Jüngst sind mir im Halbschlaf an einem dieser diesigen Dezembermorgen lange, bevor es richtig hell wird, Satzfragmente aus einem Artikel eingefallen, den ich als Kind im „Spiegel“ gelesen hatte.
Mein Gedächtnis hatte mich nicht getäuscht und die Suchfunktion beim „Spiegel“ ist wirklich phänomenal (auch wenn dieses Magazin qualitativ abgestürzt ist, bin ich dankbar, dass er alle alten Artikel ohne Bezahlschranke zur Verfügung stellt), so dass ich nach kurzer Suche den Artikel von Marie-Luise Scherer über den nicht aufgeklärten Tod der Ingrid Rogge, deren skelettierte Leiche auf dem Dachboden eines Hauses in der Waldemarstr. 33 gefunden wurde, fand. Tiefes, alternatives Kreuzberg. Damals fest in der Hand der Autonomen.
Es ist ein Artikel aus der großen Zeit des „Spiegel“, der damals seinen Reportern noch fast zwanzig kostbare Heftseiten für eine Reportage spendierte.
Auch mit dem Abstand von mehr als dreißig Jahren übt der Schreibstil Marie-Luise Scherers seinen Bann aus. Man merkt, dass es ihr nicht um einen Scoop als solchen ging und auch nicht um die Aufklärung des Verbrechens, sondern eher um eine geduldige und präzise Milieustudie ging. Die Reportage war, wenn man der Ankündigung im vorderen Heftteil glauben schenkt, alles andere als einfach, war sie doch gezwungen bisweilen vor einer Tracht Prügel zu flüchten, da ihre Recherchen in Kreuzberg überhaupt nicht gern gesehen waren.
Es lohnt sich auf jeden Fall, eine oder auch zwei Stunden zu investieren und in die untergegangene Welt der Mauerstadt Berlin und das Soziotop von Kreuzberg einzutauchen. Es ist auch zu empfehlen, den als PDF gescannten Artikel zu lesen, der mit vielen interessanten Fotos illustriert ist.
Viel Vergnügen!
Update Dezember 2022: Marie-Luise Scherer ist am 17.12.2022 verstorben. Hier ein Link zur Todesnachricht mit mehreren Links zu ihren Reportagen.
Der unheimliche Ort Berlin
Das Kottbusser Tor ist kein Ort, an dem die Leute in Übergangsmänteln herumlaufen, wenn der Winter vorbei ist. Das bißchen Sonne im April legte gleich die Oberarmtätowierungen der Punker frei. Die türkischen Männer hielten nicht mehr frierend das Jackett vor der Brust zusammen und gingen wieder aufrecht. Die Wärme hatte jedes Verhalten gelockert. Die Punker kippten die Bierdosen in ihre struppigen Köpfe hinein, bespritzten einander und bewarfen sich mit Schaum. Sie tänzelten um ein kopulierendes Hundepaar, das unsicher auf sechs Pfoten stand und dabei dreist zu lächeln schien. Keine besonderen Vorkommnisse, keine schockierten Personen, um den Milieudarstellern den Genuß noch zu erhöhen, eher ein schräger Frieden, der sich sogar auf die lauernde Anwesenheit des Polizeiautos legte. Zum Bürgersteig hin waren seine Türen geöffnet, als würde ein dunkler Stall gelüftet.
Um 17.30 Uhr ist in der Oranienstraße/Ecke Heinrichplatz kein Durchkommen mehr. Auf beiden Bürgersteigen engstehende Menschen wie “63 vorm „Kranzler“ in Erwartung Kennedys. Der Örtlichkeit Kreuzberg entsprechend, sind es fast nur Türken und die kugelköpfigen Knaben. Aus dem vierten Stock der Nummer 19 hat sich ein Mann gestürzt. Er liegt unter einer weißen Plane neben einer Baukarre. Die Sohlen seiner nicht ganz bedeckten Schuhe zeigen mit den Spitzen zueinander, und die Absätze sind so gewaltsam flach nach außen gedrückt, als gebe es eine Symmetrie des Aufpralls. Nur ein Polizist ist zur Stelle. Wenn er mit ausgebreiteten Armen die Nachdrängenden aufhalten will, wendet er das Wort „bitte“ als eine dem Anlaß zukommende Befehlsform an. Eine Gruppe von Punkern überzeugt ihn, den Toten gekannt zu haben, mit ihm eng gewesen zu sein. Er läßt sie zum Tatort durch, was sich zu einem obszönen Privileg auswächst.
Alle Augen sind jetzt auf sie gerichtet. Der Umstand, den Mittelpunkt zu bilden, fordert ihnen eine Aufführung ab. Einer schlägt schluchzend auf die Kühlerhaube eines Autos ein. Sie lassen eine Weinflasche kreisen, aus der sie mit hart in den Nacken gelegten Köpfen trinken. Sie fallen sich in die Arme, lachen, weinen und torkeln. Da es sich um Auswüchse von Trauer zu handeln scheint, fehlt dem Polizisten jede Handhabe, dem Geschehen eine Manierlichkeit zu sichern.
Aus der anfangs starren Menge sind inzwischen Schaulustige geworden. Die polizeilich geduldete Nähe der Punker zu dem Selbstmörder muß eine Entsprechung in dessen eben beendetem Leben haben. Das Fenster, aus dem er sprang, wirkt nicht, als habe er ein behagliches Zuhause verlassen. Er muß direkt am Schaufenster des türkischen Friseurs entlang gefallen sein. Daneben, auf der Tür des Haupteingangs, steht in gesprühter Schrift „Hoch hänge Reagan!“ Erste Angaben zur Person des Toten kursieren: 18 sei er gewesen, weißblonde Irokesenbürste, Punker.
Mitten auf der Kreuzung Heinrichplatz/Oranienstraße steht ein grüngrauer, tresorhaft kompakter Lieferwagen, dessen auffälliger Abstand zum Brennpunkt allen Interesses ihn gerade dadurch zugehörig macht. Daneben halten sich zwei Männer in weißen Jacken und weißen Hosen auf. Obwohl das Auto keine behördlichen Embleme trägt und äußerlich weder Herkunft noch Bestimmung preisgeben soll, wird seine Anwesenheit hier wie eine geläufige Pointe aufgenommen, die fast echolos wegsackt: Es ist der Transporter des Leichenschauhauses.
Die Menschen warten auf das Tätigwerden dieser weißen Männer, die endlich vor die Unglücksstelle fahren und beim Aussteigen schon Gummihandschuhe tragen. Über den abgedeckten Hügel breiten sie noch eine durchsichtige Folie, die sie unter der Leiche durchziehen und dann an beiden Enden zusammendrehen, was dem Bündel das Aussehen eines großen Bonbons gibt. Die betrunkenen Punker mißbilligen diesen Vorgang mit einem aufjubelnden Wehklagen. Den Zuschauern, die fast wütend vor Neugier sind, bleibt nur noch der Augenblick, in dem die Männer den Toten auf die Bahre heben, ohne ihn in die eigentlich geziemende Rückenlage zu bringen. Ein Skateboardfahrer in getigerter Trikothose, ein Hosenbein aufgeschlitzt und flatternd, nutzt für sich noch schnell das große Publikum und fährt enge, hart abgebremste Achterfiguren auf der gesperrten Straße.
Aus der Tiefe der zugerümpelten Höfe des Hauses Nummer 19 tritt ein Mann mit einem Eimer, aus dem er Erde auf den Bluthaufen neben der Baukarre streut. An Ort und Stelle wetteifern jetzt die intimsten Augenzeugen mit ihren Nacherzählungen. Der türkische Friseur spricht von dem rasenden Schatten, den er sah. Und in seinem grauen Kittel, mit den Armen einen Sturzflug nachvollziehend, sagt der türkische Gemüsehändler: „Es war ein Deutscher!“, was den Vorfall exotisch macht.
Donnerwetter, das ist ja schon weit mehr als nur eine Reportage; das ist geradezu ein Feature, das ich mir verfilmt und optisch gut im Fernsehen vorstellen kann, so bildreich ist ihre Schilderung!
Ich halte Marie-Luise Scherer für eine der ganz großen Reporterinnen, die dieses Land hervorgebracht hat. Aber ihre Arbeitsweise wäre heute aus der Zeit gefallen, in der heutigen Medienwelt zählt nur Schnelligkeit und Information (im Gegensatz zu Verstehen).
Ich bezweifle auch stark, dass die jüngere Generation an Journalisten diese zahlreichen Bezüge und Assoziationen herstellen könnte, die Scherers Texte zu einem dichten und plastischen Leseerlebnis machen.
Ach, früher war alles besser.
*seufz*
Danke für die Entdeckung einer Reporterin/Schriftstellerin, die ich bisher noch nicht kannte!
Das Spiegel-Archiv ist wirklich toll. Ich stoße bei Recherchen manchmal auf Artikel daraus und finde sie oft richtig bissig und witzig. Ich erinnere mich jetzt wieder an das Gefühl, das man nach dem Durcharbeiten eines Spiegel-Heftes (von dem man in den 1980ern länger zehren konnte als von dem dünnen und dabei noch reich bebilderten Heftchen heute) hatte, nämlich das Gefühl, Einblicke in versteckte Winkel bekommen zu haben und mehr von der Welt zu verstehen. Vor allem für mich als behütetes Provinzkind waren die Einblicke oft erhellend wie schockierend.
Ich bekomme richtig Lust, mal wieder ein paar alte Hefte aus der Bibliothek zu holen oder, wenn es sich nicht anders lösen läßt, marktwirtschaftlich zu erwerben, und nicht nur in Nostalgie, sondern auch in zeitlosen Reportagen zu schwelgen.
Tempi passati 😉
Ich bin zwar in Multikulti-Frankfurt aufgewachsen mit seinem Anteil an bunten Figuren, Freaks und Spinnern, aber Berlin zu Mauerzeiten war nochmal eine eigene Hausnummer.
Einzelne Reportagen von Marie-Luise Scherer sind übrigens in Buchform erschienen, wie ich gesehen habe.
Ich wollte auch schon längst Deine Reihe über den Königsweg fertiggelesen haben, aber mir fehlen noch ein paar Teile.
Kein Problem, der Weg läuft ja nicht weg.
Und bei den Wittelsbachern tut sich sicher auch nichts Neues, die sind ja nicht mehr so nervig unterwegs wie die Hohenzollern.