Film: Toto der Held

Das intellektuelle und literarische Frankreich konnte es sich Anfang September mit Popcorn gemütlich machen. Lange hatte es zur „rentrée littéraire“, der traditionellen Vorstellung der literarischen Neuerscheinungen nach der Sommerpause, nicht mehr einen solchen Skandal gegeben.

Der Schriftsteller und Talkshowmoderator Yann Moix schildert in seinem neuen autobiographischen Roman „Orléans“ seine Kindheit als misshandeltes und geprügeltes Kind.

Kritiker bezeichneten den Roman als 262 Seiten langen provinziellen „torture-porn“.

In verschiedenen Medienauftritten setzten sich Yann Moix‘ Eltern und sein Bruder zur Wehr und wiesen die im Roman erhobenen Anschuldigungen zurück. In einer bitteren Abrechnung entgegnet Moix‘ Bruder Alexandre, dass vielmehr der Schriftsteller der Folterer gewesen sei, unter dem er seine Kindheit und Jugend über gelitten habe.

Damit nicht genug, brachte der Bruder abscheuliche antisemitische Zeichnungen und Pamphlete aus der Studienzeit von Yann Moix ans Licht, der seine Leiden in „Orléans“ mit dem Schicksal jüdischer KZ-Insassen assimiliert. Ein Desaster für den Protégé des Philosophen Bernard-Henri Lévy.

Niemand weiß, ob Moix die Verkaufszahlen seines Romans als angemessene Gegenleistung für die masochistische Selbstdemontage und die Zerstörung seiner Familie ansieht.

In einer Besprechung der Causa, in welcher auch die hasserfüllte Beziehung der beiden Brüder diskutiert wird, wurde als Analogie der Film „Toto der Held“ des belgischen Regisseurs Jaco Van Dormael zitiert, den ich mir daraufhin angesehen habe.

Es ist einer dieser Filme, bei denen man nie so genau weiß, ob es eine Satire, eine schwarze Komödie oder eher ein Drama ist, wie bei vielen belgischen Filmen der 90er Jahre.

Es ist ein wunderbarer und mysteriöser, auf mehreren Ebenen aufgebauter Film mit mehreren ineinander verwobenen Thematiken: dem Kain-und-Abel-Motiv, dem Kampf gegen die eigenen Dämonen und der Unmöglichkeit, sich von den Erinnerungen zu befreien, dem Alter und auch der Fähigkeit zum Glück und zur Freiheit.

Thomas van Hasebrock, genannt Toto, hat sich seit seiner Kindheit in die obsessive Vorstellung verbissen, er sei der Sohn eines reichen Unternehmers, der nach der Geburt bei einem Brand im Krankenhaus mit einem anderen Kind aus einer einfachen Nachbarsfamilie vertauscht wurde. War es so oder nicht? –  Der Zuschauer wird im Unklaren gelassen.

Er bringt dem eingebildet und blasiert auftretenden Alfred Kant, dem Sohn des reichen Nachbarn, den er für einen Hochstapler und Usurpator seiner angestammten Rechte hält, sooft er ihm in seinem Leben begegnet, Feindseligkeit und Hass entgegen.

Sein Leben lang versucht er sich an ihm für das eingebildete oder tatsächliche Unrecht zu rächen. Auch für den tragischen Tod des Vaters, der für den reichen Nachbarn Fracht für seine Supermarktkette fliegt und dabei abstürzt. Ebenso obsessiv versucht er eine Frau zu finden, die in allen Punkten seiner geliebten Schwester Alice gleicht, die beim Versuch das Haus des Rivalen anzuzünden, umkommt.

Noch im Altersheim träumt er davon, wie er seinen verhassten Widersacher erschießt oder ihn im Springbrunnen seiner bonzigen Villa ersäuft.

Eine schöne Wiederentdeckung in dem Film ist das Lied „Boum!“ von Charles Trenet.

Aber auch die in den Film eingestreuten Gedichtfragmente, vom Schauspieler Michel Bouquet mit schöner, geschulter Altmännerstimme vorgetragen, sind schön.

Wie die Allegorie über das Leben aus Shakespeares „Macbeth“:

„Life’s but a walking shadow, a poor player,
That struts and frets his hour upon the stage,
And then is heard no more. It is a tale
Told by an idiot, full of sound and fury,
Signifying nothing.”

Und das mir bis dahin unbekannte Gedicht von Paul Verlaine, Vertreter des Symbolismus, über eine Frau, die ihm im Traum erscheint. Es wurde zwar ins Deutsche übertragen, doch nur das Original vermag es, die Assoziationen und Emotionen hervorrufen:

Mon rêve familier

Je fais souvent ce rêve étrange et pénétrant
D’une femme inconnue, et que j’aime, et qui m’aime
Et qui n’est, chaque fois, ni tout à fait la même
Ni tout à fait une autre, et m’aime et me comprend.

Car elle me comprend, et mon coeur, transparent
Pour elle seule, hélas ! cesse d’être un problème
Pour elle seule, et les moiteurs de mon front blême,
Elle seule les sait rafraîchir, en pleurant.

Est-elle brune, blonde ou rousse ? – Je l’ignore.
Son nom ? Je me souviens qu’il est doux et sonore
Comme ceux des aimés que la Vie exila.

Son regard est pareil au regard des statues,
Et, pour sa voix, lointaine, et calme, et grave, elle a
L’inflexion des voix chères qui se sont tues.

Anmerkung: der Film „Toto der Held“ ist stand jetzt nicht im Stream zu finden.

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