Zehn Tote. Fünfzehn Banküberfälle. Mindestens.
Neun der zehn Mordopfer wurden aus rassistischen Motiven ermordet, beim letzten Opfer, einer jungen Polizistin aus Thüringen, liegt das Motiv heute noch im Dunkeln.
Das ist die Blutspur, die eine Gruppierung von Neonazis, die sich „Nationalsozialistischer Untergrund“ nannte, hinterlassen hat.
Das OLG München, das zuständig gewesen ist, über diese Taten zu urteilen, und die Bundesanwaltschaft haben aus prozessökonomischen Gründen – und auch weil es sehr bequem ist – die Zahl der Gruppierungsmitglieder auf drei begrenzt: Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Die letzten beiden waren zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung tot. Sie wurden nach ihrem letzten Banküberfall in Eisenach aufgespürt und haben sich in ihrem gemieteten Wohnmobil am 4. November 2011 mit Schrotflinten das Gehirn weggepustet, bevor sie festgenommen werden konnten. Das machte es für die Bundesanwaltschaft noch viel bequemer.
Ein Wälzer
Der ehemalige Chefredakteur des „Spiegel“ und RAF-Kenner Stefan Aust, heute Herausgeber der „Welt“ und der Journalist Dirk Laabs haben versucht, ein ähnliches Standardwerk über die Rechtsterroristenszene zustande zu bringen wie Austs „Der Baader-Meinhof-Komplex“. Ein Buch, das ich wirklich sehr spannend fand, so dass ich auf „Heimatschutz“ äußerst neugierig war.
Zunächst zum Formalen: Es ist ein ziemlich dicker Klopper, 860 Seiten, ohne Index und Register.

Der Anfang ist relativ interessant, weil die Bildung der Rechtsextremen Szene in Ostdeutschland nach dem Mauerfall anschaulich und mit vielen Quellen rekapituliert wird.
In Westdeutschland war die Neonaziszene zum Zeitpunkt des Mauerfalls nach den Terrorjahren der 70er und 80er Jahre zersplittert und führungslos. Es gab natürlich die NPD und es gab Alt-Nazis im Rentenalter, die dem Dritten Reich hinterhertrauerten, aber es gab keine wirklichen Anführer, die wirklich eine kritische Masse an Neonazis hinter sich versammeln konnten.
Der große rechtsextreme Volkstribun Michael Kühnen war schwer an AIDS erkrankt und starb 1991. Karl-Heinz Hoffmann, der illustre Gründer der gleichnamigen Wehrsportgruppe saß die ganzen 80er Jahre über wegen verschiedener Delikte im Knast. Eine Beteiligung am Oktoberfestattentat und am Doppelmord von Erlangen konnte ihm nicht nachgewiesen werden.
Das Ganze änderte sich nach dem Mauerfall, als rechtsextreme Aktivisten aus Westdeutschland wie Christian Worch, Manfred Roeder, Jürgen Rieger und andere mehr auf eine Bevölkerung in Ostdeutschland trafen, die – man muss es wirklich so deutlich sagen – ihren Thesen äußerst offen gegenüberstand. Dazu gleich.
Nach dem ersten interessanten Drittel – nach dem Untertauchen des Trios – wird das Buch allerdings ziemlich zäh. Das Buch ergeht sich in mühsam aufgezählten Observationsmaßnahmen der verschiedenen Dienste und der Wiedergabe des Intrigantenstadls in der Neonazi- und Rechtsrockszene.
Es scheint fast so, als wäre das Buch eher für Kriminologen und Historiker geschrieben worden und nicht für ein interessiertes „Laienpublikum“ wie der „Baader-Meinhof-Komplex“, obwohl letzteres nicht nur in den Medien, sondern auch in Sicherheitskreisen mit großer Aufmerksamkeit betrachtet wurde.
Ich weiß nicht, welchen Anteil Stefan Aust an Heimatschutz hat, ich habe mehrere seiner Recherchen gelesen und weiß, dass er eine gute und spannende Schreibe hat. Der „Baader-Meinhof-Komplex“ ist sehr strukturiert aufgebaut, und man kann dem Handlungsablauf gut folgen.
Ich denke, es liegt am Ende daran, dass die RAF ein großes Sendungsbewusstsein hatte und eine spektakuläre Aktion auf die andere Folgen ließ – Bombenanschläge auf US-Army-Einrichtungen, Schleyer-Entführung und -Ermordung, Ermordung des Generalbundesanwalts Buback, Freipressung von Häftlingen, Ausbildungslager im Jemen und im Libanon usw – während die konspirativen Mörder des „NSU“ still und heimlich mordeten und den Ermittlern nur das Rätsel der immer wieder benutzten Tatwaffe, der mysteriösen Česká 83, aufgab.
Ein wichtiger Aspekt war natürlich auch, dass Ulrike Meinhof direkt aus dem linken Establishment stammte und sich die RAF auf eine globale „linke“ und antiimperialistische Bewegung stützen konnte. Der „Thüringer Heimatschutz“, aus dem die Mörder kamen, war hingegen eine kleine, beengte Szene mit zunächst kleinen und kümmerlichen Aktionen: Kreuzverbrennungen in der Ku-Klux-Klan-Kutte, Rudolf-Heß-Gedenkmärsche und Demos gegen die Wehrmachtsausstellung. Nichts Spektakuläres, was über die Lokalberichterstattung hinausgeht.
Kurz gesagt: es gibt Längen, durch die man sich durchbeißen muss.
Außerdem könnte das Buch teilweise besser lektoriert sein, es gibt viele kleine sprachliche Holprigkeiten („gewunken“) aber auch ärgerliche Schnitzer („Durchsuchungsbescheid“).
Es wäre wirklich gut, wenn Journalisten, die zu solchen Themen recherchieren und publizieren, sich die Basics und vor allem die korrekte Terminologie der polizeilichen Arbeit und des Strafprozesses draufschaffen könnten. Es ist nicht so schwer. Ernsthaft: wenn selbst ich das geschafft habe, dann schafft es wirklich – wirklich! – jeder.
Mühsam ist auch, dass Personen teilweise nur mit ihrem V-Mann-Namen bezeichnet, was es schwierig macht, zu verstehen, welche Person nun genau gemeint ist.
Das soll es mit der Kritik sein, denn letzten Endes ist es das ausführlichste Werk, das die Ursprünge und das Umfeld des NSU beleuchtet, das es derzeit auf dem Markt gibt.
Gut finde ich außerdem die Karten auf den Umschlaginnenseiten mit den Orten und Daten der Anschläge und Banküberfälle und der Wohnorte, weil man ansonsten doch ziemlich durcheinanderkommt.


Wendezeit – Eine Zeit der Angst
Die Zeit des Mauerfalls und mehr noch die Existenz der DDR verschwimmt immer mehr ins Ungefähre und Unwirkliche. Im verständlichen Einheitstaumel überwog die Freude über die Wiedervereinigung die wiedergewonnene Freiheit, und das ist richtig und menschlich. Allerdings wurde sehr vieles verdrängt und schöngefärbt.
Völlig ausgeblendet wurde die offensichtliche Tatsache, dass eine Bevölkerung aus einer brutalen Gewaltherrschaft entlassen wurde und sich viele Leute nicht klarmachen, dass dies seelische Deformationen nach sich zieht.
Hinzu kam die völlige Abwesenheit einer Demokratieerfahrung, demokratischer Strukturen und einer Zivilgesellschaft. Weder wurde in der DDR das Dritte Reich aufgearbeitet noch die eigene Gewaltherrschaft reflektiert. Das autoritäre, gewalttätige Denken wurde im Prinzip seit dem Kaiserreich konserviert.
Ivo Bozic von der „Jungle World“ charakterisiert es sehr treffend, wenn er sagt: „Die DDR war alles andere als ein linkes Projekt, sondern im Grunde der Staat, den sich die Rechtspopulisten und Neonazis von heute wünschen würden, nämlich ausländerfrei, autoritär, antiamerikanisch und antizionistisch.“
Dies zeigt sich nur beispielhaft daran, dass die DDR-Führung weder Skrupel noch Berührungsängste hatte, alle Feinde der Bundesrepublik zu unterstützen: von der RAF über die Bewegung 2. Juni bis zu Neonazis. Ich kann nur den sehr interessanten Arte-Dokumentarfilm über den Rechtsterroristen Odfried Hepp empfehlen, der in die DDR floh und dort mit offenen Armen empfangen wurde (wie übrigens auch Udo Albrecht). Die Stasi hatte nämlich ein besonderes Faible für diese sauberen, ordentlichen Jungen.
Stasi-Oberstleutnant Eberhard Böhnisch, Odfried Hepps Führungsoffizier schwärmt in der Dokumentation überschwänglich von seinem Schützling bei 01:03:00: „Also, ordentlicher Haarschnitt, gepflegtes Auftreten, nicht Punks und wie sie alle hießen, damals. Das wollte er nicht. Also, deutschnational, dieser gute, deutsche Grundzug, den hat er gezeigt, und da war ich nicht abgeneigt, wenn er den durchsetzt und umsetzt“.
Der ostdeutsche Psychologe Hans-Joachim Maaz spricht in seinem sehr interessanten Buch von einem „Gefühlsstau“ (ebenfalls äußerst lesenswert). Ich würde zusätzlich noch von einem Aggressionsstau reden, der sich nach Jahrzehnten des Buckelns und Runterschluckens unversehens Bahn brach.
Das Resultat war eine autoritär eingestellte Bevölkerung. Gedemütigt und rachedurstig und zu unfassbarer Gewalt bereit.
Dazu eine Naziszene, die schon zu DDR-Zeiten von der Staatsmacht insgeheim wohlwollend betrachtet wurde, die ihren Hass, ihren Frust und ihre Knastpsychose dadurch auslebte, dass sie „Zecken“, „Fidschis“ und „Mozzis“ (Mozambikaner) „aufklatschte“. Aufklatschen heißt nicht ein paar Backpfeifen verteilen, sondern mit Baseballschlägern und Stahlkappenstiefeln ins Koma prügeln.
Als wirklich wichtiges Dokument lege ich dem Leser den Artikel der Bürgerrechtlerin Freya Klier in der Welt vom 22.11.2011 ans Herz. Ich zitiere ihn hier auszugsweise, aber der Artikel ist in seiner Gesamtheit schockierend und bestürzend:
„Wir stehen vor einem Scherbenhaufen“, schrieb ich 1990, „und haben Bilanz zu ziehen, die Bilanz einer unglaubwürdigen Gesellschaft. Im Jahr 1990 herrscht in den Städten der zerfallenden DDR ein Klima offener Gewalt.“ Kurz zuvor musste ich aus einem leeren S-Bahn-Abteil in Richtung Fahrerhäuschen fliehen, weil mich ein Pulk mit Springerstiefeln und Bomberjacken aufgrund meiner dunklen Haare als „Judenfotze“ ausgemacht hatte. In Sicherheit wähnte ich mich erst, als ich West-Berliner Gebiet erreichte. Niemals hätte ich von einem Ost-Berliner Polizisten erwartet, geschützt zu werden.
Die Politik der herrschenden Sozialisten war der Dünger für Ressentiments gegenüber allem, was von der Norm abwich. So trübten nie Obdachlose das graue Straßenbild der DDR – wer nicht zu arbeiten gedachte, fand sich als Asozialer hinter Gittern wieder, wo er zur Arbeit gezwungen wurde, für einen Sklavenlohn. Für Behinderte gab es keine Schrägen, Integrationsschulen waren ein Fremdwort.
Schon unmittelbar nach dem Mauerfall sah ich, wie die verantwortlichen sozialistischen Genossen das ganze Thema dem „Westen“, der „BRD“, dem „Kapitalismus“ unterzujubeln begannen. Ihre Propagandamaschine rotierte über die Jahre so massiv, dass heute ein Satz wie der von den „nach dem Mauerfall entwurzelten Jugendlichen“ ebenso gesamtdeutscher Standard ist wie der von den tollen Kindergärten in der DDR. Gelernt ist gelernt. Gleichzeitig mutierten die Genossen selbst von der SED zur PDS und dann zur honigsüßen Partei Die Linke.
Wie viele Jahrzehnte halten und reproduzieren sich tief verinnerlichte Verhaltensmuster? Das Unbehagen von DDR-Bürgern galt ja jedem Abweichen von der Norm, grellen Haarfarben von Punkern ebenso wie „Negern“ oder „Fidschis“, Körperbehinderten oder auch nur Menschen mit einem ungewöhnlichen Hut auf dem Kopf. 1993 war ich in Berlin-Köpenick auf einer Bürgerversammlung, auf der den Bewohnern einer Eigenheimsiedlung rund ums Wendenschloss mitgeteilt wurde, es werde demnächst in ihrer Nähe ein Aufnahmeheim für bosnische Kriegsflüchtlinge entstehen.
Damals kannten die Ex-DDRler politische Korrektheit noch nicht, und so schlug dem Sozialstadtrat schon bei der Ankündigung der Hass von 300 Köpenickern entgegen. Wüst schrie zunächst alles durcheinander, dann setzte sich eine lautstarke Stimme durch: Den Menschen in den neuen Bundesländern ginge es schon schlecht genug. Man lehne es ab, diese „Schweine“ – gemeint waren die Flüchtlinge – überhaupt hereinzulassen. In Brandenburg hat zwei Jahre später ein halbes Dorf gesammelt, um einen Jugendlichen zu bestärken, ein ausgebautes Asylbewerberheim abzufackeln. Der Kommentar eines Anwohners: „Besser vorher, als wenn die Menschen schon drin gewesen wären.“ Wie lange hält so etwas vor?
Das waren die gesellschaftlichen Begebenheiten, ohne die – meiner Meinung nach – Strukturen wie der „Nationalsozialistische Untergrund“ nicht entstehen und existieren konnten.
Das Fazit lautet daher auch trotz des permanenten Whataboutism der Ostdeutschen: die breiteste und am stärksten verwurzelte Neonaziszene gibt es nun mal in den ostdeutschen Bundesländern.
Das ist ein Fakt, dem man einfach ins Gesicht blicken sollte.
Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass Uwe Böhnhardt schon in frühen Jugendjahren als Kleinkrimineller und Schläger im Knast war, der Autos klaute und mit gestohlenen Sachen hehlte. Soviel zur angeblichen moralischen und rassischen Überlegenheit der weißen Herrenmenschen.
Die Pannen von Verfassungsschutz und Polizei
Die Fakten der Mordserie sind ja weitgehend bekannt, weshalb ich sie hier nicht in Gänze wiedergebe, was jedoch nicht als Respektlosigkeit den Opfern gegenüber oder eine Missachtung ihrer Würde und ihres Schmerzes aufgefasst werden soll. Thema dieses Artikels ist das Buch „Heimatschutz“, bei dem ich mich auf einzelne Aspekte beschränken will.
Und dies sind die Fragen, die auch heute noch immer nicht beantwortet sind:
Wie konnte das Trio unter den Augen der Polizei untertauchen?
Warum konnten sie so lange unerkannt im Untergrund überleben?
Bestand der NSU tatsächlich nur aus drei Personen?
Was wussten die zahlreichen V-Leute aus ihrem Umfeld?
Warum haben die Behörden sie nicht aufspüren können? Hat der Verfassungsschutz die drei möglicherweise sogar unterstützt?
Warum konnte die Polizei die Mordserie nicht aufklären?
Breiten Raum nimmt in dem Buch die Arbeit des Verfassungsschutzes ein, und das ist trotz der trockenen Materie sehr aufschlussreich und auch wichtig. Denn die Aufgaben und Aktivitäten eines Inlandsgeheimdienstes stellt einen demokratischen Rechtsstaat vor die immer gleichen Probleme, egal wo auf der Welt.
Der Inlandsgeheimdienst soll „Lagebilder“ entwerfen und prognostizieren, aus welcher Richtung der Staat und seine Institutionen bedroht oder gefährdet werden können. Dabei muss er auf vielfältige Weise Informationen sammeln und dabei die Grundrechte der Bürger und die rechtsstaatlichen Grenzen achten, die ihm gesetzt wurden. Ein schwieriges Unterfangen, das Inlandsgeheimdienste in allen Demokratien vor unlösbare Probleme stellt, wenn er verwertbare Ergebnisse vorzeigen will.
Die Bundesrepublik hat allerdings noch zwei wichtige Besonderheiten: Es gibt nicht nur einen Inlandsgeheimdienst, sondern derer gleich siebzehn (!), nämlich sechzehn Landesämter für Verfassungsschutz (genauer gesagt gibt es sechs Landesämter und in den restlichen Bundesländern sind es Abteilungen in den Innenministerien) und das Bundesamt. Dann mischt noch der Militärische Abschirmdienst der Bundeswehr mit und um die Verwirrung komplett zu machen können auch die Landeskriminalämter V-Leute anwerben, um kriminelle Szenerien aufzuklären.
Das Resultat ist jedenfalls ein riesiger Zuständigkeits-Brainfuck.
Hinzu kommt die weitere deutsche Besonderheit, nämlich das Trennungsgebot .
Aus gegebenen historischen Gründen müssen Aufgaben und Kompetenzen von Polizei und Geheimdiensten strikt getrennt sein. Auch dies ist nicht immer durchhaltbar, jedenfalls aber verkompliziert das natürlich die Aufgabenwahrnehmung und die Arbeit. (In Frankreich zum Beispiel haben die Agenten des Inlandsgeheimdienstes DGSI ganz selbstverständlich den Status von Polizeibeamten)
Wichtig ist es, sich die Arbeit des Verfassungsschutzes klarzumachen, der ja keine polizeilichen Aufgaben wahrnehmen darf (die Beamten dürfen im Einsatz auch keine Waffe tragen). Seine Aufgabe besteht darin, sicherheitsrelevante Informationen zu beschaffen und zu analysieren.
Wichtigstes Mittel ist hier natürlich die „human intelligence“, d.h. Personen, die zu der aufzuklärenden Szene gehören und Informationen aus erster Hand geben können. Man nennt sie „Vetrauenspersonen“. V-Leute. Sie verraten ihre Freunde und Gesinnungsgenossen und bekommen dafür Geld. Der Verfassungsschutz bekommt im Gegenzug Informationen und kann sich ein Bild von der potentiellen Bedrohung machen. So soll es in der Theorie laufen. Dass V-Leute lügen und ihre eigenen Interessen verfolgen, ist ein Sonderproblem, das auch beim NSU seine eigene Bedeutung hat.
Es erfordert einen langen Atem, viel Zeit, Geduld und Ressourcen, um einen V-Mann aufzubauen, sein Vertrauen zu erwerben und festzustellen, ob er wertige Informationen liefern kann.
Interessanterweise – wie ich auch persönlich aus dem Mund eines Richters am Staatsschutzsenat beim OLG Frankfurt erfahren habe – ist es nahezu unmöglich Quellen bei Linksextremisten zu werben. (Diese Szene kann nur durch verdeckte Ermittler, also Polizeibeamte, aufgeklärt werden, doch: that’s a story for another day.)
Die Werbung vom V-Leuten bei Rechtsextremisten ist zwar kein wirklicher Selbstläufer aber dennoch im Vergleich zu anderen gefährlichen Gruppierungen möglich. Die Neonazis, die der Bundesrepublik Deutschland Hass und Untergang an den Hals wünschen, haben paradoxerweise nichts dagegen einzuwenden, ihre Kameraden zu verraten und dafür Geld vom verhassten Staat anzunehmen.
Schon kurz nach dem Selbstmord von Mundlos und Böhnhardt und dem Auffliegen des NSU und noch mehr zum Zeitpunkt des Prozesses in München gab es scharfe Kritik an der Behördenarbeit. Teils wurde dem Verfassungsschutz vorgeworfen, die Täter und Neonazis geschützt zu haben. Das ist nicht völlig von der Hand zu weisen, wenn man sich die Arbeitsweise des Verfassungsschutzes klarmacht. Dann erkennt man nämlich, wo das Interesse des Verfassungsschutzes liegt. Er wird natürlich versuchen, seine Quelle nach den ganzen Mühen der Anwerbung und vor allem wenn die Quelle wertige Informationen liefert, sie möglichst intensiv und lange zu nutzen und sie zu schützen, damit sie weiter liefert.
Rechtsstaatlich äußerst heikel wird es, wenn die Quelle kriminell agiert und Straftaten begeht.
Das bringt den Verfassungsschutz nämlich in eine konträre Position zum Rechtsstaat und auch zur Polizei. Diese will nämlich Verbrecher jagen, identifizieren und zur Rechenschaft ziehen. Es gibt also zwei komplett gegensätzliche Interessenlagen, die sich nicht auflösen lassen und die es so in jeder westlichen Demokratie gibt. Es ist die große Frage, deren Beantwortung schwierig ist: wie weit will, kann, darf der Staat gehen, um sich zu schützen und seine Interessen zu vertreten?
Die V-Mann-Führer stehen dann vor einer schwierigen Abwägungsentscheidung: entweder die Quelle wegen Unzuverlässigkeit abschalten mit der Konsequenz, dann von Informationen aus der Szene abgeschnitten zu sein oder aber den V-Mann zähneknirschend weiter agieren lassen, auch wenn er zunehmend größenwahnsinnig und unkontrollierbar agiert.
Die Autoren von „Heimatschutz“ bringen es treffend auf den Punkt:
„Als Ende Mai 1993 fünf Menschen in einem Solinger Wohnhaus bei einem Anschlag verbrannten, verstärkte das BfV seine Bemühungen noch einmal und warb gezielt Informanten in der militanten rechten Szene an. Man wollte herausfinden, ob aus der spontanen Gewalt organisierte Terroranschläge werden würden. Doch in der brutalen rechten Szene muss ein Informant, der mitbekommen soll, was geplant wird, selbst gewalttätig sein, so die Logik der Verfassungsschutzbehörden, und folgerichtig rekrutierte man junge Männer, die Obdachlosen den Schädel eingetreten, Asylbewerberheime angesteckt oder sich bereits einer Gruppe wie den „Nationalen Einsatzkommandos“ angeschlossen hatten. Man wollte Informanten, die an der Quelle saßen – und man bekam sie.“
Es sollte auch nicht unerwähnt bleiben, dass die Rekrutierungspraxis der Landesämter für Verfassungsschutz mit obskur noch freundlich umschrieben werden kann.
Angefangen bei der Behördenspitze. Im Jahr 1994 bekam das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz – aus diesem Bundesland stammte das Rechtsterroristentrio – einen neuen Präsidenten, Helmut Roewer. In seinem Wikipedia-Eintrag heißt es unter dem Verweis auf Quellen: „Seine Amtsführung galt als exzentrisch. So trat er z. B. bei einer öffentlichen Veranstaltung im Rahmen des Programms von Weimar als Kulturhauptstadt Europas im Ludendorff-Kostüm mit Pickelhaube (im Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss behauptete Roewer, er habe damit den General Max Hoffmann, Ludendorffs Kritiker, darstellen wollen, ein andermal als Walther Rathenau kostümiert auf.“ Daneben wird kolportiert er würde mit einem Fahrrad durch die Gänge seiner Behörde fahren und barfuß umherlaufen.
Nichts wirklich Untragbares, aber doch für den Leiter einer wichtigen Behörde ein ziemlich absonderliches Verhalten.
Sein Nachfolger ist Stephan Kramer, der ebenfalls einen illustren Werdegang hat. Er ist Jurist, Sozialpädagoge, Bundeswehroffizier und war nach einer Konversion zum Judentum Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, bevor er Präsident des Thüringer LfV wurde.
Ich glaube, dass er eine interessante Persönlichkeit und mit Sicherheit ein kluger Kopf ist, aber ob er das richtige Profil hat, um den Staat vor den Aktivitäten feindlicher Geheimdienste und die Gesellschaft vor Extremisten zu schützen, betrachte ich doch mit leiser Skepsis.
Eine der wichtigsten Lehren aus dem NSU-Fiasko wäre aus meiner Sicht, die Rekrutierungs- und Ausbildungspraxis beim Verfassungsschutz genau unter die Lupe zu nehmen und hohe professionelle Standards einzuführen.
Ein gesondertes, noch immer nicht aufgearbeitetes Kapitel ist die massive Aktenvernichtung nach der Aufdeckung der Mordserie in den Verfassungsschutzämtern. Offenbar wollten die Ämter ihr Versagen kaschieren, dass sie trotz zahlreicher V-Leute im Umfeld des Terrortrio dieses und die wahrscheinlichen bislang unbekannten Mittäter nicht haben stoppen können.
Doch auch die Polizei hat eine alles andere als gute Figur gemacht.
Sehr bald nach Beginn der Mordserie stellte sich heraus, dass immer dieselbe Waffe verwendet wurde, nämlich eine Česká ČZ 83 mit Schalldämpfer.
Die Polizeiermittler in den verschiedenen Bundesländern registrierten dies und auch die Tatsache, dass es sich bei den Opfern immer um türkischstämmige (später kam noch ein griechischstämmiger hinzu) Kleingewerbetreibende handelte.
Noch nach dem 7. Mord in der im Jahr 2007 Serie war die einzige Arbeitshypothese, dass es sich um Rache- oder Disziplinierungstaten aus dem Bereich der organisierten internationalen (lies: türkischen) Rauschgiftkriminalität handeln müsse. Die Ermittler nannten die Sonderkommission sinnigerweise „BAO Bosporus“.
Die Arbeitsteilung, wonach die örtliche Zuständige LKAs ermitteln und den „Rest“ das BKA machen sollte, funktionierte vorne und hinten nicht.
Das Privatleben der Opfer wurde auf den Kopf gestellt wieder herumgedreht und wieder auf den Kopf gestellt, ohne dass auch nur ein Hinweis auf Verbindungen zum Drogenmilieu festgestellt werden konnten. Einige Opfer waren allerdings mit dem Gesetz in Konflikt geraten.
Obwohl es keine objektiven Ansatzpunkte für diese Theorie gab und obwohl an mehreren Tatorten Zeugen unabhängig voneinander zwei athletische, glatzköpfige junge Männer auf Fahrrädern wahrgenommen hatten, ließen die Ermittler nicht hiervon ab. Den Polizeiprotokollen ist zu entnehmen, dass die Ermittler mehrfach nachfragten, so als ob es nicht in ihr Konzept passte, ob die beobachteten Männer tatsächlich „mitteleuropäisch“ und nicht „südländisch“ aussahen.
Sehr verständlich führte das in der türkischen Community zu großer Erbitterung.
Der erste, der ein fremdenfeindliches Motiv erkannte, war ein Ermittler von der OFA Bayern, Alexander Horn, der auch manchmal im Fernsehen zu sehen ist. Er war es auch, der den sogenannten Schwarzen Mann enttarnt hat.
Er erstellte auch eine präzise psychologische und geographische Fallanalyse und hat die Täter verblüffend gut beschrieben und verortet. Der einzige Punkt, bei dem er falsch lag, war seine Einschätzung, wonach die Täter aus Nürnberg oder Umgebung stammen müssten, weil dort die meisten Taten begangen wurden.
Dies kann aber nach neuesten Entwicklungen auch ganz anders sein. Siehe unten.
Auch die Politik hat hier schwere Fehler gemacht, weil es nicht für opportun gehalten wurde, dass rechtsterroristische Attentate in Deutschland stattfinden können.
Bei dem Anschlag mit einer Nagelbombe in der Keupstraße Köln 2004, der dem NSU zugerechnet wird, gab es eine direkte Anweisung aus dem SPD-geführten Innenministerium, den Anschlag in den dienstlichen Meldungen nicht als terroristisch zu bezeichnen.
Es gab – man kann es deutlich so ausdrücken – eine politisch – und vor allem parteiübergreifend – gewollte kriminalistische Blindheit.
Gab es nun eine bewusste Kollusion zwischen den Diensten und den Terroristen? Vorbehaltlich des Auftauchens neuer Tatsachen, glaube ich, nein.
In einer Abwandlung von Hanlons Rasiermesser könnte man sagen: Man soll nicht einer Verschwörung zuschreiben, was man auch mit Dummheit oder Unfähigkeit erklären kann.
Ich glaube, dass es bei dem oben geschilderten Zuständigkeitschaos, bei dem mehrere unterschiedliche Behörden (BfV, Verfassungsschutzämter mehrerer Bundesländer, verschiedene Staatsschutzabteilungen und BKA) involviert sind, zwangsläufig irgendwann zu Informationsverlusten und Pannen kommt. Vor allem wenn einzelne Behörden ihre Quellen eifersüchtig hüten.
Neben Feigheit und dem Unwillen Verantwortung zu übernehmen sehe ich hier eher Unfähigkeit und Amateurismus, der hinterher auf schlampigste Weise vertuscht werden sollte. Auch wenn ich nicht ausschließen will, dass einzelne Beamte vielleicht doch ein wenig blind auf dem rechten Auge sein könnten. Eine großangelegte Verschwörung ist bei der Anzahl der beteiligten Personen eher unwahrscheinlich.
Der Verfassungsschützer im Callshop
Sehr spannend wird das Buch im letzten Viertel, wo die beiden sehr mysteriösen Morde beschrieben werden, nach denen die Mordserie abrupt abreißt.
Es sind die beiden Morde, bei denen die Täter bei ihrer Tatausführung komplett von der vorigen Begehungsweise in der Serie abwichen. Heute fragen sich manche Personen, ob wirklich Mundlos und Böhnhardt die Täter gewesen sind.
Zum ersten Mal töteten der oder die Täter an einem Ort, an dem sich das Opfer nicht allein aufhielt, sondern noch andere Personen zugegen waren.
Aber der Mord an Halit Yozgat im Internetcafé in Kassel ist noch aus einem anderen Grund völlig spektakulär.
Während der Tatbegehung war nämlich ein Verfassungsschützer in den Räumlichkeiten, Während vorne der Geschäftsinhaber erschossen wurde, chattete der Verfassungsschützer Andreas Temme auf einer Datingseite als „wildman70“ mit einer (angeblichen) Frau mit dem Pseudonym „tanymany“.
Kurz nach dem Mord, etwa 40 Sekunden danach, verließ Andreas Temme das Internetcafé. Er gab an, weder von dem Mord etwas mitbekommen zu haben noch die Leiche beim Verlassen des Internetcafés gesehen zu haben. Beim Bezahlen will er die Blutstropfen auf dem Tresen nicht wahrgenommen haben.
In der Doku „Der NSU-Komplex“ kommt der bereits oben erwähnte Profiler Alexander Horn zur Sprache.
Er ist ein vornehmer und kontrollierter Beamter, der mit feinem Lächeln diplomatisch hierzu anmerkt. (01 h 08 min): „Ich war selbst auch an diesem Tatort, stand auch an ähnlicher Stelle und die Leute nehmen unterschiedlich wahr. Ich glaube, ich hätte diese Person wahrgenommen, dort, wo ich stand.“
Dabei hatten andere anwesende Personen, die Computer spielten oder telefonierten einen Knall, wie von einem platzenden Luftballon, auch wenn sie sie auf Anhieb nicht als Schussgeräusche identifizierten, gehört sowie ein dumpfes Geräusch, wie wenn ein schwerer Gegenstand hinfällt.
Nach der breiten Berichterstattung zum neunten Česká-Mord meldete er sich nicht. Als einziger der Gäste des Callshops. Auf die Spur kamen ihm die Ermittler, als sie die bei seinem Profil auf der Datingplattform hinterlegte Handynummer überprüften. Es war eine Nummer, die einem dienstlichen Mobiltelefon zugeordnet war, und zwar dem Innenministerium. Andreas Temme wurde festgenommen und stand eine Zeit lang unter Mordverdacht.
Es konnte geklärt werden, dass er für die anderen Taten ein Alibi hatte. Sehr mysteriös ist allerdings, dass er kurz vor dem Besuch im Internetcafé ein elfminütiges Telefonat mit einem seiner Informanten aus der rechten Szene hatte. Danach machte er sich auf den Weg zum Callshop. Temme gab später an, sich an den Inhalt des relativ langen Telefongesprächs nicht mehr erinnern zu können.
Noch mysteriöser wird es, als die Mordermittler, die seine Telefone überwachten, ein Gespräch mitschneiden, in welchem ihm sein Vorgesetzter Mut zuspricht, ihn aber auch mit dem Satz kritisiert: „Ich sach ja jedem, wenn er weiß, dass irgendwo so was passiert: Bitte nicht vorbeifahren!“
Was soll das bedeuten? Und was ist davon zu halten? Wusste Temme von seinem Informanten, dass die Mörder des NSU zuschlagen würden? Und hat er sich an dem Ort postiert? Warum?
Die Ermittlungen gegen Andreas Temme in dem Mordfall wurden eingestellt. Offiziell hat er also mit dem Mord nichts zu tun. Beim Verfassungsschutz kam für ihn das Karriere-Game-Over. Er wurde an das Regierungspräsidium Kassel versetzt. Auch das wird noch seine eigene Bedeutung haben.
Einige Zeit später hat Andreas Temme gemeinsam mit seiner Frau dem Magazin „Panorama“ ein ziemlich surrealistisches Interview gegeben:
Das Video war bis vor kurzem noch bei Youtube zu finden und wurde dann gelöscht. Den bescheuerten Titel bei Dailymotion habe nicht ich vergeben, sondern vermutlich seine Unterstützer.
Die tote Polizistin und das Phantom von Heilbronn
Man kann mit gutem Recht in Frage stellen, ob der Mord an Michèle Kiesewetter strenggenommen zu der Serie gezählt werden kann.
So gut wie alles ist anders, als bei den anderen Taten. Angefangen von der Opferauswahl bis zur Tatausführung. Die einzige Verbindung zur Mordserie, sind die Dienstwaffen der beiden Polizisten, die in dem ausgebrannten Camper gefunden wurden. Alles ist hier rätselhaft.
Der oder die Täter haben keinen Mann mit Migrationshintergrund erschossen, sondern eine junge Polizistin, die aus Thüringen stammte.
Ohne das Leid der übrigen Opfer und ihrer Hinterbliebenen zu verkennen oder schmälern zu wollen: das Motiv, das die Täter zu der Tat trieb war offensichtlich und sie haben sich hierzu auch offen bekannt: so banal wie abscheulich: Hass. Ausländerhass. Bei Michèle Kiesewetter ist das Motiv bis heute unklar.
Die 22-jährige Polizeibeamtin kam aus Oberweißbach in Thüringen. Sie gehörte der Bereitschaftspolizei in Böblingen an und dort der sogenannten Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) 523 an. Sie war nicht nur bei Fußballspielen und Demonstrationen eingesetzt, wo sie teilweise im Block der Gegendemonstranten als sog. Nicht öffentlich ermittelnde Polizeibeamtin (NoeP) eingesetzt war, sondern auch bei Observationen und bei Drogendeals. Für eine junge Polizeibeamtin relativ abwechslungsreiche, aber auch sehr verantwortungsvolle und nicht gerade ungefährliche Einsätze.
Am 25. April 2007 gegen 14 Uhr parken Michèle Kiesewetter und ihr Kollege Martin Arnold den Dienst-BMW auf der Theresienwiese in Heilbronn. Sie machen Mittagspause. Sie wurden am Vormittag mit anderen Kollegen als Unterstützung nach Heilbronn beordert. Über den Grund des Einsatzes und der gewünschten Unterstützung geben die Einsatzleiter und Kollegen im Nachhinein unklare und widersprüchliche Erklärungen ab.
Kurz nach 14 Uhr werden Kiesewetter und ihr Kollege leblos in ihrem Dienstwagen gefunden. Zwei Täter haben ihnen mit unterschiedlichen Waffen seitlich in den Kopf geschossen. Die Täter haben nach der Tatbegehung die Dienstwaffen und weitere Ausrüstungsgegenstände der Polizisten entwendet. Kiesewetters Kollege überlebte, hat aber keine Erinnerung an den Vorfall.
Die beiden Dienstwaffen wurden vier Jahre später, im November 2011, in dem ausgebrannten Wohnmobil in Eisenach gefunden, das Böhnhardt und Mundlos nach ihrer Enttarnung vor ihrem Selbstmord in Brand gesetzt hatten. Kiesewetters Pistole lag im Essbereich des Campers auf dem Tisch mit einem verbrannten Latexhandschuh verschmort. Die Pistole ihres Kollegen lag unversehrt und durchgeladen in der Nasszelle des Campers.
Weitere Ausrüstungsgegenstände befanden sich in der Wohnung in der Frühlingsstraße in Zwickau, die von Zschäpe in Brand gesetzt wurde. Kiesewetters Reizgassprühdose lag im Gang auf dem Boden, ihre Handschellen in einem Tresor.
Die Ermittlungen zu dem Polizistenmord werden von Beginn an schlampig und erratisch geführt, so dass bis heute viele wichtige Fragen nicht beantwortet werden konnten.
Etwa die Frage nach dem Umstand, dass einer der Einsatzleiter kurzzeitig Mitglied des Ku-Klux-Klan-Ablegers von Baden-Württemberg war. Und auch Michèle Kiesewetters Umfeld und die Relevanz ihres Herkunftsortes in unmittelbarer Nähe von Saalfeld, Gründungszentrum des „Thüringer Heimatschutzes“, konnten nicht wirklich aufgeklärt werden.
Leider ist schlechte Polizeiarbeit in Baden-Württemberg, Land der selbsternannten „Schaffer“ und „Pedanten“ keine Seltenheit.
Man nehme die eklatanten Pannen bei dem bis heute nicht aufgeklärten Fall Maria Bögerl oder die handfesten Justizskandale um Harry Wörz und Jörg Kachelmann.
Das i-Tüpfelchen war die Posse um das „Phantom von Heilbronn“. An zahlreichen Tatorten wurde die DNA einer unbekannten Frau gefunden. Es waren unterschiedlichste Taten: Einbrüche in Gartenhäuser, aber auch Raub und Tötungsdelikte, unter anderem auch bei dem Polizistenmord an Michèle Kiesewetter. Die Tatorte lagen teils in Deutschland, teils in Österreich und Frankreich. Die Ermittler standen vor einem Rätsel. Was für eine Art Frau begeht Tötungsdelikte in halb Europa und bricht dann Gartenhäuser auf? Lange tappten die Ermittler im Dunkeln. Wertvolle Zeit verstrich. Aktenzeichen XY wurde um Hilfe gebeten. Bis irgendwann die schon von einigen Warnern ins Spiel gebrachte Theorie endlich Gehör fand und bestätig wurde: die für den DNA-Abstrich benutzten Wattestäbchen waren in der Fabrik von einer Arbeiterin verunreinigt worden.
Im Buch werden die wichtigsten Fragen gestellt, die bis heute ohne Antwort geblieben sind:
„Hatten die beiden Schützen wirklich keine Hilfe? Warum verhalten sich die Böblinger Polizisten so merkwürdig? Kann die enge Beziehung des Umfelds von Michèle Kiesewetter – Onkel Mike, Anja, deren Mann – zu Thüringer Neonazis ein reiner Zufall sein? Wenn diese Verbindungen tatsächlich ein Zufall waren: Wie konnten die Mörder schon um 13 Uhr 55 schon in Position sein, um dann nur Minuten später zuschlagen zu können? Hatten sie – aus ihrer Sicht – einfach nur unglaubliches Glück? Haben sie also seit dem 16. April neun Tage in der Gegend herumgelungert, um irgendwelche Polizisten zu ermorden und haben dann ausgerechnet Kiesewetter, die junge Frau aus dem Herzland des „Heimatschutzes“, an dem einzigen Tag, an dem sie zwischen dem 20. und dem 25. April im Einsatz war, erwischt? Warum wurde nicht die Česká benutzt? Warum wurden die Opfer entwaffnet? Und warum interessiert sich die verantwortliche Regierung in Baden-Württemberg nicht für diese Fragen und legt stattdessen einen Bericht vor, der 361 Seiten lang ist, aber nur zwei Worte gebraucht hätte: alles Zufälle. Mit dem Ablauf des Einsatzes setzt sich der Bericht nicht auseinander, nirgendwo fällt das Wort „BFE 523“. Die schmerzhafteste Frage ist unverändert und nicht abschließend beantwortet: Konnte wirklich niemand wissen, dass Kiesewetter gegen 14 Uhr mit Arnold an dem Pumpwerk stehen würde?“
Der Mord an Walter Lübcke
Eine neue Blickrichtung auf die Mordserie ergab sich mit dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten. Dieser wurde im Jahr 2019 von dem Kasseler Neonazi Stephan Ernst auf der Terrasse seines Wohnhauses erschossen, weil dieser nicht mit seinen Aussagen zur Flüchtlingspolitik einverstanden war.
Nach dem Mord geriet wieder in den Blickpunkt, dass es in Kassel eine verfestigte, gewaltbereite Neonaziszene gibt. Was natürlich Fragen zu Überschneidungen zum NSU aufwirft und zum Mordfall in dem Internetcafé von Halit Yozgat 2006.
Die Autoren von „Heimatschutz“ haben einen Rechtsanwalt beauftragt, der die die nicht gerade leichte Herausforderung auf sich genommen hat, gegen das Land Hessen auf Herausgabe von Unterlagen des Verfassungsschutzes zu klagen.
In seiner Klagebegründung stellt er eine interessante Frage in den Raum: War die Česká möglicherweise eine „Initiationswaffe“. D.h. hatte die Waffe die Funktion, dass gewaltbereite Neonazis mit ihr einen Mord begehen mussten, um in den „Nationalsozialistischen Untergrund“ aufgenommen zu werden?
Das könnte eine Erklärung sein, warum manche Taten von dem zu Beginn starren Muster abweichen. Das würde allerdings auch bedeuten, dass Böhnhardt und Mundlos nicht alle Morde begangen hätten. Und das würde bedeuten, dass der „Nationalsozialistische Untergrund“ sehr viel größer ist als gedacht.
Das Land Hessen hat die Akten zu den Vorgängen für 120 Jahre gesperrt, nach einer Klage dagegen, besteht immer noch eine Sperre für 30 Jahre. Interessant, was in dem biederen Bundesland mit seiner geräuschlosen Landespolitik so alles möglich ist.
Interessant: Walter Lübcke war als Regierungspräsident der Chef von Andreas Temme, der an das Regierungspräsidium versetzt worden war.
Siehe hierzu, FAZ vom 10.07.2022: Verfassungsschutz hatte Lübcke-Mörder „nicht auf dem Schirm“.
Offene Fragen
Es bleiben neben den oben geschilderten Fragen noch viele ungeklärte Komplexe.
Die Verfassungsschutzbehörden hatten im Umfeld des untergetauchten Terrortrios zahlreiche V-Leute. Aber waren sie wirklich untergetaucht? Hat der Verfassungsschutz sie trotz der V-Leute einfach nicht gesehen? Oder nicht sehen wollen?
Einer der V-Leute, Ralf Marschner, alias „Manole“ alias V-Mann „Primus“ betrieb ein Bauunternehmen. Mehrere Zeugen gaben an, Marschner hätte Uwe Mundlos als Bauarbeiter beschäftigt, der sich allerdings mit einem anderen Namen vorstellte.
Über das Bauunternehmen von Marschner wurden mindestens zweimal Fahrzeuge in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu Morden innerhalb der Serie gemietet.
Konnte das dem Verfassungsschutz tatsächlich entgehen, dass ein gesuchter Terrorist bei einem seiner V-Leute beschäftigt ist?
Hat der Verfassungsschutz durch die V-Leute das Terrortrio unbewusst unterstützt, ohne zu verstehen, wem sie da helfen?
Oder hat er aktiv beim Untertauchen und im Untergrund geholfen?
Die wichtigste Frage, bei der sich viele fragen, ob sie mit der Aktenschredderaktion zusammenhängen könnte ist allerdings eine, die die Republik aus den Angeln heben könnte: waren Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt Informanten des Verfassungsschutzes gewesen? Und haben sie unter den Augen des Geheimdienstes ihre Morde begangen?
Wir werden hoffentlich eines Tages Antworten auf diese Fragen bekommen.
Eine interessante Zufallsentdeckung machten Ermittler nach dem Anschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt von Anis Amri 2016. Der Islamist, der erst einen polnischen Lkw-Fahrer tötete, um mit dessen Lastwagen in den Weihnachtsmarkt fuhr, verwendete als Tatwaffe eine Erma, Modell EP 552, Kaliber .22. Eine identische Waffe mit ähnlicher Seriennummer wurde im Brandschutt in des Unterschlupfs in Zwickau gefunden. Zufall?
Wenn man sich vorstellt, dass der Verfassungsschutz mit ähnlichem Chaos und Dilettantismus Salafisten, Dschihadisten und ähnliches islamistisches Geschmeiß überwacht und führt, kann einem ganz anders werden.