Vor fast drei Jahren habe ich in Le Monde einen Artikel von Ariane Chemin gelesen, an den ich immer wieder denken muss, so dass ich mich dazu entschlossen habe, ihn zu übersetzen.
Josephs Nadanowskas Mutter wurde nach Auschwitz deportiert, ohne dass er die Umstände noch seine Herkunft kannte, die ihm von der Öffentlichen Fürsorge verschwiegen wurden.
Joseph Nadanowska, das „verlassene Kind“ und die Mauer des Schweigens
Levallois-Perret, 15. Juni 1942. Trotz Krieg und Besatzung naht der Sommer. Die Schule ist bald zu Ende. Wie jeden Nachmittag wartet ein kleiner 4-jähriger Junge vor der Schule auf seine Mutter. Die Mutter von 28 Jahren mit lockigem, braunem Haar verspätet sich.
Man geht sie in dem ärmlichen Hotel an der Porte de Villiers suchen, das sie mit ihrem Kind bewohnt. Dies ist ihre letzte bekannte Anschrift, so wie in den schwarz-weiß-Filmen. Das möblierte Zimmer ist leer. Und bleibt es auch am nächsten und den darauffolgenden Tagen. Am 17. Juni bringt ein Wachtmeister den kleinen Jungen zur Avenue Denfert-Rochereau Nr. 74. Dort residiert das Heim für Kinderfürsorge, heute befindet sich dort das Krankenhaus Saint-Vincent-de-Paul. Der junge Schüler wird zum „verlassenen Kind“ erklärt, eines der Schilder, das man Mündeln der öffentlichen Fürsorge um den Hals hängte.
Dies könnte eine der traurigen Geschichten über verlassene Kinder sein, von denen es in Paris zwischen 1940 und der Befreiung 55.000 gab. Die Geschichte eines gewöhnlichen Waisenkindes und seines Anteils an intimem Leid, wie man sie schon seit Gründung der öffentlichen Fürsorge im Jahr 1849 aufgezeichnet hat.
Joseph Nadanowska wird bereits im Juli in das Département Saône-et-Loire geschickt. Ein ländliches Département, wie es das „Große Armenhaus“ so schätzt: man atmet frische Luft, die Bauern benötigen Arme und zusätzliche Erträge.
Mit neun Jahren wird der kleine Junge im Département Allier von einer zweiten Pflegefamilie aufgenommen. Eine unauffällige Schullaufbahn bis zum Abschluss. Die Eintragungen in seinem „Zöglingsheft“ bezeugen, dass der Junge „in den Pausen nicht spielt“ und „häufig allein in seiner Ecke bleibt.“ Doch sie beschreiben auch einen „sanften Jungen“, „einen guten kleinen Schüler“ und schließlich „einen ehrlichen und gewissenhaften jungen Mann.“ Joseph fehlt es an nichts, außer dass ihm jemand durch das Haar streichelt oder mit ihm kuschelt.
Als die Zeit des Militärdienstes kommt, ist er ein schöner Mann geworden: groß, kräftig und mit hellblauen Augen. Er wird Eisenbahner und heiratet 1969 in der Cathédrale des Moulins Monique, ein Mädchen aus der Gegend, angestellt bei der Krankenkasse der Auvergne. Sie ist seine einzige Familie, seine einzige Vertraute in der kinderlos gebliebenen Ehe.
„Mein Mann war sehr sensibel“, erzählt die kokette 65-jährige Dame. „Sobald ein Film lief, in dem ein Kind von seinen Eltern verlassen wurde, litt er.“ Von seiner Mutter erinnerte er sich nur daran, dass sie „sehr schöne Haare“ hatte, die ganz weich waren, und dass sie „lieb“ war. Er hat bis zum Schluss wissen wollen, warum sie ihn verlassen hatte. Ich sagte ihm: „Sie ist verschwunden und dann konnte sie dich nicht mehr zurückholen, weil sie nicht wusste, wo du warst.“ Im Krankenwagen, der ihn nach einem Schlaganfall, der ihn schließlich tötete, ins Krankenhaus fuhr, hat er nur diese drei Worte hervorgebracht: „Und meine Mutter?“
„Ein Schock“
Und Gott weiß, wie sehr er versucht hat, diese zerrissene Erinnerung wieder zusammenzufügen.
Noch vor seiner Volljährigkeit, während seines Militärdienstes in Algerien, schreibt er einen Brief an den Verantwortlichen der Vertretung der öffentlichen Fürsorge von Moulins: „Sehr geehrter Herr Direktor, hiermit möchte ich anfragen, ob es möglich wäre, bis zur Vollendung meines 21. Lebensjahres meine Herkunft und meine familiären Umstände zu kennen“, schreibt er am 4. Januar 1959, nachdem er seine Neujahrswünsche entboten hat, „wenn dies möglich sein sollte, bitte ich darum, mich hierüber zu informieren“, fährt er in seiner runden Schrift des fleißigen Schülers fort.
Die Antwort kommt fünf Tage später, zwar herzlich aber abschlägig: „Mein lieber Joseph, was Deine Eltern angeht, so weiß ich nicht das Geringste über sie, und selbst wenn ich es wüsste, dürfte ich es Dir nicht sagen. Sobald Du volljährig bist, übergebe ich Dir einen Herkunftsnachweis in welchem Dein Geburtsort steht“.
Mit 21 Jahren erfährt er, dass er im 10. Arrondissement von Paris das Licht der Welt erblickt hat, am 17. Januar 1938 von Szajndla Nadanowska und unbekannten Vaters. Bis zu seinem Tod hat er keine andere Antwort auf seine Briefe erhalten, keinen anderen Zusatz, um die weißen Seiten des Buchs seiner Mutter zu füllen.
Ohne „Manou“, so nannte Josephs Witwe ihren Mann, allein mit ihrem Kummer und er Langeweile setzt sich Monique an den Computer. Sie surft im Internet und gibt eines Tages den Namen „Szajndla Nadanowska“ in die Suchleiste bei Google ein. Ohne Resultat. Einige Monate später, im Jahr 2007, unternimmt sie eine virtuelle Reise durch den Louvre, als ein Link sie zum Mémorial der Shoah leitet, dem Gedenkort des Genozids an den Juden Frankreichs.
„Ich hatte darüber eine Reportage gesehen zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Ich wusste nichts darüber, mein Mann und ich gingen nie nach Paris.“
Ohne wirklich darüber nachzudenken, gibt sie erneut den Namen der Mutter ihres Mannes in die Suchleiste der Seite für die Opfer der Vernichtungslager ein. Und da, urplötzlich, erscheint ein Treffer: „geboren am 15.06.1914 in OSTROWICZ, deportiert mit Transport Nr. 3 am 22.06.1942 nach Auschwitz.“
„Ich starrte wieder und wieder auf den Bildschirm. Unmöglich, wiederholte ich. Ein Schock. Die Mutter meines Mannes war deportiert worden und er ist gestorben, ohne es zu wissen. Warum haben sie es ihm nicht gesagt? Warum haben sie es ihm verheimlicht? Dann hätte er gewusst, dass er nicht verlassen wurde. Ich wiederholte das, ohne mich zu rühren. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.“
Sie fragt ihren Bruder um Rat, ein Kriegsveteran und Verantwortlicher des André-Maginot-Verbands im Département Allier, sie kontaktiert die jüdische Gemeinde von Vichy, die sie an den Vorsitzenden der Vereinigung der Söhne und Töchter der jüdischen Deportierten Frankreichs verweist. Am Telefon erzählt sie Serge Klarsfeld ihre Geschichte. „Das ist jemand, den ich nie vergessen werde. Er hat mich zu weiteren Recherchen ermuntert.“
Und so beginnt für sie ein neues Kapitel in diesem Herkunftsroman, den ihr Mann nie hatte schreiben können.
„Derselbe Mund, dieselben Lippen, dieselben hellen Augen“
Nach einigem Zieren der Behörden (das Archiv der öffentlichen Fürsorge untersteht heute dem Pariser Rathaus), darf Monique endlich, dank des Einflusses von Serge Klarsfeld, die kostbare Akte des „Zöglings Joseph Nadanowska“ einsehen. Überraschend: nichts ist über die Gründe des Verschwindens seiner Mutter vermerkt. Eine Aktennotiz vom 17. Juni 1942 vermerkt: „polnische Nationalität, Jüdin“. Eine Vorstellung, die der kleine Katholik, der mit 11 Jahren in der Kirche von Gannay-sur-Loire aus Anlass seiner feierlichen Kommunion getauft worden war, niemals für möglich gehalten hätte.
„Der Nachname ist polnisch, ihr Vorname ist jedoch typisch jüdisch“, seufzt Serge Klarsfeld. Josephs Wirrungen sind jedoch auch solche der „Unkenntnis, die Geschichte eines Jungen aus der Provinz, der sehr früh die Schule verlassen hat“, beklagt der Historiker. Eines Landes, in dem in der Nachkriegszeit die Verfolgung der jüdischen Franzosen totgeschwiegen wird. „Die Geschichte seiner Mutter kann man erahnen“, fährt der Anwalt der Deportierten fort, „Szajndla Nadanowska trug wahrscheinlich nicht ihren gelben Stern“, den zu tragen die deutschen Besatzungsbehörden ab dem 7. Juni 1942 für alle Juden über 6 Jahren zur Pflicht gemacht hatten. Josephs Mutter wurde in der Nähe der Gare Saint-Lazare auf der Straße festgenommen, wie so oft vor der großen Razzia des Vel’d’Hiv.
„Zunächst war Josephs Mutter in der Caserne des Tourelles inhaftiert und wurde dann mit dem berüchtigten Transport Nr. 3 von Drancy deportiert“, erzählt Klarsfeld. „Sie war Teil der ersten 66 jüdischen Frauen, die in das Vernichtungslager Auschwitz gebracht wurden. Zugespitzt kann man sagen“, führt der Historiker aus, „dass Joseph Glück im Unglück hatte: einige Tage später wurden bei Razzien 4.000 Kinder nach Pithivier oder Beaune-la-Rolande verschleppt“, diesen Transitlagern im Loiret, in denen die Kinder in Massen geparkt wurden, bevor sie mit Transporten deportiert wurden.
Doch Monique will noch mehr: ein Foto der Verschwunden, Szajndla. Wie viele „Mündel“ hat Joseph nie ein Bild von sich als Kind besessen. Niemand hat daran gedacht, ihn zu fotografieren, ihn, der kein Geld für das Klassenfoto hatte.
Wenn sie doch nur den Lauf der Geschichte abwenden könnte und das unscharfe Bild des 11-jährigen Joseph, das sie von einem Gruppenbild, von einem ehemaligen Klassenkamerad überlassen, vergrößert hatte, neben das Bild seiner Mutter kleben könnte.
In den Archiven der Polizeipräfektur findet sie schließlich das Objekt ihrer fieberhaften Suche: zwei Lichtbilder, die der Akte beigefügt sind: eine Frontalaufnahme und eine im Profil, aufgenommen nach ihrer Ankunft in Frankreich 1936 oder 1937.
„Wenn Sie wüssten! Derselbe Mund, dieselben Lippen, dieselben hellen Augen wie mein Mann… Es fällt mir immer schwer, sie anzusehen, denn ich stelle mir diese Frau im Transport vor, ihr Kind zurückgelassen, ganz allein in Paris…“
Eine „Beleidigung des Andenkens“
Serge Klarsfeld fordert im Jahr 2010 eine andere Entschädigung. „Es lag nicht unbedingt Böswilligkeit von Seiten der öffentlichen Fürsorge vor, aber zumindest Nachlässigkeit“, erklärt er. Joseph hatte die Zuerkennung des Status als staatliche Kriegswaise erhalten können. Er hätte Entschädigungszahlungen erhalten, hätte keinen Wehrdienst leisten müssen… Er hätte glücklich mit dem Bild seiner Mutter als einer Märtyrerin leben können.“ Die Generaldirektion der öffentlichen Fürsorge (Assistance Publique – Hôpitaux de Paris, AP-HP) antwortet ihm im Jahr 2011, dass sie einer Öffnung der Archive und einer historischen Erforschung wohlwollend gegenübersteht, aber eine Anerkennung eines „Schadens“ ablehnt. Die AP-HP holt ein paar Details aus den Ermittlungen von Juni 1942 hervor, die zur Akte des Kindes hinzugefügt wurden: der „abstoßende Schmutz“ des möblierten Zimmers, der Ruf als „Prostitutionsetablissement“, der dem Hotel anhing… wäre es für Joseph Nadanowska nicht zu „schmerzhaft“ gewesen, diese Eindrücke in seiner Akte zu lesen?, argumentiert die Einrichtung.
Dies sei „eine schreckliche Beleidigung des Andenkens“ der jungen, mittellosen Polin, erwidert zornig der Historiker der Shoah. Wie könne man nur einem Polizeiprotokoll im besetzten Paris des Jahres 1942 auch nur irgendeinen Glauben schenken?
Im Jahr 2014 nimmt er erneut Kontakt zu dem neuen Generaldirektor der AP-HP, Martin Hirsch, auf, der sich dazu entschließt, einen Bericht über diese „Kinder jüdischer Konfession, die von der öffentlichen Fürsorge zwischen 1940 und 1944 in Obhut genommen worden waren“ zu finanzieren.
„184 Minderjährige wurden in den Archiven identifiziert“, berichtet der Historiker Antoine Rivière, Spezialist für das Thema verlassene Kinder, der diese Pionierforschungen über den blinden Fleck sowohl der Geschichte der Shoah als auch der öffentlichen Fürsorge koordiniert hat.
Unter ihnen wurde „ein Drittel nach der Deportation ihrer Eltern in Obhut genommen wie Joseph, andere wegen der Armut oder des Hungers oft noch verschärft aufgrund der antisemitischen Maßnahmen der Vichy-Regierung. Andere schließlich scheinen in Obhut genommen worden zu sein, um sie zu beschützen.“
Bei der öffentlichen Fürsorge werden keine Unterschiede gemacht, alle tragen die gleiche Bluse und eine Nummer. „Die jüdischen Kinder sind Kinder der Fürsorge geworden. Und folglich wurden sie eher geschützt, ohne dass dies das Ergebnis abgestimmter Initiativen gewesen wäre.“
Die Forschungsergebnisse sollen am 21. Januar 2016 während einer Zeremonie im Innenhof der AP-HP veröffentlicht werden, Avenue Victoria, gegenüber dem Hôtel de Ville, wo eine Tafel enthüllt werden soll, auf der im Detail der „erlittene Schaden“ erläutert wird. „Joseph Nadanowska hat sich an der Mauer des Schweigens die Zähne ausgebissen, die zwischen ihm und seiner deportierten Mutter zu errichten die öffentliche Fürsorge für notwendig hielt“, erklärt Martin Hirsch. „Es ist daher nur gerecht, wenn die Mauer der AP-HP sein Andenken in Ehren hält, leider in posthumer Weise.“
In goldenen Lettern in grauen Marmor graviert entbietet die französische Institution ihr „Mea culpa“ Joseph Nadanowska, jenem Mann, der nie herausgefunden hat, warum seine Mutter ihn am 15. Juni 1942 nicht von der Schule abgeholt hat.