Bei unserer ersten Begegnung hat er mir einen Korb gegeben. Er hat mich abfahren lassen, wie einen pickligen Teenager, der die Schulhofschönheit linkisch und schüchtern anspricht. Man muss auch sagen, dass ich es in meiner Unwissenheit völlig falsch angegangen bin.
Ich hatte zwei kalte Becks gekauft und war leutselig auf seine Bank zugegangen an einem warmen Sommerabend. Ich hatte ihm das kühle Helle angeboten und mich neben ihn auf die Bank gesetzt. Ich hatte alles Mögliche erwartet, Freude, Überraschung und vor allem interessante Geschichten, aber nicht dass er die Hände in Abwehr hob und „Nein, nein!“ rief, wobei seine Augen in dem Zwielicht unter dem Dach der Tischtennisplatte bedrohlich glommen. Ich konnte nicht wissen, dass die Becks ein kapitaler Fehler waren.
Er war mir schon lange aufgefallen, abends wenn ich wie ein Esel am Mühlstein meine Runden im Grüneburgpark drehte. Ich beobachtete ihn, wie er in seinem Schlafsack lag, eine Zigarette rauchte und die Jogger betrachtete. Was mag er wohl gedacht haben? Vielleicht: Was für Idioten, die einer idiotischen Tätigkeit nachgehen.
Nach einem Scheißtag im Büro, kam mir dieses diogenes-artige Leben irgendwie romantisch vor. Nach der vierten oder fünften Runde, wenn das Hirn vom Joggen langsam weich wird, nannte ich ihn für mich „Grüni-Mann“ oder auch, wenn die passagere Laufverblödung weiter vorangeschritten war, „Dr. Greenthumb“ und in demselben Augenblick, in dem ich das dachte, ertönte in meinem Kopf automatisch wie eine Zwangsvorstellung ein Sample von Cypress Hills Debiltrack, was mich ärgerte.
So sah ich ihn jahraus jahrein im Vorbeilaufen aus dem Augenwinkel unter seiner Tischtennisplatte, in der Dämmerung an einem Sommerabend, in der herbstlichen Dunkelheit oder an einem kalten und düsteren Winternachmittag, während Leise der Verkehr von der Autobahn rauschte. Manchmal war er schon da, manchmal hat er sich still und heimlich wie ein Geist eingefunden, wenn ich bei der nächsten Runde um die Kurve bog.
Der zweite Anlauf kam an einem stürmischen Herbsttag. Die Dämmerung war gerade hereingebrochen. Das Bier hatte er zwar verschmäht, aber niemand kann einer Tafel Schokolade widerstehen, dachte ich mir. Und ich hatte recht.
Zögerlich, nach der Art eines Mannes, der schon lange mit keiner Menschenseele mehr gesprochen hat, erzählte er mir seine Geschichte.
„Ich brauche einfach die Einsamkeit“, sagt er. „Ich halte Menschen nicht aus. Aber so langsam möchte ich doch wieder eine eigene Wohnung haben. Vielleicht in ein paar Monaten oder in einem Jahr.“
Der kleine Mann beschenkt mich nicht mit Abenteuergeschichten oder romanhaften Schilderungen der Freuden der Unabhängigkeit in seiner reinsten Form, sondern mit einer bedrückenden Familiengeschichte: der Vater Alkoholiker, eine traurige Kindheit an verschiedenen Orten und dann kam sein eigener Abstieg in die Hölle aus Alkohol und harten Drogen.
„Eines Tages habe ich all das, die Drogen, den Alkohol und die darin verstrickten Menschen, die mich umgaben – meine Freunde und Bekannte – nicht mehr ausgehalten“, erzählt er. Er hat eines Tages einfach die Tür seiner Wohnung hinter sich zugezogen und „sich auf die Straße gelegt“, wie er es ausdrückt. Das war vor 12 Jahren und gleich darauf hat er sich den Platz an der Tischtennisplatte zum Übernachten erobert. Passiert ist ihm noch nie etwas, auch nachts sei es hier nicht gefährlich.
Am Anfang auf der Straße war er schwer krank von den jahrelangen Drogenexzessen. „Es hat Jahre gedauert bis all die Gifte meinen Körper vollständig verlassen hatten“, erzählt er. Jetzt begreife ich, weshalb mein gutgemeintes Angebot, ein kühles Becks zu trinken, ein furchtbarer Fauxpas war.
Er hat alle Brücken hinter sich abgebrochen, will nichts mehr von seiner Familie wissen. Auch von seinen ehemaligen Drogenkumpanen nicht. Ein übermächtiges Bedürfnis nach Einsamkeit beherrschte ihn. Es geht ihm schon besser, aber er ist immer noch voller Hass und Zorn auf sein Leben. Für die Zukunft wünscht er sich, langsam wieder unter Menschen gehen zu können, sich wieder an sie zu gewöhnen, ihnen wieder vertrauen zu können und vielleicht eines Tages wieder zu arbeiten.
Das schönste Erlebnis in seinem Leben?
„Dass ich endlich vollkommen frei von Drogen und Alkohol bin!“
Zwölf Jahre auf der Straße, bzw. im Grüni. Das ist eine lange Zeit.
Ich befürchte, es wird schwer für ihn wieder unter Menschen zu gehen.
Ist ja so schon nicht einfach. Manchmal.
Ich möchte schon glauben, dass er es schafft. Denn er hat eine wichtige Eigenschaft unter Beweis gestellt: Eigensinn. Und wenn er seine Rückkehr genauso beharrlich betreibt, wie seinen Ausstieg, kann er es schon schaffen. Einstweilen versorge ich ihn mit Saft und Schokolade…
Eigensinn ist schon mal gut.
Saft und Schokolade auch.
Ich wünsche ihm, dass er die richtige Entscheidung trifft und damit glücklich wird.