Als ich vor längerer Zeit, zu Beginn meines Studiums, begann, Russisch zu lernen, war die überwiegende Mehrzahl der Kursteilnehmer aus West-Deutschland Es gab einige wenige ostdeutsche Kommilitonen, die vielleicht ihre biographische Identität ergründen wollten, aber sie waren klar in der Minderheit.
Damals studierte ich an der Humboldt Universität in Berlin. Im Lesesaal der juristischen Fakultät direkt an der Stirnseite des vis-à-vis des Eingangs, gab es (gibt es?) ein großes Fenstermosaik. Darauf abgebildet im Vordergrund Lenin, der mit dem Arm entschlossen in eine hoffnungsvolle Zukunft deutet (wenn er wüsste!). Neben ihm stehen Marx und Engels, die ihm mit bekifftem Gesichtsausdruck dabei zusehen.
Die ostdeutschen Kommilitonen hatten (zumindest nach außen hin und von Ausnahmen abgesehen) nicht das Geringste für die DDR und alles „Ostige“ übrig. Es waren die 90er Jahre und für sie waren die Begriffe „Kommunismus“ und „Russen“ mit Zwang und mit einer peinlichen Vergangenheit verbunden, die tabuisiert war und über die nicht gesprochen wurde. Zumindest nicht mit West-Deutschen.
Fast alle ostdeutschen Kommilitonen waren peinlich darauf bedacht, alles Ostdeutsche abzustreifen, sich betont modern zu kleiden. Das ging so weit, dass sie selbst ihren Heimatdialekt aus ihrem Hochdeutsch tilgten. Das galt jedenfalls für die Sachsen und Thüringer. Die Ost-Berliner pflegten selbstverständlich ihr Berlinerisch.
Wenn ich danach fragte, „wie es damals so gewesen ist“ (also wie das Leben war, wie die Schule war, wie sie aufgewachsen sind) erntete ich verlegene Reaktionen, so wie wenn man jemanden taktlos auf eine hässliche Trennung von einem Ex-Partner anspricht. Vielleicht habe ich es aber in meiner jugendlichen Unbeholfenheit einfach nur falsch und ungeschickt angebahnt.
Nichts lag meinen Ossi-Kommilitonen ferner, als sich mit den Russen zu beschäftigen, diesen verarmten, unzivilisierten Gefängniswärtern, die sie 40 Jahre gefangen gehalten hatten. Das Erstarken einer trotzigen ostdeutschen Identität hatte damals noch nicht stattgefunden.
Loyalität zur Sowjetunion und einen prorussischen Bezug gab es bei den Ostdeutschen zu der Zeit, zumindest meiner Beobachtung nach, eher bei den Leuten, die die 40 schon überschritten hatten.
Wer indes vom „Osten“ fasziniert war, das waren die Westdeutschen, die nach dem Fall der Mauer eine ihnen unbekannte Welt, direkt vor ihrer Haustür entdeckten. Und besonders zu Russen fühlen die Deutschen eine eigenartige Seelenverwandtschaft.
Wie bei sehr vielen Themen lassen sich die Deutschen viel stärker von Wunschbildern und naiven Klischees leiten als von der Realität.
So etwas wie „Kommunismus“ ist für die Deutschen abstrakt. Sie können vielmehr etwas mit Bildern anfangen: den Birkenwäldern, den „endlosen Weiten“, Matrosenchören und tanzenden Kosaken.
Das diese Bilder Vorstellungen von Träumen sind die mit der Realität nur sehr peripher etwas zu tun haben, wollen die Deutschen nicht realisieren, denn in ihrer verdrehten Wahrnehmung können sie das Konkrete, den real existierenden Kommunismus, geistig und mental nicht verarbeiten.
Es sind diese Wunschvorstellungen, wie sie typischerweise von sogar sehr kultivierten Bildungsbürgern kolportiert werden, die „Studiosus“-Reisen buchen, wo sie ausgewählte kulturelle Schmuckstücke kredenzt bekommen: die Eremitage in Sankt Petersburg, den Kreml oder das Kaufhaus GUM oder der Neubau der Christ-Erlöser-Kathedrale, die in den 30er Jahren von Stalin zerstört worden war. An ihrer Stelle war bis in die 1990er Jahre das berühmte kreisrunde Freibad Moskwa, in dem man im Winter in dampfender Eiseskälte seine Bahnen schwimmen konnte.
Tief in ihrem Inneren sind die Deutschen davon überzeugt, dass kein anderes Volk ihnen an Erhabenheit ebenbürtig ist. Die anderen Nationen sind oberflächlich, materialistisch, kulturlos und haben nicht diese verfickte, berühmt-berüchtigte „Innerlichkeit“, zu der kein Volk auf der Welt fähig ist, außer den Deutschen. Und natürlich den Russen mit ihrer „tiefen russischen Seele“.
Es versteht sich von selbst, dass das alles lächerlicher, verlogener Bullshit ist.
Es reichen nur ein paar Minuten RTL2 oder ein paar Scrolls durch „Deutsch-Twitter“, um sich klarzumachen, dass nichts von dieser pathetischen Scheiße stimmt. Dann hat es sich mit Kultur und „Innerlichkeit“.
Ich hingegen habe da so meine eigene private Theorie, warum das so ist: zwischen Deutschland und Russland besteht eine Art Sado-Maso-Beziehung mit Rollentausch. Meiner Meinung nach erkennen sich die Mörder und Schlächter im jeweils anderen.
Aber weil das so ist, mögen es die Deutschen überhaupt nicht, wenn sie in der Bestätigung ihrer Klischees und Stereotypen irritiert oder gestört werden, deswegen auch die Ablehnung gegen den „dreisten“ oder „undankbaren“ ukrainischen Botschafter Melnyk
Neben der halluzinierten „seelischen Nähe“ zwischen Deutschen und Russen geht es todsicher auch um beinharte geschäftliche Interessen.
Hinter der Maske aus sozialdemokratisch-protestantischer Redlichkeit und ökonomischer Realpolitik („Wandel durch Handel“) verbirgt sich nämlich nur allzuoft die gute alte deutsche, verlogene Raffkementalität.
Mich überrascht ehrlichgesagt dieser sehr schnelle Umschwung und die weitreichende Unterstützung für die Ukraine. Ich vermute, das liegt einfach daran, dass die Deutschen nur gar zu glücklich sind, endlich die Rolle des bösen Buben an jemand anderen abgeben zu können.
Ich selbst würde mich nicht als russophil bezeichnen, aber Russland und die Sowjetunion haben mich immer interessiert. Es war das Düstere, das Morbide, die Aura des Verfalls und des Untergangs, die mich angezogen hatten.
Das erste bewusste Interesse muss 1989 gewesen sein, im Januar. Ich begann mich für Musik zu interessieren und auch für die Dinge außerhalb meiner unmittelbaren Umgebung. Nachmittags hörte ich das „Blaue Album“ von den Beatles, das ich in der Plattensammlung meiner Eltern gefunden hatte und in den Nachmittagssendungen verfolgte ich den Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan. Wie sie über die „Brücke des Friedens“ nach Usbekistan fuhren, ein zerstörtes Land hinterließen und selbst zerstört waren.
Das war das Präludium zum Mauerfall und Zusammenbruch des Ostblocks.
Die sowjetischen Soldaten sahen ärmlich und zerlumpt aus. Der Kontrast zu den amerikanischen Soldaten konnte deutlicher nicht sein: die GIs waren in Frankfurt allgegenwärtig. Sie spazierten entweder in ihren funktionalen Woodland-Camouflage Uniformen mit auf Hochglanz geputzten Stiefeln durch die Stadt, wenn sie im Dienst waren, oder sie trugen coole Basketball-T-Shirts wie sie damals Mode waren, mit Larry Bird, Michael Jordan und Magic Johnson, dazu die neuesten Nike-Modelle frisch aus dem PX.
Die Rotarmisten in Afghanistan hingegen trugen veraltete schlammfarbene Uniformen, die sich im Prinzip seit dem Zweiten Weltkrieg nicht geändert hatten: eine Art Feldbluse (wenigstens keine Rubaschka mehr), tatsächlich Breeches und hohe Knobelbecherstiefel.
Ich hatte mir immer selbst versprochen, einmal in Russland zu leben, aber es hat noch einige Jahre gedauert, bis ich es verwirklichen konnte. 2001 machte ich ein Praktikum in einer kleinen Kanzlei in Moskau, die ein gewiefter deutscher Rechtsanwalt dort gegründet hatte. Putin war schon Präsident. Wer weiß, ob schon zum damaligen Zeitpunkt seine Rachegelüste in ihm brodelten.

Die Anwälte in der Kanzlei waren Russen. Einer der Anwälte war ungefähr in meinem Alter. Ich habe leider seinen Namen vergessen. Er hatte eine Weile in Österreich gelebt und sprach ziemlich gut deutsch. Manchmal unterhielten wir uns von Schreibtisch zu Schreibtisch. Unvermeidlicherweise kam das Gespräch bisweilen auf gesellschaftliche und politische Themen. „Wir Russen sind wie Tannenbäume. Wir widerstehen Frost und allen Widrigkeiten“, sagte er zum Beispiel. „Wir sind stark und widerstandsfähig, weil wir in unserer Geschichte so viel durchgemacht haben. Ihr Westler hingegen seid verweichlicht und schwach.“ Er sagte das nicht aggressiv, eher so in einem gönnerhaften Plauderton.
Als im Oktober bereits die ersten Schneeflocken auf Moskau herabrieselten, gefiel es ihm, im Pullover draußen herumzulaufen. Mir war arschkalt. Er meinte nur, „es ist doch nur ein bißchen frisch“.
Während des Praktikums wohnte ich bei einer Freundin der Kanzleisekretärin in einem typischen Plattenbau weit außerhalb von Moskau, wo die normalen Städter bis hin zur oberen Mittelschicht wohnen. Die Wohnung lag an der U-Bahn-Station Kantemirowskaja, wo die Babuschkas mit Strickmützen an den Ausgängen ihre unförmigen Unterhosen verkaufen. Eine jener Plattenbaumoloche, die so trist und deprimierend aussehen, dass man an dunklen Wochenenden im Winter nicht übel Lust hat, vom Dach zu springen. Morgens fuhren die U-Bahn-Züge in sturer Präzision alle dreißig Sekunden ein, um unwahrscheinliche Menschenmassen, die in mehreren Reihen am Bahnsteig standen, in die Innenstadt zu fahren.

Moskau ist übrigens potthässlich bis auf die U-Bahn-Stationen in der Innenstadt mit ihren Marmorwänden, prachtvollen Mosaiken und gigantischen Kronleuchtern. Was sagt es über eine Stadt aus, dass das Schönste an ihr die U-Bahn-Stationen sind?
Die Freundin der Sekretärin hieß Wika. Sie war nur wenig älter als ich und arbeitete in einer Botschaft eines ostastiatischen Landes als Bürokraft. In der winzigen 2-Zimmer-Plattenbauwohnung hingen wir ziemlich aufeinander, wenn wir nicht arbeiteten. Sie mochte keine Schwulen, aber sie lenkte das Gespräch verdächtig oft auf das Thema Analverkehr, wie ich mich erinnere. Sicherlich hätte was mit ihr laufen können, aber ich war frisch verliebt und wollte meine neue Freundin nicht betrügen. Mit dem Abstand von zwanzig Jahren denke ich darüber nach, ob das nicht ein Fehler gewesen ist. Denn Frauen, die „analny seks“ mögen, laufen nicht gerade zahlreich herum.
Sie erzählte mir von ihrer Familiengeschichte. Sie stammte aus Woronesch im Süden. Ihr leiblicher Vater war ein Polizist, der ihre Mutter vergewaltigt hatte. Ihre Mutter hatte ich dann trotzdem geheiratet (oder heiraten müssen?). Sie zeigte mir Familienbilder: auf den Schwarzweißbildern sah man einem massigen Mann in Uniform und daneben sie als kleines Mädchen, dessen Gesicht dem Mann auf unheimliche weise glich, mit einem unglaublich traurigen Gesichtsausdruck.
Wika konnte unheimlich gut die Akzente der verschiedenen Volksgruppen im riesigen sowjetischen und russischen Reich nachmachen.
Zum Beispiel die Aserbaidschaner, die mit einer Lastwagenladung Melonen aus dem Kaukasus kamen, sie in einen großen Käfig sperrten, wo sie selbst so lange saßen und auch schliefen bis sie die Melonen vollständig verkauft hatten.
Oder auch die Ukrainer. Die Ukrainer gelten in Russland als schwerfällig und etwas langsam im Kopf, so ähnlich wie die Ostfriesen bei uns. Der ukrainische Akzent rollte ihr die Fußnägel hoch. Typisch ist wohl folgender Ausdruck: statt ну что (Nun ja) sagen sie ein langgezogenes ну шоо. Sie ahmte es nach und schüttelte sich angeekelt.
Das waren meine eigenen kleinen Erfahrungen während meines kurzen Aufenthalts in Moskau. Niemals wäre ich so vermessen, mich nach dieser Erfahrung als Russland-Experten zu bezeichnen. Ich habe mich viel mit der russischen Geschichte und der Literatur beschäftigt, dennoch kenne ich Land, Leute und Mentalität viel zu wenig, als dass ich mir ein sicheres Urteil erlauben könnte (wie ich es zum Beispiel im Fall von Frankreich tue).
Was ich allerdings registriert habe ist, dass die meisten Russen, die mir begegnet sind (und das sind mehr als der Anwalt und Wika), einen latenten und nicht unbedingt bösartigen, aber dennoch unzweifelhaft vorhandenen Chauvinismus gegenüber anderen Völkern pflegen. Daneben sind sie extrem materialistisch. Allerdings haben sie einen guten trockenen, sarkastischen Humor, der mir gut gefällt.
Die Geschichte von Wikas Zeugung durch eine Vergewaltigung hat mich ziemlich geschockt, auch wenn ich mir nichts habe anmerken lassen, aber Gewalt ist in Russland unterschwellig immer vorhanden.
Betrachtet man die Geschichte Russlands so ist das auch nicht anders möglich. Die russische Geschichte ist die einer jahrhundertelangen Unfreiheit. In der Sowjetunion noch potenziert. Eine Nation, die auf Gewalt, Terror, Leid und unermesslichen Leichenbergen aufgebaut ist.
Das moderne Russland wendet der Welt (zumindest bis zum 24. Februar 2022) eine zivilisierten Oberfläche zu, unter der eine gewalttätige Geschichte und eine brutalisierte Gesellschaft brodeln, angefüllt mit Hass und Ressentiments und gepeinigt von generationenübergreifenden Traumata und Dämonen, die umso stärker wirken, als sie niemals aufgearbeitet wurden.
Die Russen erliegen übrigens auch Illusionen über sich selbst. Und wenn diese Hybris auf Realität trifft, ist das hässlich. Sehr sehr sehr hässlich.
Ich lese gerne Bücher, aber manchmal sind die Bilder viel beredter.
Die Bilder von Russland, die ich habe, werden ergänzt durch die Bilder von Reportagen aus den 90er Jahren. Einem Jahrzehnt der Wildheit und Rechtlosigkeit.
Der Bildband „Jenseits von Kreml und Rotem Platz“ vereint Fotos aus Stern-Reportagen, die zwar einerseits reißerisch, aber auch faszinierend sind.









Am besten und stärksten finde ich die Bilder des Berliner Fotograf Miron Zownir, der selbst ukrainischer Herkunft ist, aber nie dort gelebt hat und weder Russisch noch Ukrainisch spricht. Sein Buch „Radical Eye“ habe ich zufällig in den Hackeschen Höfen beim Eschloraque entdeckt. In so einem Raum halb Galerie halb Buchladen. Ich war mit einer Party Crowd aus Paris in Mitte unterwegs, als mir dieses Buch ins Auge fiel. Sie wollten weiter, aber ich war vollständig fasziniert von diesem Buch, dass ich am nächsten Tag zurückkam, um es zu kaufen.


















Ich finde, dass Miron Zownir mit seinen rohen, krassen Bildern perfekt diese apokalyptische Zeit des Zusammenbruchs eingefangen hat, als 1991 die Lichter ausgingen. Denn es war nicht nur ein wirtschaftlicher Crash, sondern auch ein seelisch-moralischer und ein gesellschaftlicher.
Einfache Arbeiter, Beamte, leitende Angestellte aus angesehenen Berufen und Akademiker bekamen von jetzt auf gleich kein Gehalt mehr. Keine mickrige Kopeke. Zuerst verkauften sie ihre Wertsachen, dann den Familienschmuck, dann mussten sie hungern, betteln oder sich prostituieren.
Miron Zownir, der sich in Moskau besonders oft am „Drei-Bahnhofs-Eck“ am Komsomolskaja-Platz herumgetrieben hat, wo Leningrader, Jaroslawler und Kasaner Bahnhof eng beieinander stehen und bei seiner Arbeit angefeindet, verhaftet oder verprügelt wurde, hat die Menschen so abgelichtet, wie sie waren: durch 70 Jahre Kommunismus deformierte Missgeburten, Opfer eines gescheiterten Menschenexperiments.
Und die Dämonen wirken heute weiter.
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