Es ist fast sechs Jahre her, dass fast die gesamte Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo von zwei islamistischen Terroristen, den beiden Brüdern Kouachi, mit Kalaschnikows ausgelöscht wurde. Einen Tag nach dem Massaker tötete Amédy Coulibaly vier Kunden eines koscheren Supermarkts an der Porte de Vincennes in Paris.
Im Sommer diesen Jahres begann unter den besonderen Bedingungen der Corona-Pandemie der Prozess gegen 14 Personen aus dem Umfeld der drei Attentäter, denen ein unterschiedlicher Beteiligungsgrad bei den Taten vorgeworfen wurde.
Es handelte sich hierbei um Personen, denen Anstiftung, das Beschaffen und Transportieren von Waffen oder Fahrzeugen, das Bereitstellen von Wohnungen und teilweise auch die Bildung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen wurde.
Das Gericht hat sich die Entscheidung nicht leicht gemacht, nicht zuletzt in die Schranken gewiesen von einer kämpferischen und konfrontativen Verteidigerriege.
Es wurden letztendlich alle Angeklagten verurteilt. Die Strafen gingen von Lebenslänglich für Coulibalys Mentor Mohamed Belhoucine, 30 Jahren für Coulibalys Lebensgefährtin Hayat Boumedienne, die beide in Abwesenheit verurteilt wurden. Die niedrigste Strafe betrug vier Jahre.
War aus meiner Sicht der Anlass des Verfahrens trotz seiner Grauenhaftigkeit schon absurd genug, nämlich dass tatsächlich im 21. Jahrhundert Menschen ermordet werden, weil sie zugegeben brachiale Witze über Religionen machten, gab es dennoch einige Lichtblicke.
Einer davon war das Plädoyer des Anwalts von Charlie Hebdo, der die Zeitung als Nebenklägerin vertrat.
Der Anwalt heißt Richard Malka und sein Erkennungsmerkmal ist, dass er im Gegensatz zu den polternden Schwergewichten seines Fachs sehr leise und stets mit einem schlauen Lächeln auftritt, als würde er sich an einen guten Witz erinnern.

Er ist 52 Jahre alt und hat doch schon fast 30 Jahre Berufserfahrung auf dem Buckel. Seine ersten Schritte als Berufsanfänger machte er in der Kanzlei des großen Georges Kiejman.
Nach den in allen Ländern Europas ähnlichen Regeln der Strafprozessordnung dürfen nach dem Schluss der Beweisaufnahme zunächst die Vertreter der Nebenklage plädieren, danach die Staatsanwaltschaft und zum Schluss die Verteidigung.
Malka nutzte seinen Schlussvortrag nicht wie es Nebenklägervertreter gewöhnlich tun, indem sie versuchen, die Staatsanwaltschaft zu übertrumpfen. Er würdigte keine Beweismittel, die diesen oder jenen Angeklagten überführen könnten. Er beschäftige sich noch nicht einmal mit einzelnen Angeklagten, die ohnehin nicht direkt auf den Abzug gedrückt hatten.
Er beschäftigt sich vielmehr mit der Geschichte der Zeitschrift „Charlie Hebdo“ und ihrer kulturellen und gesellschaftlichen Bedeutung.
Ein sehr starkes Plädoyer, das unterstreicht, dass er völlig zu Recht einen Platz in der Reihe der ganz Großen hat. Auch wenn ich oft genug mit meinem Beruf hadere, bin ich in diesem Fall stolz, ihn meinen „Kollegen“ nennen zu dürfen.
Hier ist eine Übersetzung des Plädoyers:
„Der Zeitablauf, die Verzögerungen, die Unterbrechungen und Vertagungen der Verhandlungen, die Ausfälle und Entgleisungen Einzelner, all das kann nichts an der Tiefe unseres Kummers ändern. Kummer darüber, der Intelligenz, des Talents und der Güte derer beraubt zu sein, die nicht mehr unter uns weilen.
Also sucht man nach einem Sinn. Es ist die einzige Art und Weise das zu ertragen. Den Sinn dessen, was geschehen ist. Den Sinn dieses Prozesses.
Er war episch, tragisch, turbulent. Er hat den Zorn der Welt heraufbeschworen. Er war von Attentaten überschattet. Er hat uns die erschütternden Berichte der Opfer offenbart und hat sich in den Erklärungsansätzen der Angeklagten verloren.
Sein Sinn ist natürlich und zu allererst, über die Angeklagten zu urteilen. Er dient dem Beweis, dass Recht vor Gewalt geht. All das ist schon außerordentlich und in jedem anderen Prozess wäre das ausreichend.
Aber nicht hier. Nicht angesichts der verübten Verbrechen. Die Attentate im Hyper Cacher und bei Charlie sind nicht bloß einfache Verbrechen. Sie habe eine politische, philosophische, metaphysische Tragweite. Sie laufen auf dieselbe Idee hinaus, sie haben dasselbe Ziel.
Wenn Coulibaly Juden tötet, dann tötet er nicht einfach Juden, er tötet den „anderen“. Charlie Hebdo ist auch das „andere“. Der Sinn dieser Verbrechen ist die Vernichtung des anderen, des Unterschieds. Wenn wir dem nichts entgegensetzen, sind wir nur den halben Weg gegangen.
Dieses Gericht hat nicht den Zweck, die Freiheit und die Andersartigkeit zu schützen. Doch genau so, wie dieser Prozess in zwei Abschnitte gegliedert war – zunächst in den der Opfer und dann den der Angeklagten – muss man akzeptieren, dass es zwei Prozesse in einem gibt. Den der Angeklagten und den der Ideen, die ermordet werden sollten. Die berühmten „republikanischen Werte“, die erschüttert wurden. Diese Verbrechen waren keine gewöhnlichen Verbrechen und dieser Prozess kann kein gewöhnlicher Prozess wie alle anderen sein. Er muss seine symbolische Dimension würdigen. Und meine Aufgabe, als Anwalt von Charlie Hebdo als juristischer Person wird sein, diesen zweiten Aspekt herauszustellen.
Ich plädiere nicht für die Geschichte. Ich habe mit der Geschichte nichts zu schaffen. Ich will für heute plädieren, nicht für morgen. Für die Menschen im Hier und Jetzt, nicht für die Historiker in der Zukunft. Die Zukunft ist wie der Himmel, sie ist virtuell.
Es ist an uns, und an uns alleine, sich zu engagieren, nachzudenken und manchmal Risiken einzugehen, um die Freiheit zu bewahren, zu sein, wer wir sein wollen. Es ist an uns, an uns alleine, die Worte zu finden, sie auszusprechen, um den Klang der Messer unter unseren Kehlen zu übertönen.
Es ist an uns zu lachen, zu zeichnen, uns unserer Freiheiten zu erfreuen im Angesicht von Fanatikern, die uns ihre Welt aus Neurosen und Frustrationen aufzwingen wollen.
Es ist an uns zu kämpfen, um frei zu bleiben. Darum geht es heute hier.
Sie hassen unsere Freiheiten
Frei zu bleiben, das bedeutet zu sagen, was man will, ohne mit dem Tod bedroht, mit Kalaschnikows niedergeschossen oder enthauptet zu werden.
Allerdings ist das heute nicht mehr der Fall in unserem Land.
Während des Prozesses wurde ein Lehrer geköpft. Während des Prozesses wurde in einer Kirche getötet. Man hat in der rue Nicolas Appert [Anmerkungen: ehemaliger Sitz von Charlie Hebdo] Menschen schwer verletzt. Es wurden mehrere Drohbotschaften versandt, darunter eine von Al Qaida.
Die Botschaft dieser Terroristen ist klar. Sie sagen uns: eure Worte, euer Aufgebrachtsein bringen nichts. Wir werden euch weiter töten. Eure Richter, eure Prozesse sind nutzlos. Eure Gesetze sind Witze, wir gehorchen nur denen des Himmels.
Sie sagen uns, dass wir auf unsere Freiheiten verzichten sollen, weil ein Messer oder ein Hackbeil stärker sind als 67 Millionen Franzosen, eine Armee, die Polizei. Es ist die Waffe der Angst, die eingesetzt wird, um uns dazu zu bringen, eine Lebensart aufzugeben, die in Jahrhunderten geschaffen wurde.
Und natürlich wird das weder bei Karikaturen aufhören noch bei der Meinungsfreiheit. Sie hassen unsere Freiheiten. Sie werden nicht aufhören, weil wir eines der wenigen Völker auf der Welt sind, die einen Universalismus tragen, der sich dem ihren entgegensetzt.
Wie sind wir dahin gekommen?
Was ist das für ein neuer Krieg, in dem sich Zeichner mit ihren Stiften, Lehrer mit ihren Tafeln, mit Kalaschnikows und Schlachtwerkzeugen bewaffneten Fanatikern gegenüberstehen?
Durch welche Wirrniss von Ideen, Reden und Irrungen sind wir dahin gekommen, dass zum ersten Mal in der westlichen Welt nach dem Kriegsende eine Zeitung ausgelöscht wurde, bevor sie sich in einen Bunker mit geheimer Adresse zurückziehen musste? Wer hat das Krokodil gefüttert, in der Hoffnung als letzter gefressen zu werden?
Denn es ist immer dieselbe Geschichte: wenn man mit der Angst konfrontiert ist, wählen einige den Weg des Paktierens.
Die Geschichte, die ich Ihnen erzählen werde, ist unser aller Geschichte. Sie ist zum Teil, meine Herren, diejenige, die sie hier auf die Anklagebank gebracht hat, so dass ich hoffe, dass sie auf Ihr Interesse treffen wird.
Der Countdown begann in Amsterdam am 2. November 2004. Theo van Gogh war ein unsympathischer Journalist und Regisseur. Im Jahr 2004 hat er „Submission“ gedreht, um die Unterwerfung der Frau im Islam anzuprangern.
Am 2. November 2004 wird er auf der Straße von einem jungen Islamisten takfirischer Neigung (einer Unter-Strömung des Salafismus) auf der Straße niedergeschossen. Danach schlitzt dieser ihm die Kehle auf und sticht ihm zwei Messer in den Oberkörper. Auf einem Messer steht eine kleine Todesdrohung gegen die Juden geschrieben. Das ist die Matrix von 2015 und ihrer beiden Obsessionen: die Meinungsfreiheit und der Antisemitismus.
Schwindel und Mystifizierung
Im Nachgang zu diesem Attentat will ein anderer Schriftsteller, ein Däne diesmal, ein Buch über das Leben Mohammeds schreiben, und zwar mit einem pädagogischen Anspruch für ein jugendliches Publikum.
Er sucht einen Illustrator. Alle lehnen ab. Die Angst hat schon gewonnen. Am 12. September 2005 schreibt er einen Artikel in der Zeitung, um die Selbstzensur anzuprangern, wenn es um den Islam geht.
Flemming Rose, Chefredakteur des Kulturteils der Jyllands Posten, eines gemäßigt konservativen Blattes, dem bei uns der Figaro entsprechen würde, fragt bei der Gewerkschaft der dänischen Karikaturisten an, wie sie Mohammed darstellen würde. Am 20. September 2005 wurden die Karikaturen veröffentlicht. Zwei Monate lang passiert nicht viel.
Dieser Vorgang erreicht ihr wirkliches Ausmaß erst durch eine Täuschungshandlung. Sie wurde von dänischen Imamen begangen, die der Bewegung der Muslimbrüder angehörten, hauptsächlich Salafisten. Im Dezember 2005 unternahmen die Imame eine Reise in die arabischen Hauptstädte, um die islamischen Staaten gegen die bösen islamophoben Dänen zu mobilisieren. Und um dies zu belegen, stellten sie ein Dossier zusammen, das die Karikaturen enthielt. Dieses Dossier haben wir uns beschafft.
Das Problem war, dass diesem Dossier drei Karikaturen hinzugefügt worden waren, die vorher nicht da waren [Me Richard Malka zeigt sie]. Zwei von ihnen stammen von einer Homepage gemeingefährlicher, amerikanischer, weißer Suprematisten. Eine andere kommt aus Frankreich, sie hat nichts mit dem Islam zu tun, es ist eine Zeichnung für das Fest des Schweins in Tulle im Département Corrèze. Und die Imame sagen: „Seht, wie der Islam im Westen dargestellt wird.“ Und natürlich kommt es aufgrund dieses Schwindels, dieser Mystifizierung, zu einem Flächenbrand.
Es gibt Demonstrationen, Tote, Fahnen werden verbrannt. Sie haben das Feuer entzündet und beschuldigen uns der Brandstiftung?
Ja, es ist hart von fanatischen Idioten geliebt zu werden, aber es ist noch trauriger, von Betrügern instrumentalisiert zu werden!

Dann kommt der Zeitpunkt der politischen Instrumentalisierung. Im Januar 2006 ruft die sehr offizielle Organisation der Islamischen Konferenz, der 57 Länder angehören, die UNO an und fordert sie auf, alle Länder dazu zu verpflichten, die Kritik an Religionen zu verbieten.
Dies ist die Methode, mit der versucht wurde, mithilfe einer Täuschung, das globale Recht der Meinungsfreiheit abzuändern.
Und ab hier beginnen wir, das Krokodil zu füttern. Am 3. Februar 2006 ruft Scheich Al-Qaradawi, geistlicher Führer der Muslimbrüder, einen „Tag des Zorns“ aus.
Am selben Tag erklären Jacques Chirac, Bill Clinton und UNO-Generalsekretär Kofi Annan, dass die „Zeitungen durch die Veröffentlichung der Karikaturen die Meinungsfreiheit missbraucht“ hätten und rufen zu einem größeren Respekt gegenüber religiösen Gefühlen auf.
Die Welt ist vor dem Obskurantismus eingeknickt
Soweit ist es gekommen: Die Welt ist vor dem Obskurantismus eingeknickt, die Wahrheit wurde von einer Lüge überdeckt. Und diejenigen, die unsere Freiheiten hassen, haben das Blut unserer Demokratien geleckt und das hat ihnen Appetit gemacht. Das Manöver des Al-Qaradawi hatte perfekt funktioniert.
Diese Geschichte der Karikaturen muss man kennen. Man muss sie wiederholen, muss sie lehren.
[Derkanadische Premierminister] Trudeau, kennt er diese Geschichte, er der uns Lektionen über eine gütliche Einigung während des Prozesses gibt? Der [türkische] Präsident Erdogan, der uns Lektionen in Antirassismus erteilt, kennt er diese Geschichte? Wissen sie, dass all dies nicht durch uns verbrochen wurde?
Doch das Getriebe der Maschine stockt. Die politische Manipulation wird nicht vollendet. France Soir wird die Karikaturen in Frankreich veröffentlichen, sein Herausgeber [Jacques Lefranc] wird fristlos entlassen und Charlie Hebdo wird die Karikaturen übernehmen und aus Solidarität veröffentlichen.
Im Jahr 2007 werden wir von der UOIF [Union des organisations islamiques de France] und von der Pariser Moschee verklagt, wir gewinnen den Prozess.
Besser gesagt, wir glaubten, dass wir ihn gewonnen hätten. In Wahrheit hatten wir überhaupt nichts gewonnen.
Etwas muss man noch wissen: Die Welt denkt, der Prozess der Karikaturen habe in Frankreich stattgefunden. Der erste Prozess hat in Dänemark stattgefunden. Mit demselben Ergebnis. Aber er hat niemanden interessiert. Und warum? Weil Frankreich eine besondere Geschichte hat. Weil es das erste Land auf der Welt ist, das den Blasphemieparagraphen aus dem Strafgesetzbuch gestrichen hat. Es war im Jahr 1791. Demselben Jahr, in dem das Dekret über die Gleichstellung der Juden erlassen wurde. Ich weiß nicht warum, aber diese beiden Fragen sind immer verbunden, im Guten wie im Schlechten.
Die Geschichte der Blasphemie in Frankreich, ich will sie ihnen erzählen. Im Jahr 1789 wird die Meinungsfreiheit als kostbarstes Menschenrecht ausgerufen. Zwei Jahre später wird der Gotteslästerungsparagraph aus dem Strafgesetzbuch entfernt.
Im Jahr 1881 wird das Gesetz über die Pressefreiheit verabschiedet. Die Debatten im Parlament sind turbulent und es ist verblüffend zu erkennen, wie sehr sie sich auf die heutigen Themen beziehen: Zeichnungen und Religion. Es scheint fast so als hätte Charlie Hebdo damals schon existiert! „Gott kann sich sehr gut selbst verteidigen, er benötigt hierfür nicht die Abgeordnetenkammer!“, erwiderte Clémenceau dem Bischof von Angers, der die Beleidigung der empörten Katholiken ins Feld führt.
Nun, sehen Sie, wie haben keine Wahl. Auf die freie Religionskritik zu verzichten, auf die Mohammed-Karikaturen zu verzichten, dies würde bedeuten, auf unsere Geschichte zu verzichten, auf die Enzyklopädie, auf die fundamentalen Prinzipien unserer Republik [Anmerkungen: Malka zitiert hier die „Grandes Lois de la République“, es handelt sich hier um mehrere wegweisende Gesetze, die Rechtsprinzipien definierten, wie die Abschaffung der Sklaverei, die Presse- und Meinungsfreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und die Verankerung der Laizität in der Verfassung].
Ein Verzicht auf die Abstammungslehre, darauf dass der Mensch vom Affen und nicht von einem Traum abstammt [Anmerkung: ein Wortspiel. „renoncer à enseigner que l’homme descend du singe et pas d’un songe »; man könnte hier « songe » auch mit Hirngespinst übersetzen]. Ein Verzicht auf die Gleichheit von Mann und Frau, die nicht die Hälfte des Mannes ist, auf die Gleichheit der Homosexuellen, während seltsamerweise in 72 Ländern der Erde, denselben oder zumindest fast, in denen noch ein Blasphemieverbot gilt, Homosexualität eine Abscheulichkeit ist.
Man kann nicht eine Religion von der Gleichheit ausnehmen
Es wäre ein Verzicht auf den unbeugsamen menschlichen Willen zur Freiheit, um stattdessen in Ketten zu leben. Es wäre ein Verzicht auf dieses wunderbare Recht, auf Gott zu scheißen, Herr Vorsitzender. Charlie Hebdo kann darauf nicht verzichten und wir verzichten darauf niemals, niemals, niemals! Das ist es, was Charlie Hebdo ausmacht. Es ist unser Recht, von den Gerichten bestätigt. Und über unsere nationalen Gerichte hinaus vom EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) der hunderte von Millionen von Menschen bindet und nichts anderes sagt.
Wie sollen wir denn den Islam davon ausklammern? Soll man ihn aus dem republikanischen Pakt ausschließen? Sollen wir sagen, nein, es soll eine einzige Religion geben, die eine Vorzugsbehandlung bekommen soll und die man nicht karikieren darf und dass diese Religion der Islam sein soll? Das ist nicht möglich. Der Kampf von Charlie Hebdo ist auch ein Kampf um die Banalisierung des Islam. Es ist ein Kampf darum, dass man diese Religion wie alle anderen betrachtet und behandelt. Und hier eine Ausnahme zu machen, wäre definitiv der schlechteste Dienst, den man ihr erweisen könnte.
Man kann eine Religion nicht von der Gleichheit ausnehmen.
Die Religionen müssen Gegenstand von Satire sein und, um Salman Rushdie zu zitieren, „unseres unerschrockenen Mangels an Respekt“.
Man wirft uns Karikaturen der Religionen vor. Aber in Wirklichkeit haben wir solche nie gemacht. Es ist nicht wahr. Alle Karikaturen, von denen wir gesprochen haben, sind keine Karikaturen der Religionen, es sind Karikaturen des religiösen Fanatismus, Invasion der Religion in die politische Welt.
Ich komme also zu Charlie, die ich in ihrer Eigenschaft als juristische Person vertrete. Im Jahr 1960 sind wir im biederen Frankreich des General de Gaulle. Cavanna begegnet Choron. Sie beschließen, eine neuartige, bahnbrechende Zeitung zu machen, um die Sitten aufzumischen, eine Zeitung, die fast ausschließlich aus Zeichnungen bestand, sie hieß damals Hara-Kiri. Der Slogan dieser Zeitung lautete zu Beginn: „Wenn die sie nicht kaufen kannst, klau sie!“ Cabu stößt zu ihnen, dann Gébé, Topor, Wolinski, Reiser. 1970 kam das Verbot.
Am 1. November gab es einen Brand mit 146 Toten in einer Diskothek. Am 9. November stirbt General de Gaulle. Und am 16. November titelt Hara-Kiri: „Bal tragique à Colombey, un mort ». Dies gefiel dem damaligen Innenminister Raymond Marcellin überhaupt nicht, der seine Bekanntheit in der Nachwelt nur dieser Tatsache zu verdanken hat. Hara-Kiri wird verboten.
Damals gab es eine Monatszeitschrift, „Charlie Mensuel“, die von Wolinski geleitet wurde. Es wurde beschlossen, daraus eine wöchentliche Ausgabe zu machen. Das Fundament der Existenz von Charlie ist also die Zensur seines Vorläufers. Und die erste Ausgabe wird der Zensur gewidmet. Es ist die DNA dieser Zeitung.
„Charlie Hebdo“, ein Symbol!
Es kommt 1981, die Linke ist an der Macht. Dem Zeitgeist ist nicht mehr nach Transgression, die Verkaufszahlen brechen ein. Es gibt eine Auszeit von zehn Jahren. 1992 bildet sich das Team unter dem Herausgeber Philippe Val neu. Cabu, Wolinski, Gébé, Cavanna und der Sänger Renaud beschließen, Charlie Hebdo neu aufzulegen, dies ist die Erscheinungsweise, die Sie heute kennen.
Ich erinnere mich daran, wie ich die Gründungsverträge der Zeitung der Zeitung entwarf – vermutlich sehr schlecht; ich war 23 Jahre alt.
Durch eine traurige Ironie der Geschichte hatten ihre Schöpfer die herausgebende Gesellschaft dieser Zeitung „Société Kalachnikov“ genannt.
Unter der Leitung von Philippe Val wurde diese Zeitung zu einer wahren Talentschmiede, in der sich junge und alte Talente mischten: Siné, Joann Sfar, Jul, Riad Sattouf, Catherine Meurisse, Fourest, Corcuff, Polac, Cavanna, Gébé und so viele andere sind durch diese Schule gegangen.
Es wurde eine Zeitung von unglaublichem Reichtum. Es gab Krisen, Zerwürfnisse und Psychodramen, es gab ihrer so viele, dass ich sie nicht mehr zählen kann. Aber es gab einen Punkt, auf den sich alle immer einigen konnten: die Meinungsfreiheit, die freie Religionskritik, nicht der Menschen aufgrund ihrer Religion, das ist etwas anderes, das ist Rassismus oder Antisemitismus. Aber die freie Kritik der Ideen, der Meinungen und Weltanschauungen.
Und dann kam das Attentat. Und doch hält diese Zeitung das Lachen am Leben und auch diese Zeitung lebt weiter. Sie lebt in einem Bunker, aber sie lebt. Sie lebt umgeben von Polizisten, aber sie lebt. Sie lebt mit Mitarbeitern, die sich nicht mehr mir ihren Ehepartner und ihren Kindern bewegen können, aber sie lebt.
Sie lebt mit Drohungen, sie lebt mit den Toten und Verletzten, sie lebt mit tausend Schwierigkeiten, sie lebt dank ihrer Leser, sie lebt dank dieser wunderbaren Banalität des Guten, sie lebt dank der Hilfe all der Anonymen, die jeden Tag zu Hilfe kommen, sie lebt dank derer, die hier in diesem Gerichtssaal ausgesagt haben und die sehr viel intensiver und tiefer leben als wir selbst.
Sie könnten uns töten, doch das würde nichts nützen, denn Charlie ist zu einer Idee geworden. Und wenn Charlie heute verschwände, würde diese Idee weiterleben. Man kann eine Idee nicht töten, man braucht es gar nicht erst zu versuchen. Ihr habt aus Charlie Hebdo ein Symbol gemacht. Ihr habt eine Idee daraus gemacht. Man kann sie nicht mehr töten!
Es gab einen Erkenntnisprozess
Dieser Prozess war ein vorzüglicher Beschleuniger der Geschichte. Während dieses Prozesses ist in diesem Land ein republikanischer Islam gewachsen. Mit neuen Stimmen. Ich denke dabei insbesondere an den Rektor der Großen Moschee von Paris [Chems-Eddine Hafiz], der einst mein Widersacher war, da er im Jahr 2006 zum Zeitpunkt des Prozesses der Mohammed-Karikaturen Anwalt war und der heute wunderbare und mutige Worte findet, was allerdings dazu geführt hat, dass er nun selbst auch bedroht wird. Er sagt, dass man das Recht zu karikieren akzeptieren muss und es ist wichtig, dass er das sagt.
Die politischen Botschaften sind auch nicht mehr dieselben. Sie haben sich weiterentwickelt. Es gibt sehr viel weniger Islamophobie-Beschuldigungen. Die Dinge bewegen sich, es findet eine Bewusstwerdung und ein Erkenntnisprozess statt. Dieser Prozess hat dazu beigetragen und ist in diesem Sinne historisch gewesen.
Mögen diese drei Monate tragisch und schwierig gewesen sein, solange sie einen Nutzen hatten. Auf dass wir unsere Träume nicht verlieren, auf dass wir unsere Ideale nicht verlieren, dass wir unserer Geschichte nicht den Rücken zukehren, auf dass wir nicht die Generation sind, die die Geschichte aufgibt, die ich Ihnen erzählt habe, die ihre Träume aufgegeben hat, ihre Ideale, ihren Traum von Freiheit und Meinungsfreiheit.“
Es wird Zeit die Karikaturen auf Klopapier zu drucken.
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