Bis vor nicht allzu langer Zeit war Wandern für mich eine indiskutable Aktivität, ausgeübt von Rentnern in Lodenjankern, Kniebundhosen und Strümpfen mit Zopfmuster, die hölzerne Gehstöcke mit Metallspitze mit sich führen, auf die sie kleine Blechplaketten mit den Wappen bereits erwanderter Reiseziele genagelt haben.
Nichts für mich. Ich bin ein Stadtkind.
Die Entscheidung als Freiberufler zu arbeiten hat aber nicht nur ein anfängliches Gefühl überwältigender Freiheit, sondern auch Beschränkungen in Form von wenig Urlaub gebracht.
Einst und vorbei sind die am Strand verdösten Wochen und die Nachmittage unter angenehm schattigen Pinien mit einem Schmöker. Nur ein paar Tage gibt’s und die wollen gut – ich hätte beinahe ‚effizient‘ geschrieben – verbracht werden.
Die intensive Arbeit und die fehlende Möglichkeit, längere Zeit abzuschalten, führten zu einer Anspannung, die ich irgendwann mit langen Spaziergängen bekämpfte, so oft sich die Gelegenheit bot. Laufen entspannt mich, ich kann dabei besser nachdenken, als unter Zeitdruck am Schreibtisch.
Unorte wie der Taunus und der Odenwald erhielten eine ungeahnte Attraktivität. Es ist vor allem diese Ruhe, die sich einstellt, wenn man in den Wald eintaucht.
Erst kreischen in der Ferne noch ein paar Motorräder und dann ist es ganz still, bis auf das Blätterrauschen. Im Sommer, wenn das Sonnenlicht durch das dichte Blätterdach fällt, umfängt einen ein stilles, grünliches Zwielicht. Mit etwas Phantasie kann man sich vorstellen, dass man auf dem Grund des Meeresbodens wandelt.
Ein Nachmittag auf dem Altkönig oder dem Großen Feldberg sind vom Erholungswert her äquivalent wie früher ein kurzer Wochentrip. Kurze Wanderungen sind für mein Wohlbefinden und für die Ressourcen mittlerweile lebenswichtig. Untersuchungen haben herausgefunden, dass erfolgreiche und kreative Menschen viel spazieren gehen.
Allerdings habe ich irgendwann die üblichen Wanderwege im Wortsinne ausgelatscht. Es musste etwas Neues her.
Der Blogger-Kollege Andreas Moser hat in seinem Artikel „So geht Abenteuer 24 Schritte“ ein paar wirklich interessante Anregungen gegeben, wie man seine unmittelbare Umgebung auf anspruchsvolle Weise erkunden kann. Tip 3 hatte es mir angetan: „Fahrt 30 km mit dem Zug, steigt in einem kleinen Dorf aus und wandert zurück nach Hause.“
Drei Trips habe ich in den vergangenen Monaten auf diese Weise absolviert.
- Trip: Von der Hohemark nach Frankfurt
Am ersten wirklichen heißen Tag dieses Jahres, eine Woche vor Ostern, fahren mich Frau und Kinder zur Hohemark. Wir laufen eine Weile gemeinsam auf dem Fernwanderweg E 1. Die Kids haben schnell keine Lust mehr und kehren um. Ich bin allein. Ich genieße es, allein zu sein und spaziere gemächlich auf dem gut beschilderten Weg, der sich ganz sanft in Richtung Süden nach Frankfurt neigt. Ich habe noch kein Gefühl, wieviel Zeit die 26 Kilomenter in Anspruch nehmen werden und ob der Weg anstrengend wird.
Es kommt der Waldsaum mit wunderschönen frühlingshafte Auen.

Die schöne Au
Der Weg rollt schön sanft abwärts und trifft auf die Nordweststadt, diese bizarre Retortensiedlung aus den 60er-Jahren, mit kleinen Häusern und Wohnungen, die würfelförmig aufeinanderkleben.
Dann kommt das Nordwestzentrum, das in seiner sonntäglichen Leere ohne die Menschenmassen irgendwie grotesk daliegt mit seinen verstaubten großen Gummibäumen.

Das groteske NWZ
Ich laufe an sonnenbeschienenen Kindergärten vorbei, durch die Ernst-May-Siedlung und ihren preußisch-schnarrenden Ansagen.

Die schnarrende Ansage
In der Nidda hat sich eine eigentümliche Nutria-Population breitgemacht, die durch die vielen Griller auch nicht um ihr Aussterben fürchten muss. Weiß der Geier, woher diese Viecher kommen.
Dann kommt das Ginnheimer Wäldchen,…

City-Ghosts
… der Europaturm (auch Ginnheimer Spargel genannt),…

Der Ginnheimer Spargel in all seiner Pracht
… das Bundesbankgelände und dann bin ich im frühlingshaften Grüneburgpark, wo ich meine jetzt doch etwas müden Beine ausstrecke.

Der schöne Grüneburgpark
Das letzte Stück nach Hause. Ein schöner Spaziergang.
- Trip: Von Darmstadt nach Frankfurt
Ein paar Wochen später lege ich die Latte höher und nehme mir den „Spaziergang“ auf dem Fernwanderweg E 1 von Darmstadt-Kranichstein nach Frankfurt vor. Ein ziemliches Brett von 34 Kilometern Länge.
Die Witterungsverhältnisse an diesem 1. Mai sind nicht besonders. Es regnet und nieselt. Die Landschaft haut mich auch nicht unbedingt vom Hocker, deswegen auch keine Bilder. Ich muss mich ranhalten, ich habe mich mit der Länge des Wegs verschätzt und auf halbem Weg überrascht mich die Dämmerung..
Das Highlight dieser Wanderung ist eine große Rehfamilie mit 15 bis 20 Tieren, die im letzten Tageslicht unmittelbar vor mir den Weg im Stadtwald quert.
Meine Beine sind ziemlich im Eimer als ich endlich beim Goetheturm aus dem Wald komme. Auf dem Wendelsweg höre ich in der Ferne das Grollen vom Schlussfeuerwerk der Dippemess, das wie immer verregnet ist. Auf dem ehemaligen Henninger-Geländer entsteht eine neue hochpreisige Wohnanlage. Der abgerissene Brauereiturm wurde neu aufgebaut und mit Luxusapartments ausgestattet. Staunend sehe ich mir die Bescherung an.
Auf sehr schweren Beinen wanke ich die letzten Meter nach Hause.
- Trip: Tommy kam nur bis Kelsterbach
Das römische Theater hatte lange Jahrhunderte verborgen überdauert, bis es beim Bau der Eisenbahn Ende des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt wurde. Angeblich war es das größte Bühnentheater nördlich der Alpen. Erst Ende der 90er Jahre wurde es vollständig freigelegt und wird derzeit wieder hergerichtet.
Ich mache mich auf den Weg von Mainz nach Frankfurt, nicht wissend, dass ich mich, was die Distanz und die Zeit anbetrifft, ein wenig übernehme. Durch ein ziemlich hartes Thaibox-Training am Vortag sind meine Beine schon beim Loslaufen relativ schwer.
Der Anfang lässt sich gut an. Es ist ein wunderschöner, schon nicht mehr ganz so heißer Spätsommertag.
Wenn es sich einrichten lässt, wandere ich gerne an einem Werktag in der Woche. Das ist die einzige kleine Freude, die ich mir als Selbständiger gönnen kann. Ich laufe an den Bürogebäuden vorbei und streife mit mitleidigem Blick die Angestellten, die wie Insekten in Terrarien auf ihren Tastaturen herumtippen. In meiner Schadenfreude vergesse ich dann für einen Augenblick, dass diese Angestellten unterm Strich vermutlich sehr viel mehr Urlaub haben als ich und ich mit großer Wahrscheinlichkeit öfter und länger wie ein Tropf vor meinem Computer sitze.
Ich überquere den Rhein, und niemand kann mich aufhalten. Danach laufe ich immer weiter am Main entlang in Richtung Frankfurt. Es ist schön.

Vater Rhein an der Grenze zwischen Rheinland-Pfalz und Hessen
Am Ufer liegen Lastkähne. Die Binnenschiffer haben die Brücke ihrer Boote mit Topfpflanzen dekoriert wie ein Wohnzimmer. Vielleicht steht innen auch ein Fliesentisch.
Am Nachmittag liege ich am Main, trinke einen Espresso. Ich beobachte die Flugzeuge, wie sie im Landeanflug ihr Fahrwerk ausfahren und zwei Flussbiegungen weiter – außerhalb meines Sichtfelds hinter Baumreihen – auf dem Flughafen Frankfurt aufsetzen.

Der Verfasser dieser Zeilen beim nachmittäglichen Espresso am Main bei Rüsselsheim
Ich laufe weiter und merke, dass ich nun nah am Flughafen bin, weil die Turbinen nun in geringer Höhe direkt über meinem Kopf jaulen.

Anflug auf FRA
Die Strecke ist schön, aber auch sehr stark von Kampfradlern befahren.
Die Deutschen rasen monadenhaft mit starrem Blick auf teuren Rädern auf dem Radweg neben dem Main. Verbissen, zielstrebig, selbstzufrieden. Gelegentlich hält einer am Wegrand an, sieht sich auf seinem „Smartphone“ in voller Lautstärke ein Video an, das ihm ein Kumpel über seine WhatsApp-Gruppe geschickt hat und lacht schallend. Was für ein Volk.
Auch bei diesem Spaziergang überrascht mich die hereinbrechende Dämmerung, und eine fiese Blase an der Fußsohle piesackt mich. Ich entschließe mich, abzubrechen. Ich hätte noch ungefähr 15 Kilometer vor mir gehabt. In Kelsterbach steige ich in die S-Bahn.
Ich habe die Frankfurter Umgebung aus Norden, Westen und Süden erkundet. Eine Wanderung aus Richtung Hanau bockt mich nicht so wirklich an. Es wird sich sicherlich noch ein interessanter Spaziergang finden.
Schöne Wanderungen, schöne Beobachtungen und schöne Beschreibungen!
Und das ÖPNV-Netz um Frankfurt herum bietet die Gewissheit, am Abend nach Hause zu kommen, selbst wenn man sich mal verlaufen sollte. Schließlich führen alle Wege nach Frankfurt.
Danke!
Ja, Du sagst es. Es ist schon angenehm zu wissen, dass man im Notfall auch noch wegkommt. Deswegen sind es aber eigentlich auch keine richtigen Wanderungen. Eher aufwendige Spaziergänge.
Vielleicht bin ich beim nächsten Mal so vorwitzig und laufe eine Strecke, an der es weder Bus noch Bahn gibt 😉
Schön. Das kenne ich aus meiner Kindheit. Heute wandere ich notgedrungen am Tegernsee; ich wohne ja nur eine Stunde entfernt.
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