Serienkritik: „Dahmer“

Normalerweise misstraue ich Hypes instinktiv. So auch der überall angepriesenen Netflix-Miniserie „Dahmer“, die von dem schwulen Serienkiller und Kannibalen von Milwaukee handelt, der 1991 gefasst und wenig später im Knast von einem Mithäftling totgeprügelt wurde.

Im Gegensatz zu früher sehe ich praktisch keine Serien mehr, weil mir die Konstanz und die Konzentration fehlt, um einer Handlung über mehrere Teile oder gar Staffeln zu folgen.

Anderseits erinnerte ich mich noch ziemlich gut an den Artikel im Spiegel kurz nach seiner Verhaftung mit all seinen morbiden Details, den ich mir damals in den Sommerferien bei meinem französischen Familienzweig im Ferienhaus im Nizzaer Hinterland zu Gemüte führte.

Ich gab der Serie also eine Chance, und nun ja, sie ist ziemlich okay.

Positiv herauszustellen ist, dass sie unwoke ist, was bei Netflixserien fast schon eine Ausnahme darstellt.

Die Produzenten und Regisseure (wie heutzutage üblich, werden einzelne Folgen einer Serie von unterschiedlichen Regisseuren gedreht, unter anderem, wie ich feststellen musste sogar von Jennifer Lynch, der Tochter des Priesters des Bizarren David Lynch, Schöpfer von „Eraserhead“, „Der Elefantenmensch“, „Dune“, „Wild at Heart“, „Lost Highway“ und anderen Klassikern) haben sich bei der Konzeption für die historische Treue entschlossen, was bedeutet, dass sich die Handlung größtmöglich an den tatsächlichen Ereignissen orientiert. Das geht bis hin zu den akribisch nachgebildeten Ziffern an der Zimmertür des berüchtigten Apartments 213, in dem Dahmer zum Schluss mit den Köpfen seiner Opfer im Kühlschrank und einem Torso in einer Plastiktonne lebte.

Oder auch bei der Szene der Gerichtsverhandlung, bei der die Schwester eines Opfers Dahmer konfrontiert.

Der Darsteller, der Christopher Scarver spielt, den Häftling, der Dahmer im Gefängnis tötet, könnte sein Zwillingsbruder sein.

Unweigerlich führt das allerdings dazu, dass dramaturgisch nur sehr wenig Spielraum bleibt.

Allerdings werden auch nicht alle Morde gezeigt und vor allem nicht Dahmers liebste und Mordmethode, die er über die Jahre immer weiter ausfeilte, nämlich seinen betäubten Opfern mit einem Akkuschrauber ein Loch in den Kopf zu bohren und mit einer Pipette Salzsäure hineinzuträufeln, um sie seiner Phantasie gemäß in willenlose Sexzombies zu verwandeln.

Was sich schon beim Lesen grauenerregend anhört, wird noch dadurch übertroffen, dass in der Realität eins seiner Opfer, der laotische Junge Konerak Sinthasomphone nach einer solchen Behandlung wieder zu sich gekommen war, während Dahmer Biernachschub war.

Bei Dahmers Rückkehr saß das Opfer vor der Eingangstür und unterhielt sich benommen mit Hausbewohnern und Nachbarn. Doch Dahmer nahm ihn wieder in seine Wohnung mit, und behauptete, er habe sich nur mit seinem Freund gestritten und kläre das jetzt.

Sehr gelobt wurde die Darstellung des Hauptdarstellers Evan Peters.

Dieser ist zweifellos ein sehr guter und talentierter Schauspieler, bekannt wurde er hauptsächlich durch seine Teilnahme an fast allen Staffeln von „American Horror Story“.  

Dennoch finde ich ihn fehlbesetzt, weil er mit seinem ruhigen, freundlichen Gesicht überhaupt nicht dem Bild entspricht, das man sich von Dahmer und seinem leeren, stumpfen Gesichtsausdruck, wie man es von seinen Polizeifotos kennt, gemacht hat.

Was den Zuschauer zu der Frage führt, wie Dahmer, der nicht als Serienkiller auf die Welt gekommen ist, sich zu der Person entwickeln, als die er traurige Berühmtheit erlangt hat.

Hatte Dahmer ein verborgenes Seelenleben?  Oder war er vielleicht einfach nur eine vollständig leere Persönlichkeit. Ein Produkt der entfremdenden amerikanischen Gesellschaft,  das ab und an seinen mörderischen Trieben nachgab.

In Ansätzen versucht die Serie Dahmers Persönlichkeit zu erklären und gibt dabei den Eltern eine nicht unerhebliche Verantwortung für sein psychopathisches Verhalten.

Dahmer kam nicht aus einer verwahrlosten, mittellosen Familie. Sein Vater war ein Chemiker und Wissenschaftler an der Universität, seine Mutter war Hausfrau.

Und doch lebte er in einer dysfunktionalen Familie, in der er zumindest emotional missbraucht wurde. Die Mutter nahm schon während der Schwangerschaft in rauhen Mengen Schlafmittel und Tranquilizer. Seine Eltern wären sich am besten niemals begegnet. Schon als kleines Kind wurde er Zeuge ihrer heftigen Ehestreitigkeiten.

Sein Vater ist eine ambivalente Persönlichkeit. Er war zwar abwesend, aber er war auch derjenige, der immer zu ihm gehalten hat und immer wieder versucht hat, ihm wieder auf den geraden Weg zu helfen, als er von der Universität flog oder wegen seines Alkoholkonsums unehrenhaft aus der Armee entlassen wurde.

Andererseits hat er ihm auch das Präparieren von überfahrenen Tieren beigebracht und damit einen mächtigen Trigger in Gang gesetzt.

Sehr krass ist auch die tatsächliche Begebenheit, dass seine Eltern, die sich nicht mehr ausstehen konnten, ihn kurz vor seinem Schulabschluss einfach ganz allein gelassen haben.

Sein Vater war mit seiner neuen Lebensgefährtin in ein Hotel gezogen und ließ ihn bei der Mutter. Die hat jedoch einfach ihre Sachen gepackt und war mit seinem jüngeren Bruder verschwunden. In der wichtigen Phase des Schulabschlusses war Jeffrey Daher mehrere Monate völlig allein im elterlichen Haus.

In dieser Lebensphase, mit achtzehn Jahren, verübte er seinen ersten Mordversuch an einem Jogger und tötete kurz darauf einen Anhalter.

Die Serie geht seine Persönlichkeit aus dem Winkel an, dass Dahmer ein unvorstellbar einsamer seltsamer Junge war, der einen Freund suchte, und die Menschen tötete, die ihn verlassen wollten. Um zu verhindern, wieder allein gelassen zu werden, wie er es von seinen Eltern wurde. Als Stilmittel wir bis zum Überdruss der schnulzige Song „Please Don’t Go“ von KC & The Sunshine Band gespielt.

Jedenfalls hat die Serie mein Interesse an weiterer Recherche geweckt. Man findet zum Beispiel ein ziemlich interessantes Interview von CNN. Die 80er und die 90er Jahre war die Epoche der noch relativ neuen Nachrichtensender, die Voyeurismus unter dem Vorwand der Information betrieben.

Es ist natürlich schon morbide, aber dennoch ist aus meiner Sicht das Interview ein höchst interessantes kriminologisches und historisches Zeitdokument.

Es ist interessant zu hören, wie seine Stimme klingt und ihm bei seinen Argumenten zu folgen. Eine weitere Überraschung ist, dass Dahmer ziemlich redegewandt und in der Lage ist, sein eigenes Verhalten zu reflektieren.

Mit ein paar Kilos mehr, hat er auch gar nicht mehr diese Verbrechervisage wie von seinen „mug shots“ bei der Polizei.

Wer war Dahmer wirklich? Wahrscheinlich werden wir es niemals herausfinden.

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