„Jetzt ist schon nicht mehr so viel los“, sagt der Kriminaloberkommissar während wir über die Zeil laufen. „Kurz vor Weihnachten fahren auch die Diebesbanden nach Rumänien zurück. Anfang des Jahres sind sie dann wieder da.“
Die Buden des Weihnachtsmarkts werden nach und nach abgebaut, die Menschen eilen hektisch und mit gestresstem Gesichtsausdruck von Geschäft zu Geschäft, um noch auf den letzten Drücker Geschenke zu besorgen. Das Zivilkommando, das mich mit auf Streife zur Bekämpfung der „Tasche-Trick-Delikte“ mitgenommen hat, schlendert gelassen aber wachsam durch die Menschenmenge.
Ich versuche mich möglichst diskret bei dem Team zu halten, aber ich weiß genau, dass ich wie ein Anfänger viel zu auffällig starre und beobachte. Die Mitglieder der Einheit bewegen sich ruhig, beobachten, spähen. Sie wissen genau, worauf und auf wen sie achten müssen. Ihnen Fallen Personen auf, die „irgendwie nicht an diesen oder jenen Platz gehören“, ohne das genau begründen zu können. Personen, die sie innerhalb kurzer Zeit mehrfach am selben Ort sehen, ohne dass sich das durch Einkaufstätigkeiten erklären lassen könnte. Gruppen von Männern und Frauen, die sich nicht für die Auslagen interessieren, sondern deren Blicke sicher eher auf die Jacken, Taschen und Rucksäcke der Leute richten. Es ist viel Intuition mit im Spiel, aber sie liegen oft richtig. Ich sehe nur eine unförmige Menschenmasse, die sich über die Zeil wälzt. „Es dauert Jahre, bis man den geschulten Blick hat“, erklärt der Kommissar, „mittlerweile kann ich sogar die einzelnen Team-Mitglieder erkennen und wie sie sich mit Blicken verständigen.“ Die Taschen- und Trickdiebe arbeiten nur selten alleine. Fast immer sind es hochorganisierte Gruppierungen, die in verschiedenen Städten in verschiedenen Teams arbeiten. In der Regel hat ein Taschendieb-Team drei bis vier Mitglieder, den „Abdecker“, den „Blocker“, den „Zieher“ und den „Transporteur“.
Fast immer handelt es sich bei den Taschen- und Trickdieben um Mitglieder von Roma-Familien aus Rumänien oder Bulgarien. Eine Kommissarin, die mir erklärt, dass sie bis jetzt noch nie einen deutschen Taschendieb festgenommen hat, sieht mich ein wenig besorgt an. Die Befürchtung durch die Aussprache solcher Fakten als rassistisch zu gelten, ist bei vielen Polizisten vorhanden. Doch wie kann man die Realität zensieren?
Andere Nationalitäten haben sich auf sehr komplexe Diebstahlstechniken spezialisiert, zum Beispiel den „Jacke-Jacke-Tricke“. Er wird ausschließlich von Tätern aus einer bestimmten Region Algeriens benutzt, um in Cafés und Restaurants Geld und Wertsachen aus Manteltaschen zu stehlen, indem der Dieb durch den Ärmel seiner Jacke greift und mit verblüffender Nervenstärke in die Jacke seiner Tischnachbarn greift. Südamerikaner, meist Chilenen, haben sich auf Hoteldiebstähle und Taten am Flughafen spezialisiert.
Ich muss an meine Alt-68er-Eltern denken und dass sie zwar nicht die Nase rümpfen aber wahrscheinlich eine Augenbraue hochziehen würden, wenn sie wüßten, dass ich mit „Bullen“ unterwegs bin. Polizei und Militär standen bei ihnen nie besonders hoch im Kurs. Ich muss ihnen zugestehen, dass sie in ihrer Jugend sicherlich andere Erfahrungen mit der Polizei gemacht haben, die alles andere als angenehm waren, doch ich denke, dass sich die Dinge seitdem erheblich verändert haben.
Die Polizisten, mit denen ich unterwegs bin, haben keinen Oberlippenbart und ihnen steht auch nicht der Schäferhund und den Jägerzaun auf der Stirn geschrieben.
Sie gehören auch nicht zum Typ Polizisten, den man schon meterweit an seiner „Uniform“ erkennt, auch wenn er in Zivil arbeitet: Windjacke, Bauchtasche, billig-spießige Sportschuhe. Ganz im Gegenteil sind es äußerst freundliche, umgängliche und gut ausgebildete Menschen, die nach der ersten Skepsis ob meines Anliegens sehr offen und auskunftsfreudig sind. Bei ihnen herrscht kein Jagd- oder Bestrafungstrieb vor. Sie müssen mit einem sozialen Problem fertigwerden, das seit dem EU-Beitritt von Rumänien und Bulgarien und dem Wegfall der Visumpflicht gigantische Ausmaße angenommen hat.
Die Beamten erzählen Anekdoten von ihren Festnahmen: Diebe, die sich in den Haftzellen den Kopf gegen die Zellentür donnern, gefakte Ohnmachtsanfälle. Einer wand sich in einem vermeintlichen epileptischen Anfall auf dem Boden. Der Kommissar schaute ihn über den Schreibtischrand an und meinte trocken: „Komm, Junge, lass den Scheiß!“, woraufhin eine wundersame Spontanheilung eintrat und der Dieb sich wieder auf seinen Stuhl setzte.
Ich muss an einen Satz aus einem Buch von Andreas Altmann denken: „Wie so vielen ist mir eine gewisse Bewunderung für Kriminelle nicht fremd. Sie erinnern uns unter anderem daran, dass noch hitzigere Lebensträume existieren, als bei Wüstenrot zu unterschreiben und in einem Wüstenrot-Häuschen die Restzeit abzusitzen.“
Vor allem über den zweiten Satz, habe ich längere Zeit nachgedacht. Dieser Satz reizt einen und provoziert eine voreilige Zustimmung. Doch ist die Alternative zur Narkose in der Reihenhaussiedlung tatsächlich die Kriminalität? Ich weiß, dass AA den Satz mit dieser Aussage definitiv nicht so beabsichtigt hat. Doch ein gewisses Faszinosum bleibt bestehen. Warum?
Nachdem ich meine jugendliche Naivität doch schon eine Weile hinter mir gelassen habe, habe ich mittlerweile einen großen Widerwillen, jemanden Bewunderung entgegenzubringen, der die ihm von Mutter Natur geschenkten Talente und seine Intelligenz dazu nutzt, um anderen Menschen zu schaden – es sei denn er begeht die Tat aus großer Not und Bedrängnis. Doch ist das bei den rumänischen Armutsmigranten nicht auch teilweise der Fall? Ich muss mir eingestehen, dass ich zu wenig über die tatsächlichen Lebensbedingungen dieser Menschen weiß.
Plötzliche Aktivität hindert mich am weiteren Sinnieren. Das Kommando hat eine alte „Kundin“ entdeckt. Sie observieren sie, doch es passiert nichts. Entweder hat sie den Braten gerochen oder sie wollte selbst einfach nur Weihnachtsgeschenke einkaufen.