Ich bin immer erst mal skeptisch, wenn mir intellektuelle Eierköpfe irgendwas von „Skandalregisseur“ erzählen oder mir einen Schriftsteller oder Regisseur als „Provokateur“ oder „Enfant terrible“ verkaufen wollen.
In den seltensten Fällen hält dieses Etikett nämlich das, was es verspricht. Was vermeintlich als skandalträchtig und ungeheuerlich angepriesen wird, stellt sich dann als banal um nicht zu sagen belanglos heraus.
Manchmal frage ich mich, ob diese Kulturhirnis eigentlich Filme wie „Die 120 Tage von Sodom“ oder „Der Nachtportier“ gesehen haben. Diese Filme sind „krass“ und die Regisseure „kontrovers“.
Diese Gedanken hatte ich, als mir der Name Gaspar Noé mehrfach in der Radiosendung „Xinemascope“ über den Weg lief. Immer wenn ich Donnerstag abends zum Thaiboxtraining fahre, läuft zur gleichen Zeit das Kinomagazin auf Radio X.
Hier konnte das Urteil nicht vorschnell abtun, denn wenn die Moderatoren von Xinemascope Filme rezensieren, hat das meistens Hand und Fuß. Bei meinen Fahrten zum Training habe ich durch die Sendung eine Menge guter Filmtips bekommen und Perlen entdeckt, wie die absurden Filme von Giorgos Lanthimos oder die sehr interessante Sendung über die italienischen Gialli.
In Einzelfällen haben sich manche Filme, deren Besprechung sich interessant angehört hat, als vollkommene Rohrkrepierer erwiesen, wie zum Beispiel The Duke of Burgundy. Der letzte Schrottfilm. Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass ich „Kunstscheiße“ nicht ertragen kann?
In dieser Sendung jedenfalls wurde mehrmals Gaspar Noé, Kind politischer Flüchtlinge aus Argentinien mit Philosophieabschluss, mit den außergewöhnlichsten Adjektiven erwähnt. Grund für mich, mir die Filme dieses Wunderknaben einmal anzuschauen.
In den vergangenen Monaten habe ich mir sein Opus Magnum angeschaut. Als großer Freund starker Eindrücke, schmutziger Gedanken und dreckiger Witze bin ich bei ihm wirklich gut auf meine Kosten gekommen. Seine Entwicklung verläuft zum Schluss hin leider etwas enttäuschend.
- „Carne“ (1991)
In dem 40-minütigen Kurzfilm „Carne“ tastet sich Noé an die Themen heran, die die erste Hälfte seines Schaffens dominieren: Einsamkeit, Zorn, Sex, Gewalt. Von der Bildsprache her erinnert mich der Film ein wenig an „Delicatessen“ von Jean-Pierre Jeunet, der im selben Jahr gedreht wurde.
In einer nüchternen und klaren Bildsprache mit harten Schnitten erzählt Noé die Geschichte eines namenlosen Pferdemetzgers (Philippe Nahon), der eine einfache Existenz ohne Höhepunkte lebt. Er lernt eine Frau kennen, die er schwängert und die ihn nach der Geburt des Kindes sitzenlässt. Cynthia, seine Tochter, die kein Wort spricht und zurückgeblieben wirkt, ist das einzige Wesen, für das er sich verantwortlich fühlt und vielleicht sogar liebt, die er allerdings bis ins jugendliche Alter badet und wäscht. Als sie eines Tages ihre Periode bekommt, verdächtigt er einen Arbeiter, sie vergewaltigt zu haben und verletzt einen Unbeteiligten mit dem Messer schwer.
Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis muss er feststellen, dass in seine Pferdemetzgerei ein Halal-Schlachter eingezogen ist. Seine Tochter ist in einer Einrichtung untergebracht, wo er sie nicht besuchen darf. Er verschwindet mit der Besitzerin eines Cafés nach Nordfrankreich.
Ich habe auf Youtube nur die französische Version mit spanischen Untertiteln gefunden.
Warnung an die Zartbesaiteten: harte Szene einer Pferdeschlachtung am Anfang!
2. „Menschenfeind“ (1998)
Der Film setzt nahtlos dort an, wo „Carne“ sieben Jahre zuvor geendet hatte. Und interessanterweise sind die Schauspieler in diesem Zeitraum auf wundersame Weise nicht gealtert.
Der Pferdemetzger lebt mit der Cafébesitzerin bei deren Mutter im Norden und wird von den beiden Frauen gegängelt. Er erträgt seine Existenz nicht mehr und flüchtet zurück nach Paris, wo er versucht, wieder als Pferdemetzger Fuß zu fassen und seine Tochter aus dem Heim zu holen.
Noé verfeinert die charakteristischen Elemente seines Stils weiter: die abrupten Schnitte und die akustischen Verfremdungseffekte.
Er vertieft das zuvor entwickelte Thema, vor allem durch die Stilform langer innerer Monologe, in denen der Metzger sein verpfuschtes Leben reflektiert und sich immer mehr in einen Hass auf alles und jeden hineinsteigert.
Ich finde den deutschen Titel irreführend und ungenau, denn er suggeriert, dass der Protagonist ein mürrischer, unfreundlicher Misanthrop ist, der an seinem miesen Charakter und an sich selbst scheitert.
Der Originaltitel „Seul contre tous“ (Allein gegen alle) drückt besser den Geisteszustand eines Mannes aus, der sich aufgrund der Umstände und schlechter Entscheidungen in eine Situation hineinmanövriert hat, in der er nicht mehr viele Optionen hat.
Aus heutiger Sicht könnte man den Pferdemetzger als „Wutbürger“ avant la lettre bezeichnen. Er verkörpert ziemlich genau den deklassierten, weißen, mittelalten Mann aus der Arbeiterklasse, aus dem sich das Wählerreservoir aller Populisten unserer Tage speist.
Es ist interessant aus dem Zeitabstand von zwanzig Jahren darüber nachzudenken, dass dieser Archetyp des zornigen, weißen Mannes damals als bemitleidenswerte Witzfigur und Pechvogel galt, während er heute als Masse ein unkalkulierbarer Faktor unvorhersehbarer politischer Entwicklungen ist.
Stimmungsvoll setzt Noé sein Habitat aus miesen Hotels und heruntergekommenen Bars im Nordosten von Paris, wo die Ränder der Stadt schon in die Vorstädte übergehen, in Szene.
Mit fortschreitenden Misserfolgen steigert sich der Pferdemetzger in seinen Hass und seine Ressentiments gegen Araber, Reiche, Schwule und Frauen hinein.
Ich muss gestehen, dass mir so mancher Gedankengang auch selbst bekannt vorkommt. Jeder kennt diese Tage, wenn man schon mit Massakerlaune aufwacht und einen einfach alles ankotzt. Irgendwann kann man seine Emotionen wieder kontrollieren und wird wieder zu einem ausgeglichenen, produktiven und nützlichen Mitglied der Gesellschaft.
Doch Noé lässt seinen Protagonisten mit derselben entschlossenen und mitleidlosen Grausamkeit untergehen wie Michel Houellebecq seine Figuren.
Stellenweise musste ich auch lachen angesichts der grotesken und demütigenden Situationen, in denen Noé seine Hauptfigur immer weiter in die Scheiße tunkt.
Philippe Nahon ist die klägliche, französische Version von Travis Bickle, der sich in seinem miesen Hotelzimmer vorstellt, wie er seine Beleidiger mit seiner dreischüssigen Pistole zur Rechenschaft zieht.
Alles in allem ein guter Film: hart, zynisch, böse und ohne Happy End.
Als ich mit der Arbeit an diesem Artikel begonnen hatte, war der Film in der deutschen Fassung noch auf Youtube zu finden. Jetzt ist er weg. Vielleicht vom Channelinhaber gelöscht oder vom Rechteinhaber. Sobald er wieder verfügbar ist, verlinke ich ihn.
Hier zunächst einmal die OmspanU-Version:
3. „Sodomites“ (1998)
Ebenfalls 1998 drehte Noé noch den Kurzfilm „Sodomites“. Hauptdarsteller sind die Pornodarsteller Coralie Trinh Thi und Marc Barrow. Der alte Halunke Philippe Nahon ist natürlich auch, diesmal als Statist, mit von der Partie.
Ein Werk, das gewissermaßen den Übergang zu den kommenden Filmen weist. Ein orgiastischer Reigen mit schnellen Schnitten, der eine Analsexszene zeigt und, wenn ich es richtig verstanden habe, eine etwas eigenwillige Aufforderung zum Kondomgebrauch darstellen soll.
4. „Irréversible“ (2002)
Bei seinem zweiten Langfilm steht Noé an einem Scheideweg. Der Film weist Elemente der ersten Schaffensphase auf: die Härte und den Zynismus, vor allem dreht er verdammt stark an der Gewaltspirale.
Andererseits weist er schon auf das neue Stadium hin: die experimentelle Phase. Er verlässt die klare, nüchterne Bildsprache und die chronologische Erzählung.
Am Anfang finden wir wieder unseren guten Freund, den Pferdemetzger, der innerhalb von vier Jahren nun plötzlich doch sichtlich gealtert ist, und in einem Hotelzimmer mit einem anderen Vogel in irgendein pseudo-philosophisches Geschwafel vertieft ist.
Doch nach dieser Einleitung wird der Zuschauer in einen Strudel aus hektischen, gewalttätigen Bildern und beklemmender Musik gestürzt. Die Kamera taumelt und irrlichtert durch einen in rotes Zwielicht getauchten Schwulenclub („Le Rectum“). Zwei Männer sind mit einem gewissen Nachdruck auf der Suche nach einem „El Tenia“, dem vermutlich ziemlicher Ärger bevorsteht.
Der bewusst aggressive und gleichzeitig chaotische Einstieg irritiert zunächst, erst nach den ersten Szenen wird klar, dass der Film rückwärts erzählt wird.
Dem Zuschauer wird nach und nach klar, was geschehen ist: Alex (Monica Bellucci) ist mit ihrem Ex-Freund, dem zurückhaltenden Pierre (Albert Dupontel) und ihrem aktuellen Freund, dem extrovertierten Marcus (Vincent Cassel) zu einer Party gefahren. Die beiden Männer kommen trotz der etwas aparten Konstellation gut miteinander aus.
Auf der Party dreht Marcus immer mehr auf, und Alex, die von seinem Verhalten genervt ist, verlässt die Party, um nach Hause zu gehen.
Mit etwas Bangen wartet man dann auf die spezielle Szene, für die dieser Film mittlerweile berühmt ist, und ihm anscheinend das Prädikat „most walked-out-of movie of the year“ eingebracht hat: eine unglaublich brutale und endlos erscheinende Vergewaltigungsszene.
Insgeheim habe ich den Verdacht, dass dieser Film als „Festival-Schocker“ konzipiert wurde, also mit dem Ziel das Festivalpublikum in Cannes oder in Venedig zu schocken, „épater le bourgeois“ gewissermaßen, und nebenbei seine Tricks und Effekte vorzuführen, die der „gewöhnliche“ Zuschauer nicht registriert, aber Insider interessant finden, wie beispielsweise die Fahrt mit dem chinesischen Taxifahrer, bei der Kamera schnell vom Innenraum nach außen und umgekehrt wechselt.
Hier kommt auch schon Noés zuvor schon angedeutete Vorliebe für das Zeigen von primären männlichen Geschlechtsmerkmalen zum Vorschein. Noé selbst hat einen sekundenlangen Cameo-Auftritt als wichsender Typ im Schwulenclub „Rectum“.
Die Story ist zwar nicht wirklich komplex und elaboriert, doch ist sie rasant und actiongeladen erzählt, auch wenn der Film zwangsläufig zum Ende hin abflacht und immer ruhiger wird, da aufgrund der verkehrten Chronologie die heftigen Szenen am Anfang des Films liegen.
Noé hat es für diesen Film geschafft, hochkarätige Schauspieler zu engagieren, was dem Film definitiv nicht schadet.
Vincent Cassel kann hier sein immenses – und meiner Meinung nach unterschätztes – schauspielerisches Repertoire abrufen : vom jungen, selbstsicheren Liebhaber über den aufgedrehten Partygänger zum hasserfüllten, entfesselten Racheengel. In dem Film hat er noch die jungenhafte Statur von Vinz aus „La haine“ (1995), was mich schockierend daran erinnert, wieviel Zeit schon seit diesem Film vergangen ist.
Albert Dupontel, der in Frankreich als Komiker bekannt ist, wurde gegen den Strich besetzt, und er hat die Herausforderung mit Bravour gemeistert. Vor allem aber Monica Bellucci hat die Vergewaltigungsszene vermutlich alles an schauspielerischem Können abverlangt. Für mich große Leistungen von allen Darstellern.
Die große Frage ist natürlich: was wollte der Meister damit sagen?
Meine Deutung ist, dass jeder zum Tier werden kann, wenn man ihn dazu treibt. Denn es ist der zurückhaltende Pierre, der dem vermeintlichen Vergewaltiger mit einem Feuerlöscher den Schädel zerschmettert.
Auf Youtube ist nichts zu dem Film zu finden. Wahrscheinlich ist er für Youtube zu brutal und zu extrem.
Mir hat er jedenfalls gut gefallen.
5. „Enter the void“ (2009)
Mit „Enter the void“ lässt Noé sein Universum aus Zynismus, Härte und Misanthropie hinter sich. Der Film steht in einem kompletten Kontrast zu den vorherigen Filmen.
Die Story ist schnell erzählt: Die Waisenkinder Oscar und Linda werden nach dem Unfalltod ihrer Eltern getrennt und von unterschiedlichen Pflegeeltern aufgezogen.
Jahre später lebt Oscar in Tokio, wo er ausgiebig Drogen konsumiert und verkauft. Als er genug Geld hat, holt er seine Schwester (gespielt von Paz de la Huerta, bekannt aus der Serie „Boardwalk Empire“ mit Steve Buscemi) zu sich nach Tokio, wo sie als Stripteasetänzerin arbeitet.
Oscar wird von Polizisten der Drogenfahndung in einer Toilette erschossen. Sein Geist verlässt seinen Körper und schwebt über der Stadt.
Es ist der Film, der mich von allen am wenigsten gefesselt hat. Er ist mit mehr als zweieinhalb Stunden sehr lang und in völligem Kontrast zu den vorherigen Filmen in unglaublich langen Einstellungen gedreht.
Noé ergeht sich in opulenten, aufwendigen Kamerafahrten und ich habe auch hier den Verdacht, dass es wieder ein Film sein soll, mit dem die Kollegen der Zunft beeindruckt werden sollen.
Aber ich muss zugeben, dass der Film faszinierende, visuelle Bilderwelten auf technisch höchsten Niveau bietet, wie eine interessante Kamerafahrt durch die Schusswunde oder die Umsetzung psychedelischer Bilder, nachdem der Protagonist DMT geraucht hat. (Den Hauptdarsteller sieht man übrigens bis auf zwei kurze Sequenzen nur von hinten oder überhaupt nicht).
Etwas anstrengend sind die sich wiederholenden Übergänge mit einem Epilepsie triggerndem Flackern. Die pornographischen Szenen am Ende weisen schon auf das Thema seines nächsten Films, „Love“, hin.
Der Film ging nicht so wirklich an mich ran. Komischerweise ist dieser Film auf Youtube im Stream zu finden.
Bon visionnage!
6. „Love“ (2015)
Bei „Love“ wird einem frappierend klar, welchen Weg Noé als Regisseur seit „Carne“ im Jahr 1991 zurückgelegt hat. Er geht den Weg weiter, den er schon in „Enter the void“ eingeschlagen hat, aber er geht noch eine Umdrehung weiter: sein Film besteht zu nicht unerheblichen Anteilen aus expliziten pornographischen Szenen.
Hier bedient sich Noé wieder unbekannter Schauspieler, wobei die Hauptrolle der Electra von der als Model mit der markanten Zahnlücke bekannten Aomi Muyock gespielt wird.
Der junge Amerikaner Murphy will in Paris Film studieren und ein bedeutender Regisseur werden. In der Malerin Electra findet er seine Seelenverwandte. Gemeinsam mit ihr lebt er seine sexuellen Phantasien aus. Sie wollen sich gegenseitig Freiheiten gewähren, ihren sexuellen Horizont erweitern und ihre Grenzen austesten.
Trotz ihrer Beteuerungen, sich niemals gegenseitig einzuengen, kommt es doch immer wieder zu Streit und Eifersucht.
Sie probieren mit ihrer attraktiven Wohnungsnachbarin einen Dreier aus. Als Murphy die Nachbarin nochmals heimlich allein trifft, schwängert er sie und wird von seiner Freundin Electra verlassen.
Auch hier wird in Rückblenden erzählt, wie Murphy seinen Sohn Gaspar mit der ungeliebten Frau aufzieht, die ihrerseits genau spürt, dass sie niemals von Murphy so geliebt werden wird wie Electra.
Der Film wurde von der Kritik größtenteils vernichtet. Angefangen mit dem Vorwurf, er sei schon so größenwahnsinnig, dass er dem Kind im Film seinen Vornamen gebe über die flachen Dialoge.
Ich komme nicht zu einem derart harten Urteil, denn auf eine gewisse Weise finde ich, dass wer schon einmal schlimmen Liebeskummer hatte, die Gefühle von Murphy und Electra nachempfinden kann.
Gewiss, die Dialoge sind eher flach, aber reproduzieren sie nicht, was alle verliebten 20-jährigen einander sagen? Untermalt von sphärischer Ambientmusik von Brian Eno, den Goldberg Variationen oder kitschigen Gitarrenstücken wie „Maggot Brain“ von Funkadelic (kitschig, aber doch schön; auf jeden Fall schon lange nicht mehr gehört), schwören sie sich ihre Liebe, fragen nach dem Sinn des Lebens und versprechen sich, immer zusammenzubleiben und sich nie zu verlassen.
Die pornographischen Sexszenen verstellen den Blick auf das darunterliegende Thema: die Fragilität zwischenmenschlicher Beziehungen und den Verlust einer Liebe, wie sie ein Mensch – wenn überhaupt – nur einmal im Leben erleben kann, und das ist unglaublich traurig und schmerzhaft anzusehen.
Vielleicht auch, dass offene Beziehungen – oder polyamore oder wie der aktuelle politisch-korrekte Terminus auch immer lautet – , nur in Ausnahmefällen funktionieren.
Murphy hat am Schluss das bekommen, was er um jeden Preis vermeiden wollte: eine spießige Beziehung in einer aufgeräumten Wohnung, und er muss Verantwortung für ein Kind übernehmen, das er mit einer Frau gezeugt hat, die er nicht liebt.
Der Film hat mich mehr berührt als „Enter the void“. Eine Frage kann ich mir allerdings nicht verkneifen zu stellen: wie waren wohl die Dreharbeiten für die Schauspieler, die an sich keine professionellen Pornodarsteller sind?
7. „Climax“ (2018)
Zum Zeitpunkt des Schreibens war „Climax“ noch nicht im Kino und auch noch nicht im Stream verfügbar. Es wird nachberichtet.
Mittlerweile habe ich nun auch „Climax“ gesehen. Gaspar Noé schaltet im Vergleich zu den letzten Filmen mehrere Gänge zurück. Keine Pornographie mehr, keine exzessive Gewalt.
Tjo, was soll man dazu sagen? Es wird jedenfalls nicht besser. Die Story: eine Gruppe von Tänzern verbringt den Abend vor dem Abflug in die USA, wo sie eine Show tanzen sollen, in einem verlassenen Schulhaus. Es ist Winter und das Schulhaus scheint abgeschieden gelegen zu sein.
Im Verlauf des Abends sind einige Tänzer davon überzeugt, dass die Sangria mit Drogen oder Gift versetzt wurde und die Gruppe beginnt sich zu zerfleischen. Am Ende sind einige Mitglieder der Tanztruppe tot oder schwer verletzt. Bis zum Schluss wird nicht klar, ob die Sangria tatsächlich vergiftet war oder ob die Raserei nur die Konsequenz einer paranoiden Gruppendynamik gewesen ist.
Noé beschäftigt sich in diesem Film erneut mit seinem allübergreifenden Thema Beziehungen und menschliche Verbindungen und genauer mit der Frage nach dem Recht zum „Besitz“ an einer Person innerhalb einer Beziehung, seien es Partner einer Liebes- oder sexuellen Beziehung oder in der Eltern-Kind-Beziehung.
Noé garniert den Film mit seinen beliebten Aphorismen, die wie bei Stummfilmen in Form von Parolen in den Film eingestreut sind. Der Film enthält eine Widmung, die zu Beginn proklamiert wird: „À ceux qui nous ont faits et qui ne sont plus“ (Denjenigen, die uns gemacht (geschaffen) haben und die nun nicht mehr sind).
Vielleicht soll auch ein Gegensatz konstruiert werden zwischen dem Ort, der Schule, mit seiner Symbolik von Ordnung, Disziplin und Gehorsam und der chaotischen Gruppendynamik, die in einer urzeitlichen Orgie endet.
Ich fand diesen Film persönlich am schlechtesten: der schwachen Story, den dürftigen Schauspielleistungen und den nervigen Dialogen konnte ich diesmal nichts abgewinnen.
Vielleicht war aber auch die hintersinnige Intention des Films, die Verlogenheit der überspannten und über-neurotischen pseudo-progressiven Kreise zu zeigen, mit ihren Septum-Piercings, schmal-goldenen Schlaumeierbrillen und zur Schau gestellten non-binär-gender-fluiden Attitüden, die schlagartig in Gewalt umschlagen, wenn man sich nicht umfassend den absurden, ubuesken Codes und ungeschriebenen Gesetzen unterwirft.
Ich habe mich jedenfalls gelangweilt. Alle zehn Minuten habe ich auf der Zeitleiste nachgesehen, wann der Film endlich vorbei ist.
Das einzig Gute an dem Film ist der Soundtrack aus 80er und 90er Jahre House und Techno.
Das Elaborat könnt ihr hier anschauen.
Fazit:
Wenn man ein 25 Jahre umfassendes Filmwerk betrachtet, dann sieht man die Entwicklung eines Regisseurs bis heute, man erkennt seinen Stil und seine Handschrift, man setzt es zur eigenen vergangenen Zeit und seinen Erfahrungen in Relation.
Interessant ist, dass bei Gaspar Noé in fast 30 Jahren eine wirkliche Evolution in seinem Schaffen stattgefunden hat. Seine neuesten Filme haben mit denen, die er zu Beginn gedreht hat nicht mehr das geringste gemein.
Allerdings gefallen mir seine ersten Filme sowohl thematisch als auch stilistisch besser, als seine aktuellen Filme, bei denen er sich in langatmigen, bombastischen Kamerafahrten verliert. Ich habe mich aber überwiegend gut unterhalten gefühlt.
Argentinische Philosophen, in der Regel langhaarig, kommen am besten weg als kettenrauchende Fußballtrainer.
„Die Welt der Utopien ist gestorben. Wir leben in einer Nützlichkeitsgesellschaft, und da ist der Fußball zur Welt der großen Geschäfte verdammt. In der dritten Welt nimmt man den Menschen das Brot, in den Industrienationen stiehlt man ihnen die Träume. (Menotti)