Abenteurer

Ich hege eine große Bewunderung für diejenigen, die es schaffen, ihrem Leben mittendrin noch eine neue Richtung zu geben, sich von Zwängen und Pflichten zu befreien und endlich ihren Träumen und ihrer Berufung zu folgen.

Robert Young Pelton beispielsweise arbeitete in einer Werbeagentur, bevor er mit knapp vierzig Jahren begann für Magazine wie National Geographic über Abenteuerthemen und Konflikte zu schreiben.

Sein Buch „The World’s Most Dangerous Places” ist eine Art Lonely Planet für Kriegsreporter und Abenteurer. Ich habe dem sehr gut recherchierten Buch viele nützliche Tips zur Beschränkung und Minimalisierung meiner Wanderausrüstung entnommen.

Es ist immer hilfreich, sich von Personen inspirieren zu lassen, die es – zumindest vordergründig – geschafft haben, die mittelmäßigen und drittklassigen Ärgernisse des Alltags hinter sich zu lassen und sich nur noch auf das Wesentliche konzentrieren.

Arte, der einzige sehenswerte Sender im öffentlich-rechtlichen Spektrum hat Joseph Kessel zu seinem vierzigsten Todestag einen Dokumentarfilm gewidmet.

In Frankreich eine Legende, dem ganze Generationen von Journalisten und Schriftstellern nacheifern, ist der Mann in Deutschland nahezu unbekannt.

Die Gestirne hatten bei seiner Geburt ein außergewöhnliches Schicksal für sein Leben vorgesehen.

Kessel kam 1898 in Argentinien zur Welt. Seine Eltern waren russische Juden, die vor den Pogromen geflohen waren. Sein Vater erzog ihn atheistisch, weil er ihm – so seine Begründung – die Mühsal des Judeseins ersparen wollte.

Nach einigen Jahren in Argentinien kehrte die Familie wieder nach Orenburg im Ural zurück, bevor sie sich endgültig in Frankreich niederließ, wo ein mütterlicher Familienzweig bereits ansässig war.

Bei Kriegsausbruch 1914 meldete sich Kessel, erst 16-jährig, freiwillig auf französischer Seite als Sanitäter an die Front, obwohl er noch die russische Staatsbürgerschaft besaß. Doch für ihn war bereits klar, dass Frankreich seine Heimat sein solle.

Nie wird er jedoch die russische Mentalität ablegen und Zeit seines Lebens in Zeiten der Einsamkeit und Melancholie die Gesellschaft der „Weißen Russen“ – die von der Revolution nach Frankreich vertriebenen Aristokraten und Anhänger der tsaristischen Gesellschaft – und die der Zigeuner suchen. Erstere teilen seinen überbordenden Sinn für Schwermut, letztere seinen Durst nach Freiheit.

Zwei Jahre später kam er zur damals noch neuartigen Luftaufklärung. Ein Bild zeigt ihn im langen Fellmantel der Piloten.

Nach Kriegsende strebte er eine Karriere als Schauspieler an, für die er sich mit seiner breitschultrigen, athletischen Statur, seinem vollen, dunklen Haar und seinen blauen Augen und seinem markanten, ausdrucksstarken Gesicht Hoffnung auf einigen Erfolg machen durfte.

Vom Selbstmord seines jüngeren Bruders Lazare, der ebenfalls Schauspieler werden wollte, tief erschüttert, beendete er seine Ausbildung.

Stattdessen schlug er einen Lebensweg ein, der ihm auf andere Weise zu Ruhm verhelfen sollte: die des Abenteurers und Reiseschriftstellers.

1932 unternimmt er eine Recherche in die Unterwelt Berlins. Kessel, der kein Deutsch sprach, sah sich mit zwei Gehilfen, die man im heutigen Journalistenjargon „Fixer“ nennen würde in den Ganovenkaschemmen im Scheunenviertel und um den Alexanderplatz um. Kessel schildert eine erstaunliche Begebenheit: die Jahresversammlung der Berliner Verbrechersyndikate, die wie in Gilden organisiert waren. Geldfälscher, Einbrecher, Räuber und Mörder kamen in Smokings, ihre Frauen in Abendkleidern, in einem Gesellschaftssaal zum Austausch und geselligen Beisammensein zusammen.

Neben seinen Reisen nach Afghanistan, ein Land, das er als einer der wenigen Reporter seit den 50er Jahren bereiste und das ihn faszinierte, entwickelte er eine enge Beziehung zu Israel. Er, der keine religiöse Erziehung genossen hatte, erhielt vom neugegründeten Judenstaat das allererste ausgegebene Visum.

Mehrere Romane des äußerst produktiven Schriftstellers wurden auf die Leinwand gebracht, wie der 1928 erschienene Skandalroman über seine Ehe „Belle de jour“, der 1967 von Luis Buñuel mit Catherine Deneuve verfilmt wurde….

… oder „Armee im Schatten“ von Jean-Pierre Melville über eine Résistance-Gruppe im Kampf gegen die Deutschen im besetzten Frankreich.

Die meisten seiner Bücher sind entweder nicht ins Deutsche übersetzt worden oder sind nur noch in antiquarischen Ausgaben erhältlich ist, mit Ausnahme des etwas kitschigen Romans „Patricia und der Löwe“. Sein stärkstes Buch, „Die Steppenreiter“, ist, zumindest auf Amazon, nur als Hardcover aus den 70er Jahren zu erhalten.

Vielleicht führt die Dokumentation auf Arte zu einer etwas größeren Bekanntheit.

Ein weiterer Weltenbummler, der mir wertvolle Impulse gegeben hat, ist Sylvain Tesson. Erstmals wahrgenommen habe ich ihn erst vor zwei Jahren, als ich während einer Autofahrt auf France Inter den sehr interessanten Podcast über Homer gehört hatte. Jeden Sommer stellt France Inter in der Reihe „Un été avec…“ eine Persönlichkeit und ihr Werk vor.

Tesson, ein studierter Geograph, beschäftigte sich mit Homer, seinem mythologischen Universum und stellte interessante Bezüge zur Gegenwart her.

Von yves Tennevin – Flickr: Sylvain Tesson – Comédie du Livre 2011 – Montpellier – P1160238, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=21856812

Als Fortschrittsskeptiker fiel ihm rasch die offensichtliche Analogie zwischen den Sirenen, die den unglückseligen Odysseus auf die todbringenden felsenstarrenden Ufer locken wollen, und den Zeit- und Energiefressern unserer Tage, nämlich Facebook, Twitter, Instagram her, die die Aufmerksamkeit des Menschen aussaugen, ihm seine Konzentration nehmen und ihn von seinem Pfad abbringen.

Hier ein sehr schönes Feature, das wenig vor seinem Unfall gedreht wurde, und seine Persönlichkeit sehr schön einfängt.

Das ganze in formidablem Hochfranzösisch vorgetragen. Was mich irritierte, war nur eine seltsam schleppende, schleifende Sprache. Damals wusste ich noch nicht, dass Tesson kurz zuvor einen schweren Unfall hatte, als er in betrunkenem Zustand beim Erklettern einer Hauswand aus 10 m Höhe abgestürzt war und nur knapp dem Tod und der Querschnittslähmung entkommen war. Der Sturz hatte seinen Schädel eingedrückt und Tesson kann seitdem nur noch verständlich sprechen, indem er mit einem Finger seine Oberlippe festhält.

In einem schmalen Band mit dem Titel „Petit traité sur l’immensité du monde“ (deutsch: „Kleiner Bericht über die Unermesslichkeit der Welt“) hat Tesson 2005 in wenigen Kapiteln in gewählter Sprache aber niemals weitschweifig, die Freuden des Wanderns, des Kletterns und des einsamen Reisens abgehandelt.

Tesson stimmt dabei das Loblied auf den Typus des goetheschen „Wanderers“ an, der Zwar mit Ziel aber ohne Zeitvorgaben die Landschaft und ihre Gaben genießt. Seine Referenz ist stets auch Hermann Hesses „Knulp“, aber auch die aus einer Position des sozialen Rückzugs beobachtenden „Waldgänger“ und „Anarch“ des Ernst Jünger.

Tesson, der schon als Anfang Zwanzigjähriger die Welt mit dem Fahrrad umrundet, monatelang in einer Hütte in Jakutien lebte und mit Pferden die mongolische Steppe durchritten hat, ist auch – jedenfalls bis zu seinem Unfall – ein begeisterter Kletterer und Stegophiler gewesen, einer Spezialform des Roofings und Urbex. Mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter hatte er sich zum Sport gemacht, nachts in Kathedralen einzudringen, sich an Simsen, Reliefs und Figuren hochzuhangeln und abzustützen bis zum Gebälk emporzusteigen und sich dort umzusehen, zu dinieren und Gedichte zu deklamieren. Die Kathedrale Notre-Dame-de-Paris hat er in nächtlichen Besuchen, nach eigenen Angaben hundertfach bestiegen bis hin zur Spitze des heute eingestürzten Vierungsturms.

Als großer Russophiler hat er oft Russland bereist, unter anderem mit einem alten Ural-Motorrad auf dem vereisten Baikalsee auf der Suche nach den modernen Einsiedlern. Russen, die sich, angeekelt von der Häßlichkeit und Brutalität der postsowjetischen Gesellschaft, in die Wälder zurückziehen und sich von dem Ernähren, was ihnen die Wälder und Seen schenken: Elchleber, Bärenspeck, kupferfarben geräuchert Fische, Beeren.

Das schönste Kapitel ist für mich das Loblied auf das Biwak unter freiem Himmel

Er, der aus einer bildungsbürgerlichen Akademikerfamilie stammt, zählt zunächst alle unwahrscheinlichen Orte auf, in denen er geschlafen hat: in Hinterhöfen, in leerstehenden Häusern mit einem dicken Buch als Kopfkissen, im Kirchengebälk oder in einer Hängematte in Baumkronen (seiner Meinung nach sind die knotigen Buchen die geeignetsten Bäume, um darin zu biwakieren).

Dieses kleine Kapitel hat mich selbst dazu gebracht, bei meinen längeren Wanderungen nicht mehr krampfhaft nach einer Herberge zu suchen, sondern einfach einen schönen Platz, an der ich meine Matte und meinen Schlafsack ausrolle.

Eine lustige Anekdote über die sich auch meine Töchter köstlich amüsierten, spielte sich ebenfalls in Russland ab und ist einer der Gründe für seine Liebe zu Russland. Tesson war im Wodkarausch in Moskau auf der Straße eingeschlafen und musste nach dem Aufwachen feststellen, dass ihm Schuhe, Strümpfe, Hose, Gürtel und Jacke gestohlen worden waren.

Schnell half ihm jedoch ein Straßenkehrer mit einem Mantel aus der misslichen Situation. Die Menschen in Russland sind an Säufer gewöhnt und sind in der Regel verständnisvoll und hilfsbereit.

Im Winter zählt man die Säufer, die unter Alkoholeinfluss erfrieren, zu hunderten. In Russland haben sie einen niedlichen Namen, man nennt sie „Schneeglöckchen“, weil sie im Frühling auftauchen, wenn die Sonne ihr weißes Leichentuch zum Schmelzen bringt.

Seine Leidenschaft für das Klettern gepaart mit einer bedenklichen Neigung zum Alkohol hat allerdings 2014 zu dem schweren Sturz geführt, den er wahrscheinlich nur aufgrund seiner guten körperlichen Form ziemlich lädiert überlebt hat.

In dem Jahr, das er anschließend im Krankenhaus verbringt, schwört er sich, dass er, falls er dann immer noch oder besser: wieder laufen kann, Frankreich zu Fuß durchquert.

Mehrere Monate wandert er von Süd nach Nord, von den Seealpen bis zum Ärmelkanal, und zwar indem er bewusst Straßen und befestigte Wanderwege mied und stattdessen uralte Transhumanzpfade und überwucherte und dennoch in den IGN-Karten verzeichnete Römerstraßen durch die Wälder nutzte.

Sein geflickter Schädel und seine zusammengeschraubte Wirbelsäule schmerzen erst wie die Hölle, aber nach kurzer Zeit merkt er, wie die alte Form und Fitness wiederkommen.

Sein Buch „Sur les chemins noirs“ (deutsch: „Auf versunkenen Wegen“) ist eine wunderbare Parabel über die Macht, sich selbst gegebener Versprechen und über die Willenskraft, sich trotz großer Schmerzen seinen Körper wieder zurückzuerobern und sich niemals unterkriegen zu lassen.

Dieses Jahr hat Sylvain Tesson den Literaturpreis Prix Renaudot erhalten. Vielleicht erhöht das seinen Bekanntheitsgrad in Deutschland.

Hier übrigens das sehr interessante Video über seinen halbjährigen Aufenthalt am Baikalsee auf Englisch:

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6 Antworten zu Abenteurer

  1. Andreas Moser schreibt:

    Verdammt, jetzt fühle ich mich wieder so normal, langweilig, feige.
    Aber auch angespornt! Denn ohne Familie, feste Arbeit, eigenes Haus hält mich ja eigentlich wirklich nichts zurück außer Bequemlichkeit und Ablenkungen.

    Danke für die vielen Literaturtipps!

    Ich mache bisher nur kurze Wanderungen, nicht so Weitwanderungen durch die Levante wie du, aber dabei gefällt mir auch die Flexibilität, draussen zu schlafen. Man muss dann nicht unbedingt noch an dem Tag nach X oder Y kommen, nur weil man dort etwas gebucht hat, sondern kann sich in A oder B niederlassen, wenn man einen schönen Fleck gefunden oder ein gutes Gefühl hat.
    Nur meine panische Angst vor Schlangen schränkt mich dabei mancherorts ein.

    • benwaylab.com schreibt:

      Es ist mir ebenfalls wichtig, die Routine zu bekämpfen und immer mal etwas anders zu machen. Meine gesamten Freunde und Bekannte sind zur Zeit in der Phase der 3K (Kinder, Karriere, Kredit abbezahlen) und sind für solche Aktionen nicht mehr verfügbar. Leider.
      So muss ich zwangsläufig die Touren alleine gehen und da ist es schön, sich von solchen Personen inspirieren zu lassen und Dinge einfach zu machen. Ich weiß allerdings nicht, ob ich monatelang unterwegs sein könnte. Ich fange schon nach 10 Tagen an, meine Kinder zu vermissen.
      In der Zwischenzeit lebe ich nach der Devise: If you can’t achieve great things, do small things in a great way.

      Aber Du hast ja auch schon eine Menge gesehen. Ich erinnere mich an einen Artikel von Dir, als Du in 5000 m Höhe durch die Anden gewandert bist.

      • Andreas Moser schreibt:

        Das Motto gefällt mir!

        Ich bin manchmal so versessen auf große Pläne, die ich dann doch nicht anpacke, anstatt den Rucksack zu packen und ein paar Tage raus zu gehen.
        Dabei kann man auch an einem langen Tag außer Haus allerhand erleben und erfahren. (Die Wanderung auf den Chacaltaya zB war auch nur ein langer Tag – und danach zwei Wochen im Bett.)

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