalistin Gitta Sereny sogar Reue für seine Taten ausdrücken konnte. Oder die Männer des Reserve-Polizei-Bataillons 101, die bittere Tränen vergossen, bevor sie zum ersten Mal einen Menschen erschießen mussten und kurz darauf ohne mit der Wimper zu zucken tausende von Menschen abknallten. Männer, Frauen, Greise, Kleinkinder.

Bizot nahm nach seiner Freilassung wieder sein Leben auf. Er wurde noch Zeuge von der Machtübernahme der Roten Khmer, der Evakuierung von Pnomh Penh und der Vertreibung der Stadtbevölkerung auf das Land. Er versuchte in der französischen Botschaft zumindest die Menschen auf das Botschaftsgelände zu ziehen, die einen französischen Pass oder Ehepartner haben. Bei allen anderen muss er machtlos zusehen, wie sie in den sicheren Tod gehen. Das alte Botschaftstor steht als Mahnmal noch immer im Park des Botschaftsgeländes.

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Danach verdrängte er die Begebenheiten, bis er fast dreißig Jahre später, im Jahr 1999, mit Verblüffung erfährt, dass Ta Duch, dessen Leistungen ihn offensichtlich zu Höherem berufen hatten, zum Vize-Kommandanten der Mordstätte „S-21“ genannt Tuol Sleng gewesen war.

Diese Neuigkeit versetzt ihm einen Schock, da sie wieder eine neue Facette zu Ta Duchs Persönlichkeit hinzufügte, die ihn wieder in einem neuen Licht erscheinen ließ.

Ich habe dieses Folterzentrum vor etwas mehr als 20 Jahren selbst besucht, als ich mit dem Rucksack durch Südostasien gereist bin. Das Folterzentrum, das sich in einer ehemaligen Schule befindet, ist ein gespenstischer und bedrohlicher Ort.

Kambodscha ist so arm, dass es das Folterzentrum zwar in ein Genozid-Museum umgewandelt hat, jedoch alles im Originalzustand belassen hat, kaum dass es ein paar Vitrinen und Fotos gibt.

Es ist alles da, die gemauerten Trennwände in den ehemaligen Klassenzimmern, die gelb-weißen Fliesen, die eisernen Bettgestelle, auf denen die unglückseligen Opfer mit Stöcken, Zangen und Stromkabeln gefoltert wurden. Es kommt einem so vor, als könnte man die Gespenster der Ermordeten durch die Gänge huschen sehen und als wäre der Ort noch angefüllt von den Schreien und Wimmern der Gefolterten.

Am schlimmsten sind die tausenden von kleinen Einlieferungsfotos der Inhaftierten, die wie kleine Passbilder sind, darauf Menschen mit angstgeweiteten Augen und einer Nummer, manchmal mit einer Sicherheitsnadel direkt in die Haut gestochen.

Diese Fotos sind nur ein kleiner Ausschnitt von vielen Fotos und diese nur ein winziger Ausschnitt der zehntausenden, die in diesem Gefängnis ermordet wurden. Und da sind noch nicht die Millionen anderen dabei, die mit Hacken ermordet oder erschossen wurden, die Säuglinge, denen man den Schädel an einem Baumstamm zerschmettert hat.

Ich will es dem Leser nicht ersparen, diese Fotos zu zeigen, denn ich halte es für notwendig. Nicht nur, um klarzumachen, was totalitäre, faschistische Ideologien anrichten, sondern auch als Beweis dessen, was außerhalb unserer äußerlich ruhigen, verlogenen Wohlstandsblase an jedem Tag auf der Welt passiert. Und vor allem, weil es aktuell bei gewissen ungebildeten Idioten edgy zu sein scheint, mit Kommunismus zu kokettieren. Ich würde Ihnen gerne diese Fotos zeigen und ihnen dann ein paar in die Fresse schlagen.

Im Jahr 2009 hat Bizot vor dem Sondertribunal gegen die Roten Khmer gegen Ta Duch als Zeuge ausgesagt, der zwischenzeitlich zum christlichen Glauben gefunden hatte. Was er beschreibt, ist sonderbar, denn man merkt ihm die Dankbarkeit an, dass Duch ihn am Leben gelassen hatte, seinen ambivalenten Versuch, Duchs Verhalten in den Kontext der menschlichen Natur zu setzen, die zum Besten wie auch zum Schlimmsten imstande ist. Ein seltsames Gefühlsgemisch, das wohl nur derjenige nachempfinden kann, der eine ähnlich existentielle Erfahrung gemacht hat.

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1 Response to Kambodscha – der vergessene Genozid

  1. Danke für diesen gute, sehr ausführlichen und informativen Artikel! Ich war zweimal in Kambodscha, 2006 und 2008, jeweils mehrere Wochen. Dabei bekam ich die ganze Geschichte mit und habe alle geschichtsträchtigen Orte besichtigt. Dass das Genonzid-Mudeum weitgehend „alles original belassen“ hat, empfand ich nicht als Defizit, im Gegenteil – besonders erschreckend!

    Unglaublich, was da passiert ist, die Roten Khmer haben praktisch alle Intelleketuellen umgebracht: Wer eine Brille trug, wurde Opfer! Und dass es möglich ist, eine Großstadt wi Phnom Pen zu „leeren“, die ganze, noch nicht umgebrachte Bevölkerung in großen Märschen in alle Richtungen aufs Land zu verfrachten (wo sie oft den Hungertod starben), hätte ich nie für möglich gehalten!

    Noch heute leidet das Land unter den Folgen, die vor allem sichtbar werden durch die vielen Amputierten, die auf Minen getreten sind und meist ein elendes Leben, oft als Bettler führen.

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