Einige meiner besten Leseempfehlungen – unter anderem „Oro“ von Cizia Zykë – habe ich aus dem Feed eines jungen französischen Schriftstellers, der anonym unter dem Pseudonym „Hazukashi“ auf Medium schreibt. Wer gut Französisch spricht, dem lege ich seine wirklich interessanten und gut geschriebenen Essays ans Herz.
Das Buch, um das es heute gehen soll, ist von Simon Liberati und trägt den Titel „Anthologie des apparitions“.

Die Handlung ist im Jahr 2000 angelegt. Claude ist ein heruntergekommener Clochard, der vor dem Sozialamt sitzt und darauf wartet, dass seine Nummer aufgerufen wird und er seine Unterlagen abgeben kann, damit er Sozialhilfe bekommt.
In der Wartezeit zieht er eine Lebensbilanz. Er ist um die 40 Jahre alt, hat keine Arbeit, keine Ausbildung, keine Wohnung, kein Geld. Er lebt bei wechselnden Frauen, die er verachtet. Ab und zu lutscht er alten Bastarden den Schwanz, um ein paar Francs für ein Päckchen Kippen zu haben.
Sein engster Freund Ali ist ein schwuler, misogyner, antisemitischer Araber, mit dem er abends in Absturzkneipen verschwindet, bevor seine jeweilige Hauswirtin von der Arbeit kommt, weil ihm das banale Gerede, wie es ein einer abgeschmackten Beziehung stattzufinden pflegt, unerträglich ist oder – Gott bewahre! – sexuelle Annäherung.
Früher, in den 1970er Jahren, da war er ein begehrter Schönling, der im Pariser Nachtleben lustwandelte, von Vernissage zu Modedéfilé zu mondänen Abendessen.
Claudes Schwester Marina ist verschwunden, schon seit einigen Jahren.
Aber Claude scheint das nicht mehr zu beunruhigen, als die Frage, ob seine Unterlagen für den Sozialhilfeantrag vollständig sind. Er war ein kleiner hedonistischer Opportunist, der selbst nahestehende Personen für kleine Gefälligkeiten verraten hat und ist nun ganz am Boden der Talsohle angekommen.
Nach und nach wird klar, dass Claude mit seiner Schwester in ihrer frühesten Jugend mit Heroin in Berührung kamen. Ihre Eltern nahmen eine Wesensveränderung wahr. In dem Glauben, ihren Kindern etwas Gutes zu tun schickten die Eltern das Geschwisterpaar in die Praxis des berühmten Docteur Ben Chemoul, einer Koryphäe auf dem Gebiet der Kinderpsychologie. in der Avenue Georges-Mandel im feinen 16. Arrondissement.
Die Therapie sah so aus, dass stets ein gutes Dutzend verstörter Kinder sich darum balgte, im Roll Royce des guten Dr. Ben Chemoul fahren zu dürfen, der stets in Unterhose in seiner Praxis umherzulaufen pflegte.
Die Fahrt im Rolls Royce war eine Belohnung. Nur derjenige, der sich den zahlreichen dekadenten Freunden des Doktors für eine Nacht oder auch länger hingab, durfte mitfahren.
Die Devise des guten Doktors war nämlich die, dass die Familie die Keimzelle des Faschismus und der Unterdrückung sei.
Sein Behandlungskonzept erklärte er den Kindern folgendermaßen: „Ihr seid krank. Eure Eltern erziehen euch zum Gehorsam, damit ihr in der Schule und später in den Büros und in den Fabriken schuftet. Wir sprengen die Familie, um euch die Freiheit zu geben, die sexuelle Freiheit führt zur persönlichen und spirituellen Befreiung des Individuums, und je früher man damit anfängt, in der Kindheit, desto besser ist das. Und die Prostitution ist die oberste Stufe der freien Sexualität.“
So kam es, dass der Doktor halbwüchsige Jungen und Mädchen der Prostitution zuführte und Claude der Zuhälter seiner eigenen Schwester wurde.
Es ist ein Refrain, den man in dieser oder anderer Form immer wieder, auch in Deutschland, gehört hat. Leute wie Daniel Cohn-Bendit haben in der ihnen eigenen pseudo-ironischen Weise die perverse Theoretisierung für das Unwesen geliefert, das die bei den Grünen der Anfangszeit zahlreich vorhandenen Päderasten treiben durften.
Als Simon Liberati das Buch geschrieben hat, konnte er noch gar nicht die Skandale erahnen, die das französische linke Establishment erschüttern sollten.
Erst der Skandal um den lange vom Kulturestablishment protegierten pädophilen Autor Gabriel Matzneff und dann vorletztes Jahr der Rückzug des langjährigen Vorsitzenden des Verwaltungsrats der Eliteuniversität SciencesPo, Olivier Duhamel, nachdem seine Stieftochter in einem Enthüllungsbuch seine inzestuösen Übergriffe auf ihren Bruder entlarvte.
Es ist ein gut geschriebenes Buch, das heißt in einem schönen Französisch, trotz des brutalen Themas teilweise mit lustigen Beschreibungen und Formulierungen.
Die titelgebenden Erscheinungen scheinen mir die Geister aus seiner Vergangenheit zu sein: Bekannte, Freunde, Therapieopfer, die an einer Überdosis draufgegangen, vom Dach gesprungen oder – wie seine Schwester – einfach verschwunden sind.
Ich stelle es mir so vor wie in dem Lied „Walk on the Wild Side“ von Lou Reed.
Oder wie in dem Lied „People Who Died“ von Jim Carroll, dem Schriftsteller und kurzzeitigen Punkikone, dem Leonardo DiCaprio in einer Zeit vor dem Ruhm und den Blockbustern in einer obskuren Verfilmung seiner Autobiographie „The Basketball Diaries“ ein filmisches Denkmal gesetzt hat.
Es ist ein krasses Buch über eine Epoche, die zugleich unglaublich frei und heruntergekommen war und mir so vorkommt als hätte sie sich vor hundert Jahren abgespielt. Düster, beklemmend und dreckig wie eine Linie schlechtes Koks.
Der Autor lebte übrigens lange Zeit mit der Schauspielerin Eva Ionesco zusammen, die in ihrer frühen Kindheit von ihrer eigenen Mutter an Fotografen vermietet wurde, die von ihr Softpornobilder und Aktfotos schossen, die man heute ohne zu polemisieren als ästhetisierende Kinderpornographie bezeichnen kann.
Zum Abschluss dieser drollige Ausschnitt aus der Show mit Thierry Ardisson, in der Simon Liberati auftritt, um sein Buch vorzustellen. Ich habe an anderer Stelle geschrieben, dass Thierry Ardisson bescheuert ist, aber es stimmt nicht. Ich muss meine Meinung revidieren. Er hat in seiner Show die unterschiedlichsten Menschen mit verschiedensten Biographien eingeladen und ihnen mit Neugier und Freundlichkeit zugehört, ohne über sie zu urteilen. Es ist natürlich auch eine Unterhaltungssendung, in der Schauspieler und Schriftsteller ihre neuesten Werke promoten dürfen und Stars und Sternchen aus dem Showbiz in ausgelassener Diskussion ihren Senf dazugeben.
Hier sieht man Simon Liberati, der sich vor lauter Nervosität vorher einen angesoffen hat oder noch ganz andere psychotrope Substanzen zu sich genommen hat und die Treppe in das gleißende Studio herunterwankt, so dass man an Thierry Ardissons leicht besorgten Gesichtsausdruck die Frage ablesen kann, ob die Sache wohl gut über die Bühne gehen wird.