Wüstensand und Wiegenlieder

Es gehört zum großen Glück des Lesens, unverhofft Querverbindung zu Werken anderer Autoren zu finden, die man ansonsten niemals in Zusammenhang gebracht hätte.

In der Regel ist es eine fast schon intime Erfahrung, da diese Entdeckungen dem individuellen Geschmack und Lesepensum folgen. Und, nun ja, die Mitteilung man habe in jenem Buch des Schriftstellers X ein Zitat oder eine schöne Stelle gefunden, die auf Schriftsteller Y verweist, wird einem außenstehenden Dritten höchstens zum ratlosen Augenbrauenheben animieren.

Die überraschende Entdeckung ereilte mich bei der Lektüre des 1930 erschienenen Buchs „Gourrama“ von Friedrich Glauser. Der Schweizer ist eingefleischten Krimifans als Verfasser der „Kommissar-Studer-Romane“ bekannt (ich kann dazu nichts sagen, habe ich doch keinen einzigen seiner Krimis gelesen).

Mich interessierte seine in dem autobiographischen Roman verarbeiteten Erfahrungen in der französischen Fremdenlegion, die ich zu Recherchezwecken las.

Glauser, dessen Jugend von Morphiumsucht und Aufenthalten in Gefängnissen und psychiatrischen Anstalten geprägt war, wurde von seinem verzweifelten Vater persönlich ins Rekrutierungsbüro nach Straßburg gebracht, um Prozessen, Verurteilungen und Schadensersatzforderungen zu entgehen. Damals, 1921, ein probates Mittel, um unruhige junge Männer wieder „in die Spur“ zu bringen.

Nach der Ausbildung im Sanktuarium der Legion in Sidi bel Abbès wurde er in einen kleinen Außenposten im damaligen Protektorat Französisch-Marokko versetzt.

Hat man gemeinhin die Vorstellung, dass in der Fremdenlegion harter Drill und unbarmherzige Ordnung und Disziplin herrschen, so zeichnet Glauser ein absolut anderes Bild hiervon.

Glauser schildert die Geschehnisse aus der Perspektive seines alter ego Lös. Einem von drei „Gebildeten“ im gottverlassenen Posten, der Gedichtfetzen von Rilke und Georg Heym zitieren kann.

Die Ankunft der neuen Rekruten im Posten Gourrama und die Begrüßung durch den gutmütigen Kommandanten des Postens, Capitaine Chabert, der – (Zufall?) – denselben Namen trägt, wie Balzacs tragischer, unglückseliger Held, ist derart surreal und drollig, dass ich eine kleine Passage hier zitiere:

„Ich bin“, sagte der Unscheinbare, „euer Capitaine, meine Kleinen. Seid ihr gut gereist? Ja?“ Erstaunte, fragende Blicke kreuzten sich. Wollte sich der Mann einen Spaß erlauben? Einen solchen Ton war man in der Legion nicht gewohnt. Als alle stumm blieben: „Ich möchte gern eine Antwort! Seid ihr gut gereist? Habt ihr eine Klage vorzubringen? Redet nur ruhig. Oder, wenn einer von euch nicht öffentlich reden will, so mag er sich melden und nachher zu mir ins Büro kommen. Ich bin da, um euch zu eurem Recht zu verhelfen. Nun, nochmals, seid ihr gut gereist?“

Zögernd, im Chor, die Antwort: „Oui, mon capitaine.“

„So ist’s recht. Ich merke, ihr müsst euch zuerst an meine Art gewöhnen … In Algerien, denk‘ ich, hat man euch nur angeschnauzt und sich dann nicht weiter um euch gekümmert. Nun, hier bei mir im Posten, ist das anders. Ich fühle mich verantwortlich für euch alle, ja für alle…“ Wieder die kreisförmige Bewegung mit den Ärmchen. „Ihr sollt es gut haben hier. Wenn ihr euch Frankreichs Fahne verpflichtet habt, so sollen wir, eure Vorgesetzten, als Vertreter der großen Republik, euch Dank wissen dafür.“

Im Posten herrschen allgemeine Disziplinlosigkeit, epidemischer Alkoholismus und weitverbreitete Homosexualität.

Die altgedienten Offiziere empfinden nichts als grenzenlose Verachtung für die jungen, ehrgeizigen Ordnungsfanatiker, die in den Posten versetzt werden:

In einer Ecke, auch in der ersten Reihe, saßen, wie auf einer Insel, voneinander wie durch eine gläserne Wand getrennt, Leutnant Mauriot und Adjutant Cattaneo. Leutnant Mauriot, dessen glattes Bubengesicht vergebens versuchte, sich in verächtliche Falten zu legen – zu gespannt und jung war noch seine braune Haut – und des Adjutanten versoffenes Gesicht, das im gelben Licht grünlich leuchtete, wie das Gesicht eines Ertrunkenen, waren trotz dem Platzmangel von einem kleinen, leeren Raum umgeben, der unübersteigbar schien. Von Zeit zu Zeit warf Leutnant Lartigue aus seinen Kugelaugen einen spöttischen Blick nach den beiden, und ein andauerndes inneres Gelächter, das sich nicht entladen konnte, durchschüttelte seinen Körper.

Schwer zu sagen, ob diese Schilderungen die den damaligen Zustand der Fremdenlegion in ihrer Gesamtheit widerspiegeln.

Vielleicht hat das alptraumhaften Schlachthaus des Ersten Weltkriegs einen Ekel auf Krieg und Gewalt bis hinein in die Reihen des Militärs verursacht, und die Legionäre haben die einzigartige Gelegenheit genutzt, die ihr Beruf ihnen verschafft, in einem abgelegenen Außenposten in der marokkanischen Wüste, abseits des verurteilenden Blicks der Gesellschaft und dem wachsamen Auge der Polizei homosexuelle Neigungen auszuleben, sich mit den Huren im Feldbordell zu vergnügen oder sich kleine marokkanische Freundinnen in den umliegenden Dörfern zu halten.

Möglicherweise ist es auch bloß die glühende afrikanische Sonne, die jeden Anflug von Übereifer im Ansatz zunichtemacht.

Das Resultat ist jedenfalls ein kompletter Gegensatz zum preußischen Kadavergehorsam.

Die Verbindung von „Gourrama“ zu einem anderen Roman stellt das uralte französische Wiegenlied „Ferme tes jolis yeux“ her, das in „Gourrama“ die aufrührerischen, betrunkenen, vor Sehnsucht vergehenden Legionäre singen.

Die Melodie ist redundant und nicht unbedingt schön, aber die Worte des Refrains sind es:

Ferme tes jolis yeux
Car les heures sont brèves
Au pays merveilleux
Au beau pays du rêve
Ferme tes jolis yeux
Car tout n’est que mensonge
Le bonheur n’est qu’un songe
Ferme tes jolis yeux

Als ich die Strophe las musste ich sofort an den Roman „Reise ans Ende der Nacht“ des heute verfemten Autors Louis-Ferdinand Céline denken, wo mir dieses Lied vor sehr langer Zeit schon begegnet war.

Vom mysteriösen Titel und dem von Tardi gestalteten Cover neugierig gemacht, hatte ich das Buch aus dem Regal meiner Mutter geklaut und mich damit wichtigtuerisch in ein sommerliches Café gesetzt. Ich erinnere mich noch, wie die Kellnerin mir zulächelte, als Sie mir meinen Milchkaffee brachte, mir Milchbubi, der einen auf großkotzigen Intellektuellen machte.

Kurz vor dem Abitur war das.

Schön gleich die ersten Seiten ziehen den Leser in das Geschehen hinein, als der Protagonist Bardamu, mit einem befreundeten Medizinstudenten auf der Terrasse eines Cafés sitzend, sich spontan und aus einer Laune heraus in die Pulks junger Männer einreihte, die im August 1914 durch die Straßen von Paris paradieren und jubelnd in den Krieg zogen.

Meiner Jugend und Unerfahrenheit war es geschuldet, dass ich es damals für eine Art Abenteuerbuch hielt. Der Einstieg fesselte mich auch gleich und kam meinem jugendlichen Sinn für Abenteuerlust entgegen.

Céline, wie der Autor in Frankreich ohne seine Vornamen genannt wird, hatte indes ein Werk des Zorns geschaffen. Eine wütende Abrechnung mit der Gesellschaft, die den menschenverschlingenden, blutigen Mahlstrom des Ersten Weltkrieg hervorgebracht und ihn hineingeworfen hatte. Eine nihilistische und jeder Hoffnung bare Beschreibung der Ausbeutung in den afrikanischen Kolonien und in den modernen Fabriken Amerikas.

Mit seinem Werk hat Céline gleichzeitig auch den französischen Roman und die hergebrachte Erzählform revolutioniert. Keine feinziselierten Sätze in der schwierigen französischen Grammatik mehr. Céline hatte einen neuen Sprachrhythmus geschaffen in einer knappen, lakonischen Sprache, die literarisches Hochfranzösisch mit Argot verbindet, dem gesprochenen Gossenfranzösisch der Unterschicht und Unterwelt, einem Soziolekt, der mittlerweile ausgestorben bzw. und nur in einzelnen Ausdrücken weiterlebt, die in das Alltagsfranzösisch eingegangen sind.

Céline ist der Pate der Verbitterten und Hasserfüllten. Ein Vorläufer von Houellebecq, nur dass sein Hass nicht durch eine ironische, zynische Distanz gemildert wird.

Sein lakonischer Schreibstil kann nicht verhehlen, wie sehr ihn das generationenprägende Ereignis der gigantischen Menschenverschlingungsmaschine des Ersten Weltkriegs innerlich verwundet hat.

Männer, zu hunderttausenden zerfetzt und niedergemäht wie Fliegen. Jeder einzelne ein Wesen mit einer Seele, Wünschen und Träumen.

Männer, die in den ratten- und läuseverseuchten Gräben alles Menschliche und jede Humanität verlieren.

Die Todesangst als ständiger Begleiter und die Panik vor der Trillerpfeife, die einen neuen Angriff einleitet.

Dieses Buch also hat eine Querverbindung zu „Gourrama“ in Gestalt des alten Schlafliedes.

Es ist bei dieser Begebenheit, als Bardamu, zurück in Frankreich nach seiner Epopöe durch die Kontinente mit seiner Bekanntschaft Madelon und seinem mysteriösen Begleiter Robinson, eine Ruderpartie auf einem Fluss in der Nähe von Toulouse unternimmt, als dieses Lied erscheint.

In einem Hausboot ist eine Sonntagsgesellschaft versammelt, die unter Akkordeonbegleitung Lieder singt, darunter auch dieses Schlaflied.

Vielleicht ist mir diese Szene mit dem Lied auch nur deshalb so im Gedächtnis geblieben, weil dort das einzige Zitat auftaucht, das ich mir aus diesem Buch herausgeschrieben habe. Waren für mich die Kriegsschilderungen des Buchs abstrakte Monstrositäten, konnte ich doch eine einzige Erfahrung anhand der großbürgerlichen Elternhäuser der Klassenkameraden meines Gymnasiums nachempfinden:

„Sie haben eine ganz eigene Art zu sprechen, die vornehmen Leute, die einen einschüchtert und mich persönlich ganz einfach beängstigt. Besonders ihre Frauen. Dabei sind es nichts weiter als verhunzte und prätentiöse Sätze, aber poliert wie alte Möbel. Sie machen Angst, ihre Sätze, obwohl sie nichtssagend sind. Man hat Angst, auf ihnen auszugleiten, wenn man darauf antwortet. Und selbst wenn sie einen Kanaillenton anschlagen beim Singen von Armenliedern, um sich zu zerstreuen, behalten sie diesen vornehmen Akzent, der einem Mißtrauen und Ekel einflößt, ein Akzent wie mit einer kleinen Peitsche darinnen, immer, die man stets benötigt, wenn man mit den Lakaien spricht.“

(Übersetzung durch den Verfasser)

Das Buch selbst sagt mir heute nicht mehr viel. Ich erinnere mich an die Düsterheit, die es verströmte und ich kann auch heute noch nachvollziehen, warum es mich damals angezogen hat.

Das Buch liegt heute neben mir auf dem Schreibtisch in meinem Büro. Als Erinnerung an die Zeit und die Träume meiner Jugend und als Mahnung sie trotz allem nicht aus den Augen zu verlieren.

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