
Jacques Tardi ist ein über Frankreichs Grenzen hinaus bekannter und vollendeter Künstler mit einem eigenen, unverwechselbaren Stil, der sich nicht nur als Comiczeichner und Illustrator einen Namen gemacht hat, sondern vor allem als Schöpfer von Graphic Novels. Er hat mehrere von Léo Malets Romanen in stimmungsvolle schwarz-weiß-Bilder übersetzt und seinem Privatdetektiv Nestor Burma eine Gestalt gegeben.
Mein Lieblingsband ist „120, rue de la gare“, das ich vor fast mehr als einem Vierteljahrhundert aus dem Urlaub mit nach Hause brachte. Ich schmökere noch heute gerne in diesem Band.

Mir gefällt die „Noir-Atmosphäre“ und die Geschichte um die Jagd nach der Beute eines untergetauchten Gangsters im besetzten Frankreich während des Zweiten Weltkriegs ist dank der Vorlage spannend und gut aufgebaut.
Der 1988 erschienenen Adaption ist das Schwarzweißfoto eines Mannes vorangestellt, der verdrossen in die Kamera blickt und eine kleine Schiefertafel mit einer Nummer hält. Seine Häftlingsnummer.

Der kurzen Widmung vor dem Beginn „À mon père“ habe ich bis dato nie eine Bedeutung beigemessen, weil ich sie mit keinem Anknüpfungspunkt in der Geschichte verbinden konnte.
Erst spät im Leben hat sich Tardi, der dieses Jahr 73 Jahre alt wurde, einer schmerzhaften Episode seiner Familiengeschichte gewidmet.
Sie ist gleichzeitig ein dunkler Fleck in der Geschichte Frankreichs, der an die zwei Millionen junger Männer betraf: die schmählich Besiegten des Zweiten Weltkriegs, die in deutsche Kriegsgefangenschaft verschleppt wurden und die in der französischen Nachkriegsgesellschaft als schmachvolle Versager und Besiegte verachtet wurden und niemals ein Anrecht auf Anerkennung ihrer Leiden bekommen haben.
Das Leid der Kriegsgefangenen wurde nach der Befreiung überlagert von den immer neuen Aufdeckungen der Naziverbrechen, der Rückkehr der Deportierten aus den KZs und vor allem von der sehr bald einsetzenden Realitätsverfälschung von einer weitreichenden Kollaboration nicht unerheblicher Teile der politischen Klasse und der Bevölkerung mit dem Besatzer hin zu einem Volk heroischer Résistance-Mitglieder und glorreicher Nazi-Besieger.
Die Verlierer und Besiegten, die kaum wenige Wochen den Aggressoren standgehalten und dann kapituliert hatten, befleckten die Siegerlaune.
Bis heute gab es keine öffentliche Anerkennung dieser mitten in ihrem Elan zum Stehen gebrachten jungen Leben, dieser zerstörten Zukunftsträume, der in Jahren nutzloser Gefangenschaft verschwendeten Existenzen, ruiniert durch die Entfernung von den Lieben, den physischen Leiden, den Misshandlungen und Demütigungen.
1980 hatte Tardi seinen Vater gebeten, die Geschichte seiner Gefangenschaft für ihn aufzuschreiben. Über dieses Thema zu sprechen, gelang ihnen nicht. Der Vater hat mehrere Schulhefte und Notizbücher mit präzisen Erinnerungen gefüllt, die Tardi in eine Schublade gelegt und jahrzehntelang nicht angerührt hatte.
Es hat fast vierzig Jahre gedauert, bis der richtige Zeitpunkt in Tardis Leben gekommen war, um der Geschichte seines Vaters eine künstlerische Ausdrucksform zu geben. Herausgekommen ist ein dreibändiges Epos.
Um die Hintergründe der Handlung verständlich zu machen, ist die Geschichte ist in weiten Teilen in Form eines Dialogs zwischen Tardi-Vater und seinem Sohn, dem Zeichner aufgebaut, der ihn als kleiner Junge mit kurzen Hosen und Baskenmütze begleitet und ihm Fragen stellt.
Band 1: Die Gefangennahme und die Kriegsgefangenschaft

René Tardis Motive, im Jahr 1935 in die Armee einzutreten, sind unklar und ambivalent. Von der Natur (oder seinen korsischen Vorfahren) mit einem starken und unbeugsamen Charakter ausgestattet, verabscheut er Dummheit, Beschränktheit und die in Kasernen anzutreffende Eintönigkeit.
Beunruhigende Vorahnungen gaben ihm jedoch ein, dass von einem gewissen erfolglosen Kunstmaler, der zwei Jahre zuvor im Nachbarland die Macht ergriffen hatte, nichts Gutes zu erwarten ist. Wie recht er hatte.
So tritt er den Panzertruppen bei und steigt langsam die Leiter der Dienstgrade auf.
Trotz der dunklen Wolken, die sich in Europa zusammenbrauen, wägt sich der französische Generalstab in Sicherheit. Nach der Katastrophe des 1. Weltkriegs hatten die französischen Strategen nämlich ein Glanzstück der Ingenieurskunst vollbracht: die Ligne Maginot.
Ein Bollwerk aus meterdickem Stahlbeton, das sich von der Schweiz bis nach Belgien zog. Bis in die Details durchdacht, uneinnehmbar im Stellungskrieg und von Experten und ausländischen Politikern weltweit bewundert und bestaunt.
Der Stolz des französischen Militärs endete an der belgischen Grenze, denn dort begannen die dichten und undurchdringlichen Ardennen, die in der Geschichte noch jeden feindlichen Angriff im Ansatz zunichte gemacht hatten.
Was den schlauen französischen Strategen im Generalstab allerdings entgangen war, ist, dass der Stellungskrieg vollkommen überholt und antiquiert war.
Die Kommandeure des erfolglosen Kunstmalers hatten nämlich eine neue Taktik perfektioniert: den Blitzkrieg. Und als der Zeitpunkt gekommen war, stellte sich heraus, dass die Maginot-Linie davor keinen Schutz bot, dass den Deutschen die Neutralität Belgiens herzlich egal war und dass die Ardennen doch nicht so undurchdringlich waren, wie sich die Fähnchenstecker das gedacht hatten.
Bei Ausbruch des Krieges, den Tardis Vater Jahre zuvor schon vorausgeahnt hatte, zeigte sich die totale und haarsträubende Inkompetenz der französischen Kommandeure.
Es gab weder einen Plan oder auch nur eine Koordination, um dem Überfall etwas entgegenzusetzen.
Die Panzer, mit denen Tardis Vater an die Front beordert wird, sollen auf Zügen verladen werden. Am Bestimmungsort stellt sich heraus, dass es dort es keine Entladevorrichtung oder Rampe gibt, so dass die Panzerfahrer gezwungen sind, von den Waggons herunterzufahren, sie dabei aus dem Gleis springen lassen und den Bahnhof stundenlang lahmlegen.
Es gibt auch keine klaren Befehle. Die einzige Order lautet: den Feind aufspüren und vernichten.
Allein mit seinem Fahrer auf sich gestellt, versprengt, ohne Verpflegung oder Treibstoff irrt Tardi senior durch das nordöstliche Frankreich.
Auf der Fahrt entdeckt der Fahrer an einem Kanal zwischen den Flüssen Sambre und Oise eine getarnte Panzerabwehrkanone der Wehrmacht. Tardis Vater gibt eine Salve von fünf Schuss in kurzer Folge auf die PaK ab und zermalmt dann die noch lebende Geschützbedienung unter den Ketten seines Panzers.


Ein Erlebnis, das Tardis Vater bis an sein Lebensende nicht losgelassen hat. Wenige Stunden, bevor er sein Leben aushauchte sprach er noch von dem Ereignis am Kanal.
Irgendwann ist das Spiel aus. Die französische Armee kapituliert und Tardis Vater wird gefangengenommen.
Ein deutscher Soldat steckt ihm eine Zigarette zu und sagt ihm versöhnlich auf Französisch: Für dich ist der Krieg vorbei.

Tardis steht allerdings nicht der Sinn nach Versöhnung. Er zischt dem Deutschen zwischen den Zähnen zu: Aber nicht für Dich und sehr bald wirst du es bereuen, deinen bayerischen Misthaufen verlassen zu haben.
Tardis Vater ist von einem ohnmächtigen Zorn erfüllt: auf die Deutschen aber auch auf die französischen Politiker, die den Sturm nicht haben heraufziehen sehen, die unfähigen Stabsoffiziere und Kommandeure, die im Ernstfall der Aufgabe nicht gewachsen waren, sich feige aus dem Staub gemacht und die Männer im Feld im Stich gelassen hatten.
René Tardis eigener Vater hatte knapp zwanzig Jahre zuvor genau dieser Gegend gegen die Deutschen gekämpft und war verwundet worden. Er und seine Kameraden hatten vier Jahre lang durchgehalten, die jetzige Armee gerade einmal zwei Wochen. Das war schwer zu schlucken.
Mit anderen Besiegten wird er in das Kriegsgefangenenlager Hammerstein in Pommern, das heute Czarne heißt und in Polen liegt, verschleppt.
Alles ist dort improvisiert. Es gibt zunächst keine Baracken, sondern nur große Zelte, in denen die Kriegsgefangenen untergebracht werden. Die Deutschen waren von der großen Anzahl an Kriegsgefangen überfordert. Möglicherweise hatten sie auch nicht damit gerechnet, auf ihrem Eroberungskrieg auf so wenig Widerstand zu treffen.
Die charakteristischen, standardisierten Holzbaracken werden nach und nach von polnischen Kriegsgefangenen errichtet. Außer Franzosen gibt es dort noch Belgier, Polen und Russen, die von allen Kriegsgefangenen am miesesten und menschenunwürdigsten von den deutschen Posten behandelt werden. Im Kriegsverlauf kommen noch Engländer und Amerikaner hinzu.
Dort verbringt Tardis Vater viereinhalb Jahre: von Juni 1940 bis Januar 1945.
Tardis Bilder beschäftigen sich mit der detaillierten Beschreibung des Lagerlebens, der endlosen, sadistischen Appelle in der Kälte aber auch den vielen geheimen Möglichkeiten des Handelns und Schacherns. Interessant sind die Beschreibungen, wie die Gefangenen aus Rosinen und Zucker Alkohol ansetzen oder von Arbeitseinsätzen außerhalb des Lagers ein Radio in Einzelteile zerlegt hereinbringen und BBC hören können.
Freilich sind die Zustände in einem Kriegsgefangenlager nicht mit denen eines Vernichtungslager zu vergleichen, aber man bekommt eine Ahnung davon, dass die Gefangenschaft eine physische und mentale Gewaltanwendung ist, die einen Mann brechen oder bis ans Lebensende zeichnen kann:
Die erzwungene Enge in der Baracke, der man nicht entfliehen kann, der Mangel an Privatsphäre inmitten ungewaschener Männer, der Schmutz, die Zwangsarbeit, das tägliche Bewusstsein der Beleidigung der eigenen Würde, niemals Intimität, die Entfernung von der Familie, kein Sex, keine Möglichkeit im Leben voranzukommen und sich etwas aufzubauen, die Ungewissheit, ob die Frau daheim in Frankreich noch auf einen wartet und die Vorenthaltung solch banaler Privilegien, die man erst dann zu schätzen lernt, wenn man sie nicht mehr hat, wie allein und in Ruhe scheißen zu können. Und schließlich der niemals abwesende Tod in Form von Hunger, Typhus oder eines reizbaren Postens mit einem lockeren Finger am Abzug.
Die Erlösung, der jahrelang entgegengefiebert wurde, kommt in Gestalt der sich nähernden Roten Armee.
Band 2, Flucht vor der Roten Armee und Heimkehr

Was den Kriegsgefangenen dank BBC schon seit einer Weile und in klammheimlicher Schadenfreude klar ist, scheint den deutschen Soldaten erst langsam zu dämmern: das tausendjährige Reich hat abgewirtschaftet und „Ivan“ kommt immer näher.
Im Januar 1945 wird der Befehl erteilt, das Lager zu räumen und mitsamt der Kriegsgefangenen in Richtung Westen zu marschieren.
Dass die Lagermannschaft die Kriegsgefangenen mitnimmt, geschieht nicht aus Menschlichkeit. Die Gefangenen dienen als Faustpfand, die die SS- und Wehrmachtssoldaten als Verhandlungsmasse zu nutzen gedenken, falls sie auf alliierte Einheiten treffen sollten.
Der Weg ist für die Kriegsgefangenen beschwerlich, die mit ihrer elenden Kleidung und schlechten Schuhe durch Schnee und Matsch marschieren müssen.
Die Posten scheinen keine Ahnung zu haben, was das Ziel ihres Marsches sein soll. Die Front ist zusammengebrochen. Nirgends scheint es Sicherheit zu geben. Es gibt nur eine Richtung: nach Westen, weg von den Russen.
Mit den Wochen und Monaten lockern sich die Sitten, die Kriegsgefangenen verlieren ihre Scheu und die Franzosen beginnen die Posten zu verspotten, indem sie ihnen ihr Schicksal in Sibirien vor Augen halten.

Der Weg führt weiter durch das zerstörte und zerbombte Deutschland. Irgendwann ist der Zeitpunkt gekommen, sich der starrsinnigen Posten, die immer noch nicht aufgeben wollen und in ihrer Brutalität nicht nachlassen, zu entledigen.

Die Kriegsgefangenen hängen fünf der brutalsten Posten an einem Baum und einem Telefonmast auf. Die Reste der Lagermannschaft zieht es vor, zu verschwinden.
Im Gefolge der Amerikaner gelangt Tardis Vater endlich wieder nach Hause, wo seine Frau auf ihn gewartet hatte.
Band 3, Nachkriegszeit und Rückkehr nach Deutschland

Im dritten Bad entfernt sich Tardi leider immer weiter von der Geschichte seines Vaters. Die historischen Einordnungen nehmen immer mehr Raum ein wie auch die persönlichen Erinnerungen des Zeichners Tardi, der 1946 zur Welt kam.
Obwohl Tardis Vater von der Armee die Schnauze voll hatte, verpflichtet er sich nach dem Krieg noch weitere Jahre, um seine Familie ernähren zu können.
Er kehrt mit den französischen Besatzungstruppen ausgerechnet nach Deutschland zurück. Erst nach Bad Ems nahe Koblenz und später nach Fritzlar in der Nähe von Kassel.
Es muss eine psychologisch verzwickte und im Prinzip auch absurde Situation gewesen sein, dass Tardi senior, der Besiegte nun als vermeintlich triumphierender zu anderen Besiegten nach Deutschland zurückkehrt.
Kompliziert muss es für ihn auch gewesen sein, ein stabiles und friedliches Familienleben ausgerechnet in einem Land aufbauen, das ihm fünf Jahre seiner Jugend gestohlen hatte, mit dem er nur Leiden und Freiheitsentzug assoziiert und jedes Recht der Welt gehabt hätte, ihm Groll und Hass entgegenzubringen.
Fazit
Ein Monumentalepos, das im ersten Band sehr spannend und packend anfängt, im zweiten Band aufgrund der vielen historischen Erklärungen etwas nachlässt und im dritten Band etwas den Faden verliert.
Dennoch honoriere ich erstens die großen Rechercheleistungen, die Tardi auf den Spuren seines Vaters entfaltet hat, und auch die enorme Arbeit, die es bedeutet haben muss, diese Epopöe in dem ihm eigenen detailreichen Stil zu zeichnen.
Als großer Tardi-Fan hoffe ich, dass er hier nicht sein Schlusswerk abgeliefert hat, und noch weitere Geschichten parat hat.
Anmerkung: alle beschriebenen Werke sind auch in deutscher Übersetzung erhältlich.
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