Schaurige Tropen

Französisch-Guyana ist landschaftlich weder besonders reizvoll noch bietet es besonders viel Abwechslung. Im Grunde ist dieser Landstrich der hergebrachten Vorstellung von menschlichem Wohlbefinden vollständig entgegengesetzt. Er ist vollständig von tropischem Regenwald bedeckt mit seinem unvermeidlichen feindseligen Getier und seinen tödlichen Krankheiten. Dazu ein Klima, in dem sich Hitze und Trockenheit mit sintflutartigen Regenfällen abwechseln.

Eingezwängt zwischen Surinam (dem niederländischen Guyana) und dem brasilianischen Bundesstaat Amapa (dem portugiesischen Guyana), wobei es noch etwas nördlicher westlicher das (britische) Guyana gibt (nun alles klar?), erstaunt es, dass dieses Territorium zur europäischen Union gehört.

Das französische Überseedepartement ist heute nur für zwei Dinge bekannt, die jedoch nicht ganz unwichtig sind: das Raumfahrtzentrum in Kourou, wo die europäische Weltraumorganisation ESA ihre Raketen starten lässt, um „Fernmeldesatelliten“ in ihre Umlaufbahn zu bringen.

Ferner gibt es dort eine hohe Dichte an militärischen Einrichtungen, von denen die bedeutendste der Stützpunkt des 3. Infanterie Fremdenregiments (3e REI) der französischen Fremdenlegion ist. Der Standort ist mit Bedacht gewählt, unterstreicht er doch Frankreichs noch aus Zeiten als Kolonialmacht stammendes Einflußstreben in Südamerika. Zum anderen bietet der menschenfeindliche Regenwald perfekte Ausgangsbedingungen, um dort den Dschungelkampf zu trainieren.

Jedes Jahr erscheinen dort Offiziersanwärter der Militärhochschule Saint-Cyr und Kandidaten aus aller Herren Länder, um den äußerst anspruchsvollen und kräftezehrenden „Jaguar“-Lehrgang am CEFE (Centre d’entraînement à la forêt équatoriale) zu absolvieren, wobei es den Legionären eine reine Freude ist, die Grünschnäbel zu schleifen.

Die menschenfeindliche Wildnis hatte jedoch vor nicht allzu langer Zeit, nämlich vor knapp hundert Jahren, noch aus einem anderen Grund einen schrecklichen Beiklang.

Es beherbergte das letzte europäische Bagno, also ein Straflager und gleichzeitig Verbannungsort. Frankreich deportierte dorthin seine Schwerverbrecher, um sie hart zu strafen und auch das feindliche Land zu kolonisieren. Bei selber Gelegenheit entsorgte es die Verbrecher fern des europäischen Kontinents.

Der Journalist Albert Londres hat das Straflager 1923 im Rahmen einer Reportage für die Zeitung „Le Petit Parisien“ besucht.

Es ist eine spannende und schön zu lesende Reportage, weil Londres gegenüber den Sträflingen und Verbrechern zu Menschlichkeit und Empathie fähig ist, ohne zu urteilen. Nur dort, wo ihn die menschenuwürdigen Umstände empören, blitzt sein Zorn hervor.

Man kann sich die Frage stellen, warum manche Mörder auf dem Schafott endeten (von dem die französische Justiz damals großzügigen Gebrauch machte), manche jedoch ihren Kopf retten und dafür Straflager aufgebrummt bekamen. Vermutlich lag es an einem smarten Verteidiger, der überzeugend mildernde Umstände darlegen konnte. Es bleibt allerdings zu bezweifeln, ob Cayenne wirklich die mildere Strafe war. Im Volksmund wurde das Straflager nämlich „guillotine sèche“ (trockene Guillotine) genannt. Besonders in den ersten Jahren war die Todesrate unter den Sträflingen exorbitant hoch.

Noch heute wird der Ausdruck „Jemanden nach Cayenne schicken“ in Frankreich benutzt, wenn man jemandem eine harte Strafe wünscht. 

Doch das eigentliche Straflager befand sich nicht in Cayenne, dem Verwaltungssitz des Départements, sondern auf drei der Küste vorgelagerten Inseln, die wie noch kein Ort auf der Welt so schlecht ihren Namen tragen:  Îles du Salut (Heilsinseln).

Londres begegnet dort den berühmten Verbannten, mit Ausnahme des wahrscheinlich berühmtesten: Alfred Dreyfus, der von 1895 bis 1899 auf der Teufelsinsel schmachtete, bis er rehabilitiert wurde.

Ansonsten sind sie alle da, die Mörder und Schwerverbrecher, tatsächliche Hochverräter wie Ullmo (im Gegensatz zu Dreyfus), „gefährliche Elemente“ wie die Anarchisten Eugène Dieudonné oder Paul Roussenq, Angehörige von brutalen Straßenbanden (den „Apaches“), die in der Belle Époque die Straßen von Paris und Umgebung unsicher machten, kriminelle Soldaten, die selbst für die Strafbataillone in Afrika, den berüchtigten „Bataillons d’Afrique“ oder „Bat d’Af“ nicht mehr tragbar waren. Dorthin wurden Schwerverbrecher zur „Bewährung“ geschickt, um an den Grenzen des afrikanischen Kolonialreichs skrupellos Aufstände widerspenstiger Berberstämme niederzuschlagen. Ein äußerst düsteres Kapitel der französischen Kolonialgeschichte.

Die damals berühmt-berüchtigten Verbrecher, die die französische Bevölkerung kannte, wie die Mitglieder der Remmos oder Abou-Chakers, sind heute längst vergessen. In Erinnerung geblieben ist das Lager durch das literarische Denkmal „Papillon“von Henri Charrière, der zu Straflager und lebenslanger Verbannung verurteilt worden war, und dem die Flucht nach Britisch-Guyana gelang.

Die Häftlinge sind fast überwiegend Franzosen, aber es finden sich dort auch Untertanen aus dem weitläufigen Kolonialreich: Araber, Senegalesen, Annamiten (die damalige Bezeichnung für die Einwohner des heutigen Vietnam).

Es gibt dort auch viele Verrückte, denen die harte Strafe den Verstand geraubt hat. In einem tieftraurigen Portrait beschreibt Londres einen Mann, der jeden Tag an derselben Landzunge Steine in das Wasser wirft. Er stellte sich vor, dass eines Tages genug Steine auf den Meeresgrund gefallen sein würden, dass sich ein Steg gebildet haben würde, der bis nach Frankreich reicht, so dass er nach Hause laufen könnte.

Der Strafvollzug im Bagno ist und hart und es gibt eine breite Palette an Strafen. Manche Unbeugsamen, die sogenannten „Incos“ (als Abkürzung für „Incorrigible“), wie Roussenq, der sich wie ein wilder Hund gebärdet, werden jahrelang in Kerkern in Dunkelhaft oder Käfigen gehalten, manche, wie Dreyfus, werden in völliger Isolation auf einer kleinen Insel gehalten, bis sie anfangen, mit den Haien Gespräche zu führen, wieder andere müssen den Dschungel roden, um eine Straße von Cayenne nach Saint-Laurent-du-Maroni zu bauen.

Die Sträflinge haben nicht genug zu essen, sie leiden an Ankylostomiasis, einer schweren Infektion, die durch den Befall von Hakenwürmern im verunreinigten Trinkwasser hervorgerufen wird. Die Männer sind zu schwach, um die Spitzhacke zu heben. Der Aufwand, das Nachwachsen der Vegetation auf der gerodeten Piste wieder zu beseitigen, ist eine Sysiphusarbeit. Im Jahr der Reportage, 1923, haben die Sträflinge in 60 Jahren Existenz des Straflagers dem Dschungel nur 40 km Piste abgetrotzt.

Eine besondere Gesetzesbestimmung, die die Menschen in Frankreich nicht kannten und Albert Londres selbst mit Unglauben vernehmen musste, war die sogenannte „Doublage“.

Die Regel besagte, dass die Sträflinge nach Verbüßung ihrer Strafe dieselbe Anzahl an Jahren in Guyana bleiben mussten, bevor sie nach Frankreich zurückkehren durften. Wer mehr als sieben Jahre Straflager bekommen hatte, dufte nie mehr nach Frankreich zurückkehren, sondern musste in Guayana bleiben.

Weder das Justizministerium des selbsternannten Ursprungslandes der universellen Menschenrechte und der Aufklärung schienen gegen diese Regelung etwas zu erinnern zu haben, deren Existenz und Konsequenz selbst den Geschworenen an den Gerichten größtenteils unbekannt war.

Die Sträftlinge, die nicht nach Frankreich zurückdurften, hatten das Recht, ein Gewerbe oder eine kleine Gaststube zu eröffnen, was mangels Kapital oft schwer zu verwirklichen war.

Andere versuchten, sich als Domestiken, „porte-clefs“, d.h. Schlüsselträger, oder Rudersträflinge zu verdingen, denn Frankreich hatte es seit Beginn seiner Ansiedlung nicht fertiggebracht, einen Hafen zu bauen, so dass die Schiffe in der Bucht ankern mussten.

Einer dieser Sträflinge, die nach verbüßter Strafe zusehen mussten, wie er dort seinen Lebensunterhalt verdienen konnte, war der Veruntreuer Edmond Duez. Nach Verbüßung von zwölf Jahren im Bagno erhielt er eine Konzession für das Inselchen Îlet-la-Mère (Müttercheninsel), auf dem er Schweine, Schafe und Rinder züchtete.

Unbegreiflicherweise erschien nach dem Ende seiner Strafe sein Ehegespons, die ihm im Gegensatz zu all den anderen Ehefrauen die Treue gehalten hatte, auf seinem Eiland. Amüsiert aber auch mitfühlend schildert Londres, wie Duez nach zwölf Jahren Straflager nun unter dem Pantoffel seiner Frau kuschen musste, die auf der kleinen Insel das Regiment übernommen hatte.

Londres jedenfalls war von der Praxis der „doublage“ so empört, dass er flammende Artikel dagegen schrieb, so dass diese Regelung kurz danach abgeschafft wurde. Ein seltenes Beispiel dafür, dass der Journalismus manchmal doch etwas bewirken kann.

Das Bagno selbst wurde im Jahr 1938 abgeschafft. Die letzten Sträflinge kamen jedoch erst im Jahr 1953 zurück.

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Eine Antwort zu Schaurige Tropen

  1. Andreas Moser schreibt:

    Danke für diese mir bisher unbekannte und tatsächlich schaurige Geschichte!

    Ich war nur einmal kurz auf Saint-Martin, aber bei jedem Bericht über französische Überseedepartements bin ich immer wieder begeistert, wo man als EU-Bürger einfach so hinziehen und sich niederlassen könnte.
    Wobei mir der Dschungel und die Tropen leider nicht so behagen. Für mich wäre vielleicht eher Saint-Pierre-et-Miquelon etwas.

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