Einige allgemeine Gedanken kurz vor Beginn des Prozesses.
Die Mitglieder der Terrorzelle, die sich selbst den Namen „Nationalsozialistischer Untergrund“ gegeben hat, waren allesamt in der DDR und in Ostdeutschland sozialisiert. Auch das gesamte Unterstützerumfeld aus NPD und freien Kameradschaften hat denselben lebensweltlichen Hintergrund. Ein Umstand, auf den bisher – obwohl offensichtlich – nicht nachdrücklich genug eingegangen wurde. Der gewaltbereite und terroristisch organisierte Rechtsextremismus hat eine größtenteils ostdeutsche Prägung. Es ist mit Sicherheit lohnenswert die Hintergründe näher zu untersuchen, wobei die folgenden Gedanken keinen Anspruch auf absolute Richtigkeit haben. Sofern von „Ostdeutschen“ die Rede ist, so handelt es sich hierbei nicht um eine geschlechtsneutrale Sammelbezeichnung, sondern um ein sozialtypisches Phänomen, mit dem Tendenzen herausgestellt werden sollen und ohne die Absicht, Individuen zu stigmatisieren.
Offensichtlich ist die starke Affinität zu autoritären Strukturen bei Ostdeutschen. Das mag daran liegen, dass eine autoritäre Konstante seit dem Dritten Reich stattgefunden hat und es in Ostdeutschland an zivilgesellschaftlichen Korrektiven fehlt. Diese Tendenzen werden auch noch begünstigt durch den Wegzug des klügeren oder besser: des gebildeteren Teils der Bevölkerung vor dem Mauerbau und nach dem Mauerfall. Nach der Wende hat eine neonazistische Kultur die Freizeit und das Leben eines großen Teils der ostdeutschen Jugendlichen in Beschlag genommen, und zwar über viele Jahre, ohne dass dagegen wirksam eingeschritten worden wäre. Toralf Staud spricht in seinem Buch „Moderne Nazis“ von einer „Faschisierung der ostdeutschen Provinz“. Es wußte aber auch niemand, was diesem Umsichgreifen entgegenzusetzen war. Es gibt nur sehr begrenzte Lösungsansätze, da diese Mentalität schon derart verfestigt ist, dass man ihr nur mit sehr langfristigen Konzepten beikommen kann: die über Jahrzehnte nicht vorhandene Zivilgesellschaft stärken und Strukturen aufzubauen, mit denen die nazistische Ideologie durch eine Mentalität der Toleranz ersetzt wird.
Erste These: die Bejahung der neonazistischen Kultur ist ein Ausdruck der Frustration und eines Minderwertigkeitskomplexes, gepaart mit einer Ablehnung des westdeutsch geprägten Gesellschaftskonzepts.
Doch warum ist das so? Aus welchem Grund äußert sich diese Ablehnung dieses Staats und dieser Gesellschaft in Neonazismus und nicht auf andere Weise?
Ein Erklärungsansatz: In der DDR war die Ablehnung des sozialistischen Staats die normale Haltung in weiten Teilen der Bevölkerung. Die Menschen durchschauten die offensichtlichen Lügen der Führung. Das Leben in der DDR mit ihrem extremen sozial-politischen Gesellschaftsentwurf war mit Widersprüchen und Tabus gespickt. Aber diesen Staat zu kritisieren war riskant. Man tat es nur hinter vorgehaltener Hand. Alle taten es, und das schuf ein Gemeinschaftsgefühl innerhalb der DDR. Die Bevölkerung der DDR war sich einig in der Kritik am Staat und in der Gefahr, die eine laute Äußerung dieser Kritik bedeutete.
Ganz anders in der Bundesrepublik: hier konnte man alles und jeden kritisieren, ohne dass es zu bitteren Konsequenzen wie Gefängnis, staatlichen Repressalien, Berufsverbot o.ä. geführt hätte. Mit einer Ausnahme: der gesellschaftliche Konsens der Bundesrepublik hat feine aber äußerst robuste Stolperdrähte um das Thema Holocaust und Drittes Reich ausgelegt, die denjenigen um Amt und Reputation bringen, der unbedarft auf sei tritt. Die Meinungsfreiheit geht also in einem bestimmten thematischen Sektor in ein Minenfeld über, in das sich nur begibt, wer sich sehr sicher ist oder wem sein Ruf, sein Amt und seine Reputation komplett egal sind.
Will man also gegen den jetzigen Staat und seinen Konsens opponieren, dann gibt es als einzige Möglichkeit nur das sensible Thema des Dritten Reiches, und zwar indem man das Thema anders als vom gesellschaftlichen Konsens akzeptiert behandelt. Nur durch den Bruch eines „Tabus“ kann man einen Skandal entfachen, die persönliche Ablehnung und Unzufriedenheit mit den vorgefundenen Zuständen kundtun. Und da das Dritte Reiche der letzte sensible Bereich ist, den es in der ansonsten toleranten oder gleichgültigen (?) Bundesrepublik gibt, wird er von den Ostdeutschen aufgegriffen und angegriffen.
Dies wäre eine These, die zu überprüfen sich lohnen würde: ist das Verherrlichen des Nationalsozialismus, das Leugnen des Holocausts usw. durch die Ostdeutschen im Kern möglicherweise eine Kritik an der westlich geprägten Gesellschaft und ihren Werten? Gewissermaßen die einzig wirksame und wahrnehmbare Protest- und Trotzreaktion auf den Verlust der eigenen Identität. Besorgniserregender ist folgende These: Ist der Rechtsextremismus das einzige Amalgam, auf das sich große Teile der Ostdeutschen einigen können, um ihre Unzufriedenheit mit diesem Staat und seinem Gesellschaftskonzept zu artikulieren?
Zweite These: Die Neonazis werden als die wahren Oppositionellen angesehen.
Von der DDR-Führung vehement bestritten, waren Neonazis in der DDR jedoch spätestens in den 1980er Jahren ein nicht mehr zu leugnendes Phänomen der DDR-Gesellschaft. Die Neonazis der DDR traten in ihrer Gesinnung und ihrem Auftreten der sozialistischen Verfasstheit des Staates fundamental entgegen. Sie waren eine Provokation, ein „Ding der Unmöglichkeit“. Die Neonazis der DDR liefen dem staatlich verordneten Mainstream entgegen. Forderten sogar: Die Mauer muss weg!
Kann es somit sein, dass Neonazis bei vielen Ostdeutschen als die wahren Widerständler und Systemkritiker angesehen werden? Im Gegensatz zu den intellektuell-verquasten Bürgerrechtlern? Und kann es – konsequent weitergedacht – sein, dass die Neonazis auch heute in Ostdeutschland al die wahren Systemkritiker am westdeutsch geprägten System angesehen werden?
Woher kommt diese Sympathie für den Rechtsextremismus, die Anbetung des Autoritären, auch diese befremdende Unbefangenheit und Ungeniertheit, mit der im Jugendjargon Worte wie Hitler, Juden, Zecken, Fidschis usw. ausgesprochen werden?
Es ist ganz offensichtlich, dass sich bedeutende Teile der Gesellschaft vom gesellschaftlichen Konsens abgewandt haben. Doch warum? Vielleicht weil sie sich nicht mehr als „Bürger“ dieser Gesellschaft sehen und der Ansicht sind, dass sie an dieser Gesellschaft nicht mehr teilhaben. Zu früheren Zeiten war das Schicksal schon vorgegeben. Man war Sklave, Leibeigener, Untertan. Der willensgesteuerte, „hedonistische“ Aufstieg, die freie Wahl des Lebenswegs kam es sehr viel später. In der DDR hatten große Teile der Bevölkerung keine freie Wahl, wie sie ihr Leben gestalten wollten oder nur innerhalb großer Zwänge und Grenzen.
Mit dem Mauerfall war jedoch schlagartig alles auf einmal möglich. Alle Chancen und Möglichkeiten standen allen offen. Die allseits offenstehenden Möglichkeiten müssen jedoch ergriffen werden, das erfordert Anstrengungen. Die heutige Gesellschaft ist eine Wissens- und Leistungsgesellschaft. Die vielen Wahlmöglichkeiten und die Anstrengungen, die zur Verwirklichung der Träume und Ziele erforderlich sind, können überfordern, stoßen manchen ab. Vielleicht auch gerade die intelligenten und gebildeten. Möglicherweise auch Uwe Mundlos, der doch aus einem Professorenhaushalt stammte. Ähnliches kennt man von islamistischen Attentätern, die häufig aus gutsituierten Verhältnissen kommen, z.B. Mohammed Atta, den 9/11-Attentäter.
Wenn man aber nicht mitschwimmt, nicht mitkommt in dieser Anstrengungen fordernden Gesellschaft, kann sich bei einigen das Gefühl einstellen, kein „Bürger“ mehr zu sein. Man bekommt ein frustrierendes Gefühl des „Abgehängtseins“. Gefühle von Misstrauen, Überforderung, Ablehnung, Aggression und schließlich von Hass.
Ist das eine Erklärung für das mörderische Wüten von drei Nazis, die sie jedoch nach den rassischen Kriterien der reinen Ideologie gar nicht sein konnten?