Der Ausbruch des Krieges in der Ukraine wie, wie Konflikte zuvor und auch danach, das Aufbruchssignal für die alten Haudegen und Oldtimer der Kriegsreportage.
Die Legende der französischen Kriegsfotografen, Patrick Chauvel, über den ich hier und hier schon geschrieben habe, hat sich mit mittlerweile schon 72 Lenzen auf dem Buckel natürlich nach Kiew aufgemacht.
In einem wirklich interessanten Interview mit der Le Monde gibt er Auskunft über seinen Beruf und wie er sich in den vergangenen 50 Jahren entwickelt hat.
Hier die Übersetzung:
Im Alter von 72 Jahren berichtet der Fotoreporter über den Krieg in der Ukraine für „Paris Match“. In einem Interview mit „Le Monde“ erklärt er die Entwicklungen der Kriegsreporterbranche im Verlauf der vergangenen 50 Jahre.
Als er 19 Jahre alt war, fotografierte Patrick Chauvel den Vietnamkrieg. Mit 72 ist er in er Ukraine. In der Zwischenzeit hat der Fotograf, der auch Autor von vier Büchern und zahlreichen Dokumentarfilmen ist, aus 35 Konflikten berichtet. Kein anderer hat eine derartige Berufserfahrung. Seine Arbeit wird in einem Bildband ausgestellt, der von Reporter ohne Grenzen, und den Titel 100 photos pour la liberté de la presse trägt.
Warum brechen Sie mit 72 Jahren in die Ukraine auf?
Wenn ich in Paris geblieben wäre, zu dem Zeitpunkt als die Russen den Krieg vom Zaun brachen, wäre ich verrückt geworden. Ich habe keine Rosensträucher zu stutzen…
Ich bin Fotograf, um Geschichte zu leben und sie zu verstehen. Und danach, um zu versuchen, sie in Bildern zu rekonstruieren. Kriegsreporter, das ist mein Leben. In unmittelbarer Näher der Ereignisse zu sein, denn der Fotograf ist gezwungen zu sehen. Ich glaube übrigens, dass wir noch nie so nah am Dritten Weltkrieg gewesen sind.
Wenn man auch besser jung ist, um diesen Beruf auszuüben und mein Arzt mir angesichts meiner Rückenschmerzen sagt: „Das nennt man das Alter, es wird nicht lange dauern!“, wundere ich mich, dass mich Kollegen fragen: „Was, du arbeitest noch?“, so als käme ich direkt aus der Gruft.
Was antworten sie ihnen?
Dass sie mich am Arsch lecken können.
Woher kommt dieser Virus?
Als ich 18 Jahre alt war, habe ich mich bei einem Kibbutz in Israel verpflichtet, um Orangen zu pflücken, mit dem Hintergedanken, falls der Sechs-Tage-Krieg mit Ägypten ausbricht, über die Mauer zu klettern und Fotos zu machen. Das Ergebnis war erbärmlich. Ich sah nichts, außer meinem ersten Toten. Ich machte eine Runde durch die Krankenhäuser, brachte die Verwundeten mit Imitationen von Louis de Funès zum Lachen und flirtete mit einer israelischen Leutnantin. Jedenfalls hatte ich meine Überzeugung gefestigt. Im Jahr darauf war ich in Vietnam. Ich liebte diesen Beruf so sehr, dass ich fassungslos war, dass man mich tatsächlich dafür bezahlt.
Sie kamen am 19. Februar (2022) in der Ukraine an, während andere Journalisten schon seit Wochen vor Ort waren. Warum?
Der erste zu sein, bedeutet nichts für einen Fotografen. Es zählt einzig und allein, was er zurückbringt. Vielleicht ist es ungerecht, aber die Qualität der Arbeit hängt nicht von der Erinnerung des Fotografen vor Ort ab. Es gibt nur die Wahrheit des Bildes, Punkt. Außerdem war die Ukraine vor dem russischen Einmarsch ein journalistisches Disneyland. Ich habe keinen Sinn darin gesehen, Soldaten zu zeigen, die das Victory-Zeichen machen.
Andererseits stellt es für einen jungen Reporter einen wertvollen Situationsvorteil dar, wenn er seit ein oder zwei Jahren in einem strategischen Land wohnt, wenn man dazu noch bedenkt, dass sich die Medien sehr viel mehr für einen Fotografen wegen des Orts interessieren, an dem er sich befindet, als für die Länge seines Lebenslaufs.
Gibt es verschiedene Arten, den Krieg zu fotografieren?
Talentierte Autoren wie der Engländer Don McCullin haben einen unverwechselbaren Stil. Sie überprüfen das Licht, bevor sie auslösen und wissen, welche visuelle Geschichte sie erzählen wollen.
Ich hingegen gehöre zu einer Generation von Journalisten, die eher rustikal an die Sache herangehen, wir drücken nach Intuition ab. Die Aktualität macht das Bild, nicht ich.
Es geht mir nicht darum, schöne Fotos zu machen, davon abgesehen, dass ich dazu unfähig bin. Ich mag genau so wenig das Wort „Scoop“.
Die Fotografen sehen selten die desaströsen Auswirkungen eines Bildes, das nicht die Realität einer Situation überträgt. Für die Geschichte muss man alles fotografieren, aber nicht alles im nächsten Moment zeigen. Das lässt sich leicht sagen…
Die große Mehrheit der Fotografen hat kein festes Gehalt und hängt von der Anzahl ihrer Veröffentlichungen und den Erlösen ab, die sie generieren. Aber ein spektakuläres Bild ist nicht unbedingt auch wahrhaftigt.
Ein Beispiel?
1968 hat der Fotograf Eddie Adams eines der berühmtesten Bilder des Vietnamkriegs geschossen: der Moment als General Loan, Polizeichef von Saigon, einem in Zivil gekleideten Mann eine Kugel in den Kopf schießt. Nur das ist hängengeblieben. Das Bild sagt nicht, dass der Mann ein ranghoher Vietcong war, der gerade einem nahen Verwandten des Polizeichefs, sowie seiner Frau und seinen Kindern die Kehle durchgeschnitten hatte.
Seinem Bild einen Stil aufzuprägen, ist das problematisch?
Eines Tages habe ich einen Reporter ermahnt: „Deine Bilder erzählen weniger über diejenigen, die du fotografierst, als von dir selbst.“ Aber im Endeffekt existiert diese Falle für jeden von uns. 1982 als Israel in den Südlibanon einmarschiert ist, sah ich wie drei Palästinenser sich erheben und auf den Horizont deuten, ihre Zeigefinger auf dem orangefarbenen Himmel. Eine richtige Postkarte. Es waren noch zwei andere Fotografen da, und wir sagten: „Nein, das nun doch nicht…“ Und doch haben wir dieses Foto geschossen. Dabei stinkt der Krieg nach Tod, Blut, Pisse und Benzin.
Aber ist die Epoche nicht eine Behauptung des Autors?
Der Fotojournalismus hat immer zwischen Information und Kunst gependelt. Aber, ja, die Waage schwankt immer stark zu Letzterem. Der Narzissmus erfasst die gesamte Gesellschaft, die sozialen Netzwerke beweisen es, und daher wird auch die Reportage von einer „Generation Selfie“ übernommen. Aber es ist auch sehr eng mit den ökonomischen Umbrüchen in der Branche verbunden. Das Geld ist im Allgemeinen von den Zeitungen zu den Museen und Büchern gewandert. Der Ruhm kommt sehr viel mehr von der kulturellen Aufwertung unserer Fotos als von der Veröffentlichung in einer Zeitung. Als Folge hiervon, gibt es immer mehr Fotografen, die ihren Stil „suchen“ und dabei als erstes an die Bilder denken, die es ihnen ermöglichen werden, sich herauszuheben.
Vom Vietnamkrieg bis zum Ersten Golfkrieg 1991 kannte ich einen Beruf, der sehr strukturiert war: Fotografen arbeiteten für Fotoagenturen, die ihre Bilder an Zeitungen verkauften. Dann verloren die Agenturen und die Zeitungen an Bedeutung oder verschwanden ganz.
In der Ukraine bin ich für „Paris Match“ eines der wenigen Magazine, die Kriegsreportagen unterstützen.
Dass „Le Monde“, das seine Reputation fünfzig Jahre darauf aufgebaut hatte, keine Fotos zu publizieren, heute eins der wenigen Medien auf diesem Planeten ist, das mit Ambition Fotoreportagen finanziert, weist auf einen schwindelerregenden Kurswechsel hin.
Es gibt also weniger Agenturen und Zeitungen, aber mehr Fotografen?
Sogar ein exponentielles Wachstum. In der Ukraine ist das frappant, weil Kiew nur drei Flugstunden von Paris entfernt ist. Das Profil der Reporter hat sich auch erweitert. Viele sind keine Spezialisten, sie werden vom Krieg aus einer Vielzahl von Gründen angezogen, sie kreuzen Information und persönliche Gründe.
Für eine politische Veranstaltung braucht man einen Presseausweis, für einen Konflikt nicht. Die Kriegsreportage hat sich einerseits globalisiert und andererseits lokalisiert, mit vielen Reportern, die selbst aus den betroffenen Ländern stammen, die den Vorteil haben, Land und Gebiet zu kennen und für die Medien sehr billig sind und nicht zu vergessen, die Soldaten und Einwohner, die zu Gelegenheitsfotografen werden.
In der Ukraine könnte ich mehr Zeit damit verbringen, Fotos einzusammeln als selbst welche zu schießen. Diese Demokratisierung ist großartig, aber führt auch zu einer Uberisierung des Berufs.
Hat das Auswirkungen auf die Bilder selbst?
Wenn es zu viele Journalisten gibt, sind die Soldaten genervt, und dann wird es problematisch.
Wir sind sehr weit von den Zeiten in Vietnam entfernt, wo die Handvoll Fotografen vor Ort nicht nur vollständig frei agieren konnten. Die Amerikaner erleichterten ihnen sogar die Arbeit bis dahin, dass sie ihnen die hunderten toten Zivilisten nach den Bombardierungen zeigten.
Der Krieg in der Ukraine könnte bestätigen, dass es sehr schwierig ist, die Realität eines Krieges zu zeigen, wenn sich zwei offizielle Armeen gegenüberstehen. Die Russen werden die Journalisten auf Abstand halten, und sich dabei auf deren „Sicherheit“ berufen. Der wahre Grund wird sein, dass sie die Toten verheimlichen wollen.
Verringert die Gefahr die Anzahl der Fotografen?
Ja. Es gibt 300 Fotografen in den Flüchtlingslagern, 100 an der rückwärtigen Front und 25, meistens immer dieselben, dort wo die Bomben fallen. Wie heißt es so schön: „Hinten die Kinder. Vorne die Musik.“
Ich spreche nicht von Mut, denn niemand wird gezwungen, in den Krieg zu gehen. Andererseits erfordert die Front Erfahrung: schnell eine Situation erfassen, die Topographie eines Ortes, die Waffen kennen, die Geräusche, Echos und Flugbahnen von Granaten erkennen, sich nicht bei den Gesprächspartnern vertun…
Ich stelle auch eine Ausweitung der Domäne des Kriegs fest. Ich wurde selten so oft angegriffen, wie während der „Gelbwestenproteste“. Abgesehen davon, dass ich oft „Judenpresse“ oder „Schweinehunde“ gehört habe, dass mittlerweile Fernsehteams ballistischen Schutzwesten tragen und von Personenschützern begleitet werden, habe ich mir beim Rennen auf der Avenue Marceau in Paris eine Rippe gebrochen, als ich einem Hammer auswich, der auf mich geworfen wurde. Ich bin hingefallen und auf meinem Objektiv gelandet. Ich finde das seltsam.
Beeinflussen Digitalkameras die Art der Bilder?
Während des Vietnamkriegs wusste der Laborant, wer gut oder schlecht war, indem er die Filmrollen betrachtete und die Anzahl der verpfuschten Bilder sah. Heute kann die Digitalkamera die Geschichte erzählen.
Es reicht, sie über seinen Kopf zu halten, ohne etwas zu sehen, um eine Doppelseite in einem Magazin zu machen. Wenn das Bild vermurkst ist, sieht das der Reporter auf dem Display, löscht es und fängt von vorne an. Die Fotografen verbringen mehr Zeit damit, ihre Kamera zu betrachten, als die Welt vor ihnen.
Konsequenz dessen ist ein wahnsinniger Anstieg und eine Banalisierung der Bilder. Instagram ist der Beweis.
Ich habe Fotografen gesehen, die mehr Fotos an einem halben Tag auf den Demonstrationen der „Gelbwesten“ geschossen haben, als ich in drei Wochen in Vietnam.
Kann man von Kriegsreportagen leben?
Seit 50 Jahren verdiene ich nur dann Geld, wenn ich einen Auftrag von einer Zeitung bekomme – indem ich weniger ausgebe als die Spesenvorschüsse. Ansonsten kosten meine Reportagen mehr als sie einbringen und das gilt für so gut wie alle in der Branche.
Ich habe ungefähr 1980 meinen ersten Scheck erhalten, ich war so überrascht, dass ich ihn erstmal vergessen habe…1996 als ich mit meinen Bildern aus Tschetschenien den World Press Award gewonnen habe, hat mich meine Agentur entlassen, weil ich zu hohe Kosten verursachte und ein Minusgeschäft war. Fotoreporter ist einer der seltenen Berufe, in denen du im selben Augenblick mit Preisen überhäuft und gefeuert werden kannst.
Seit zwanzig Jahren lebe ich hauptsächlich von Dokumentarfilmen, Konferenzen und Büchern. Und jetzt stellen sie sich mal die Situation für den Nachwuchs vor…
Wie können Sie die Erinnerung an die 50 Jahre Krieg bewahren?
Dieses Problem betrifft den Großteil meiner Kollegen, denn die Erinnerung des Krieges ist auch ein kulturelles Erbe. Ich hatte vor sechs Jahren das unerhörte Glück, dass eine Schweizer Stiftung diese Arbeit finanziert: das bedeutet, die 380.000 Negative, Abzüge und Dias wiederzufinden und zusammenzustellen, sie zu säubern, zu dokumentieren, zu ordnen und zu numerieren. Meine Reportagen in der Ukraine werden sich dann zu diesem Ensemble hinzugesellen, das im Mémorial von Caen aufbewahrt wird. Aber ich bleibe der Eigentümer.
Zusammenfassend könnte ich sagen, dass mein Beruf eine große Entwicklung durchgemacht hat.
Als ich 1989 in Panama verwundet wurde, hat sich meine Agentur, Sygma, um meine soziale Absicherung gesorgt, bevor sie meine Krankenhausbehandlung und meinen Rückflug bezahlt hat.
Ich habe auch einen Angestellten der Agentur gesehen, wie er Dias gelocht hat. Das waren die „Aussortierten“. Ich sagte ihm, dass ich seine Augen lochen würde, wenn er weitermacht. Das Aussortieren der Dias war dem aktuellen Kontext geschuldet, der sich jedoch für mich dreißig Jahre später ändern könnte.
Der Fotojournalismus hat an Status gewonnen – nicht an der Bezahlung für die Fotografen.
Vielen Dank für die Übersetzung!
Das ist wirklich interessant.
Ich ärgere mich, dass ich im Februar nicht in der Ukraine gewesen war.
Dabei wollte ich eigentlich wieder Freunde in Odessa besuchen, aber dann haben wir es wegen des kalten Frühlings verschoben, und ich hatte stattdessen ein Housesitting angenommen, aus dem ich mich nicht einfach verabschieden konnte.
Echt dumm gelaufen.
Egal, wo ich war, es wird immer spannend, nachdem ich weg bin.
Odessa ist auch mein Ziel. Ich bin mit dem Sohn von Patrick Chauvel auf Facebook im Kontakt. Vielleicht fahren wir im Sommer hin. Komm doch mit. Wird garantiert abenteuerlich.
Oh, das wäre was!!
Aber ich bin leider von Mai bis September fest in Leipzig.
Ach komm schon. Du kannst das Katzenhüten mal für ein paar Tage an die Nachbarn delegieren. Es gibt Wichtiges zu tun! 😉
Mit ein paar Tagen ist es bei mir leider nicht getan. Ich bin ja eher langsam unterwegs.
Allein, um von Leipzig nach Odessa zu trampen, würde ich eine Woche veranschlagen. Man bleibt ja doch unterwegs hier oder da hängen.