Vor zehn Jahren brachte ein Mörder in den französischen Alpen vier Menschen um: drei Mitglieder einer britisch-irakischen Familie und einen Radfahrer. Nur zwei kleine Mädchen überlebten das Blutbad.
Niemand weiß bis heute, wer der Mörder ist und warum er diese Personen getötet hat. War es ein gezielter Angriff auf die irakisch-stämmige Familie? Oder war der Radfahrer das eigentliche Ziel. Lag das Motiv in einem Erbstreit? Und was hat es mit der außergewöhnlichen Waffe auf sich? Der Bruder des getöteten Familienvaters, der erste am Tatort eintreffende Zeuge und ein Unternehmer aus der Region gerieten ins Visier der Ermittler. Doch gegen keinen von ihnen ließ sich ein Verdacht erhärten.

Es war Anfang September 2012 als der Ingenieur Saad Al-Hilli seine gesamte Familie in den bordeauxroten BMW-Kombi mit dem Wohnwagen steckte und von dem wohlhabenden Londoner Vorort Claygate bis in die Gegend von Annecy nahe der Schweiz fuhr.
An sich ein etwas eigenartiger Zeitpunkt, denn in England hatte gerade wieder die Schule nach den Sommerferien begonnen.
Möglicherweise hatte es mit einer Entdeckung zu tun, die er nach dem erst kürzlich zurückliegenden Ableben seines Vaters gemacht hatte: ein Betrag von 700.000 Pfund Sterling auf einem Bankkonto in Lausanne, von dem ihm sein Bruder Zaid, der auch in England lebt, allerdings nichts erzählt hatte.
Auf dem Campingplatz wird Saad Al-Hilli wenige Stunden vor seinem Tod beobachtet, wie er mit einem Mann in Businesskleidung eine hitzige Diskussion führt. Die Zeugen können nicht sagen, was die Männer besprechen, aber der Besucher schlägt während der Unterhaltung mehrmals heftig mit der Hand auf das Dach des Autos der Stellplatznachbarn. Dieser Mann wird nie identifiziert.
Am frühen Nachmittag macht sich die gesamte Familie mit dem BMW-Kombi auf eine Spazierfahrt in die Umgebung auf. Im Auto sitzen die Eltern, Saad und Iqbal, die beiden Töchter Zeinab (7) und Zeena (4), sowie Iqbals Mutter Suheila.
Nach der Besichtigung der Grotte und des Wasserfalls von Seythenex fährt die Familie weiter in Richtung Chevaline und nimmt dort einen kleinen Waldweg, die Route forestière de la Combe-d’Ire. Dieser Weg verengt sich und wird zu einer Piste mit relativ vielen Schlaglöchern. Der Weg endet an einem kleinen Parkplatz, dem Parking du Martinet. Es ist ein Ausgangspunkt für Wanderungen und Mountainbike-Touren. Ab hier dürfen motorisierte Fahrzeuge nicht mehr weiter in den Wald fahren. Vater Saad Al-Hilli parkt das Auto mit der Motorhaube in Richtung Böschung. Er steigt aus, ebenso wie seine Tochter Zeinab, die vorne auf dem Beifahrersitz gesessen hatte. Vermutlich will Saad sich an dem Wegweiser und der Karte orientieren. Für eine Wanderung ist die Familie nicht gekleidet. Saad hat blaue Crocs an seinen Füßen.
In diesem Moment geschehen zwei Dinge: ein Rennradfahrer, Sylvain Mollier, kommt den Weg aus Richtung Chevaline heraufgefahren und erreicht den Parkplatz und ein Mörder tritt aus dem Dickicht.
Vermutlich ohne Vorwarnung beginnt der Täter auf die Personen zu schießen, die sich außerhalb des Fahrzeugs befinden. Auf wen der Mörder zuerst geschossen hat, können die Ermittler nicht sagen. In Panik steigt Saad Al-Hilli in sein Auto ein und startet den Motor. Zeinab schafft es aus ungeklärten Gründen nicht ins Auto. Möglicherweise wird sie von dem Täter festgehalten (sie ist seit der Tat traumatisiert und hat keine Erinnerungen an den Tathergang; Psychologen haben lange davon abgesehen, in sie zu dringen, um sie nicht zu retraumatisieren, erst vor kurzem wurde sie erneut exploriert).
Saad legt den Rückwärtgang ein und vollführt einen großen halbkreisförmigen Bogen, bei dem er den Radfahrer Sylvain Mollier überfährt und mit sich schleift, bis er mit dem Fahrzeugheck an die Böschung stößt. Der Mörder tötet den Radfahrer, Saad Al-Hilli, seine Frau und seine Schwiegermutter mit jeweils gezielten Schüssen durch die Autofenster in den Kopf. Zeinabs kleine Schwester Zeena schafft es, sich unter dem langen Gewand ihrer Großmutter im rückwärtigen Fußraum zu verstecken und überlebt unverletzt.
Dann versucht der Mörder, Zeinab zu töten und schießt ihr in die Schulter. Entweder ist ihm dann die Munition ausgegangen oder seine Waffe hatte Ladehemmung. Jedenfalls schießt er nicht mehr auf das kleine Mädchen, sondern schlägt ihm mit dem Pistolenkolben auf den Kopf, und zwar mit einer solchen Gewalt, dass ein Stück der geriffelten Griffschale des Pistolengriffs abbricht, was noch eine wichtige Bedeutung bei den Ermittlungen haben wird.
Dann verschwindet der Mörder unerkannt (oder auch nicht).
Der Hauptzeuge
Unmittelbar nach dem Vierfachmord erscheint ein Mountainbike-Fahrer am Tatort, der ehemalige Kampfpilot der Royal Air Force, William Brett Martin, der einen Zweitwohnsitz in Lathuile ganz in der Nähe hat.
Er ist die erste den Ermittlern bekannte Person, die den Tatort nach den Morden erreicht und gleichzeitig auch die letzte, die die Opfer lebend gesehen hat.
Kurz nachdem er sich mit seinem Mountainbike in Richtung des Waldwegs gemacht hatte, wurde er erst von einem Rennradfahrer (Sylvain Mollier), der zügig unterwegs war, überholt und kurz darauf von dem bordeauxfarbenen BMW-Kombi, bei dem ihm allerdings nicht die englischen Nummernschilder und das Lenkrad auf der rechten Seite aufgefallen waren.
Dann kamen ihm aus der Gegenrichtung zunächst ein Auto der Forstbehörde entgegen und kurz darauf ein Motorradfahrer. Er war ganz in schwarz gekleidet und hatte einen weißen Helm, das Visier war heruntergeklappt, so William Brett Martin. Sein Motorrad und sein Topcase waren ebenfalls weiß. Bei seinem Anblick verlangsamte der Motorradfahrer seine Fahrt, so als wollte der Fahrer ihn ansprechen, berichtete William Brett Martin bei seiner Zeugenaussage, doch dann habe der Motorradfahrer seine Fahrt fortgesetzt uns sei an ihm vorbeigefahren.
Kurze Zeit später erreichte William Brett Martin den Parkplatz, wo sich ihm ein Bild des Grauens und des vollkommenen Chaos bot.
Ein kleines Mädchen, Zeinab, stolperte ihm entgegen. Sie stieß einen kurzen Schrei aus und fiel mit dem Gesicht nach unten auf den Boden.
Dann fiel sein Blick auf das Rennrad des Fahrers, der ihn beim Aufstieg überholt hatte. Es lag mitten auf der Straße, etwa 20 m vom Auto entfernt, in Richtung des Aufstiegs.
Seine Aufmerksamkeit wird sodann von dem Auto angezogen. Es ist mit dem Heck in die Böschung gekracht und hat sich festgefahren. Die Räder drehen durch. Im Tod hatte Saad Al-Hillis Fuß das Gaspedal durchgedrückt. Es riecht nach verbranntem Gummi. Ein Reifen ist geplatzt.
Der Radfahrer liegt etwa 30 cm vom Vorderrad entfernt reglos und mit offenen Augen auf dem Rücken. William Brett Martin denkt zunächst an einen Verkehrsunfall bei dem das Auto mit dem Radfahrer zusammengestoßen sein könnte.
Er kümmert sich aber zunächst um das kleine Mädchen. Er tastet ihren Puls und als er feststellt, dass sie noch lebt, nimmt er sie in die Arme und legt sie auf dem Parkplatz ab, damit sie nicht mitten auf der Straße liege.
Dann wendet er sich wieder dem Radfahrer zu. Er zieht ihn vom Auto weg, weil er befürchtet, dass es ihn überfahren könnte, aber er sieht am starren Blick und dem fehlenden Puls, dass für den Radfahrer jede Hilfe zu spät kommt.
Er will nun bei den Insassen des BMW nachsehen, ob alles in Ordnung ist, und bemerkt die gesplitterte Seitenscheibe und ein kleines Loch „vom Durchmesser eines Fingers“. Mit leichtem Druck zerbricht er die Scheibe, um den Zündschlüssel abzuziehen. Er sieht nun den Fahrer, der aufrecht dasitzt, der Kopf hing leicht nach vorne, seine Arme hingen seitlich am Körper entlang. „Für mich sah es so aus, dass er tot war“, sagte er den Ermittlern.
Bei einem Blick auf die Rückbank sah er zwei weitere leblose Frauen. Hier wird ihm klar, dass etwas Unnormales geschehen sein musste.
Es ist 15:43 Uhr. Vier Minuten zuvor hatte er den kleinen Parkplatz erreicht.
Er versucht mit seinem Mobiltelefon den Rettungsdienst zu erreichen, doch in der gebirgigen Gegend hat er kein Netz. Letzteres wurde von den Ermittlern überprüft und bestätigt. Er steigt also wieder auf sein Mountainbike und prescht ins Tal. Etwa 500 m unterhalb trifft er auf eine Gruppe in einem Kastenwagen, die bergauf zu einer Wanderung unterwegs war. In gebrochenem Französisch versucht er der dreiköpfigen Gruppe zu erklären, dass weiter oben mehrere Personen ermordet worden seien und der Mörder noch vor Ort sein könnte und sie dringend umkehren müssten.
Der Fahrer setzt einen Notruf ab, entschließt sich aber dennoch weiter hoch zum Parkplatz zu fahren, um dem kleinen verletzten Mädchen Hilfe zu leisten. William Brett Martin fährt ihm mit seinem Mountainbike hinterher.
Am Tatort wird der Fahrer des Kastenwagens von einer dumpfen Panik befallen: sind der Mörder und dieser seltsame Engländer vielleicht ein und dieselbe Person?
Der Wandergruppe wird nichts geschehen, doch auch den Ermittlern drängt sich auf, dass alle Orts- und Zeitangaben ausschließlich auf den Aussagen von William Brett Martin beruhen. Sie müssen kritisch bleiben, und sich nicht von ihm auf eine falsche Fährte führen lassen. Auch macht es sie misstrauisch, dass der Engländer die Kleider, die er am Tag des Vierfachmordes trug, nach England zum Waschen brachte, obwohl er in seinem französischen Domizil eine Waschmaschine hatte.
Objektive Beweise für eine Täterschaft des Engländers gibt es zum jetzigen Zeitpunkt indes nicht.
Der Tatort
Kurz nach 16:00 Uhr erschienen der Rettungsdienst an der apokalyptischen Szenerie. Zeinab wurde in einem ernsten Zustand ins Krankenhaus gebracht, wo sie in ein künstliches Koma versetzt wurde und auch künstlich beatmet werden musste.
Auch die Gendarmerie ist eingetroffen und riegelt den Tatort ab. Niemand darf sich den Opfern nähern, bis die Experten von der Tatortgruppe der Gendarmerie IRCGN (Institut de recherche criminelle de la gendarmerie nationale) vor Ort sind, die allerdings erst aus Paris anreisen müssen.
Sieben Stunden vergehen. In der Zwischenzeit wird eine Wärmebildkamera eingesetzt, um zu überprüfen, ob im Auto wider Erwarten doch noch Überlebende der Tragödie existieren. Mit negativem Ergebnis.
Erst in der Nacht erhalten die Ermittler von dem Campingplatzbetreiber einen bestürzenden Telefonanruf: die Familie Al-Hilli hatte zwei Töchter, nicht eine.
Sofort stürzen die in weiße Spurensicherungsanzüge gekleideten Ermittler zum Fahrzeug und finden hinter der hinteren linken Tür ein kleines menschliches Wesen. Es ist die kleine Zeena, die sich mehr als acht Stunden lang mucksmäuschenstill im Fußraum unter dem langen schwarzen Gewand ihrer Großmutter versteckt hatte. Als ein Ermittler sie in die Arme nimmt, um sie fortzutragen, huscht ein kleines Lächeln über ihr Gesicht.
Dier Ermittler konzentrieren sich nun auf die Fakten: es wurden 21 Kugeln, Kaliber 7,65 Parabellum, am Tatort gefunden. 17 von ihnen haben die Opfer getroffen. Der Rennradfahrer Sylvain Mollier wurde fünf Mal getroffen, das Ehepaar Al-Hilli jeweils vier Mal, Suhaila, die Großmutter, drei Mal und Zeinab einmal. Ungewöhnliches Detail: allen Mordopfern wurde ein oder zweimal in den Kopf geschossen. Doch in welcher Reihenfolge und unter welchen Umständen?
Die Ermittler wissen es offiziell nicht. Klar ist nur, dass die Projektile aus einer einzigen Waffe abgefeuert wurden. Es gab also einen Täter. Es kann allerdings nicht ausgeschlossen werden, dass er einen Komplizen hatte.
Die Szene spielte sich an einer gut frequentierten Bergstraße ab, wo häufig, Auto- und Radfahrer und Wanderer unterwegs sind. Dennoch haben die Ermittler bis heute keinen direkten Zeugen der Tat finden können.
Die Tatwaffe
Relativ bald können die Ermittler die Tatwaffe anhand der am Tatort gefundenen Stücks der Griffschale des Pistolenkolbens identifizieren.
Das Modell versetzt die Ermittler in Erstaunen: es handelt sich um eine Luger P06/29. Ein uraltes Pistolenmodell, das zu Beginn des letzten Jahrhunderts in der Schweizer Armee als Dienstwaffe für Offiziere ausgegeben wurde.

Sie wurde nach einiger Zeit aus dem Verkehr gezogen, weil sie als unzuverlässig galt, insbesondere wegen des hakeligen Kniegelenkverschlusses. Die Besitzer durften sie jedoch ganz offiziell behalten. Heute ist sie als antiquarisches Sammlerobjekt fast ausschließlich bei Waffenkollektioneuren im Umlauf.
Die Waffe wurde jedoch in so großer Zahl gebaut, dass Versuche, die Besitzketten nachzuvollziehen von vornherein zum Scheitern verurteilt wären.
Andererseits haben die Spezialisten vom IRCGN anhand des Griffstücks herausfinden können, dass es aus einem Material hergestellt wurde, das nur in einem klar eingrenzbaren Zeitraum Verwendung fand. So konnten sie die Anzahl der damit ausgestatteten Pistolen auf immerhin 8000 Stück eingrenzen.
Einen Täter könnten sie allerdings bis heute nicht präsentieren.
Kain und Abel
Was, wenn das Motiv für die Tat in den Erbstreitigkeiten zwischen Saad und seinem älteren Bruder Zaid zu finden wären? Hat Zaid den Mord an seinem jüngeren Bruder in Auftrag gegeben?
Zum Zeitpunkt des Mordes waren die die beiden Brüder über das Erbe ihres ein Jahr zuvor verstorbenen Vaters zerstritten und kommunizierten nur noch über Anwälte miteinander.
Ihr gemeinsamer Vater, Khadim, hatte es im Irak zu relativem Wohlstand als Unternehmer in recht verschiedenartigen Branchen gebracht: im Baugewerbe, in der Geflügelzucht und mit Fabriken zur Herstellung von Toilettenpapier.
Das Erbe umfasste Grundeigentum, zum einen das Haus in Claygate, das Saad Al-Hilli mit seiner Familie bewohnte, weitere Immobilien in Spanien, wo Khadim in einer späteren Lebensphase lebte, sowie Bankkonten in der Schweiz. Insgesamt summiert sich der Wert der Erbmasse zu einem Gesamtbetrag von ungefähr 5 Millionen Euro.
Saad verdächtigt seinen älteren Bruder, ihn um seinen Erbteil bringen zu wollen. Einige Jahre zuvor bezichtigt er Zaid, ein Testament gefälscht zu haben, das ihn zum Alleinerben machte. Auch der Vater bemerkte das und beauftragte Saad mit der Verwaltung seines Vermögens. Für Zaid ein demütigender Affront. Fortan stellte sich ein gegenseitiger Hass zwischen den Brüdern ein. Eine Klärung konnte nicht herbeigeführt werden, da der Vater starb, ohne seinen Nachlass geregelt zu haben.
Für die Staatsanwaltschaft stellt dieser Konflikt um das Erbe ein valides Motiv dar, jedenfalls eines der bedeutsamsten, das sie im Lauf der Ermittlungen aufdecken konnten. Zaid Al-Hilli hatte ein Interesse daran, seinen jüngeren Bruder von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Aber ein Motiv macht ihn noch nicht zu einem Verdächtigen. Es ist auch unstreitig, dass er sich zum Tatzeitpunkt in England aufhielt.
Aber hatte er die Möglichkeit den Mord in Auftrag zu geben? Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es keinen objektiven Anhaltspunkt hierfür.
Andererseits verfolgten die Ermittler eine zunächst vielversprechende Spur. Zeugen hatten angegeben, im Tatzeitraum auf dem Waldweg Combe-d‘Ire einen Geländewagen BMW X5 mit dem Lenkrad auf der rechten Seite gesehen zu haben.
Die Ermittler können jedoch nur einen britischen X5 feststellen, dessen Fahrer am Vortag, dem 4. September 2012, an einer Autobahn-Mautstation ganz in der Nähe bezahlt hatte. Beim Nachgehen dieser Spur finden die Polizisten allerdings heraus, dass einer der Beifahrer irakischer Staatsangehöriger ist und in einem Restaurant in Leeds im Norden Englands arbeitet. Und dieses Restaurant, so finden britische Ermittler heraus, habe Zaid Al-Hilli erst im August 2012 besucht.
Einen stärkeren Beweis gibt es nicht, dennoch kommt Zaid Al-Hilli für sechs Monate in Untersuchungshaft. Bei seinen Antworten bleibt er ausweichend. Die französischen Ermittler erhalten auch nicht die Gelegenheit, ihm alle gewünschten Fragen zu stellen.
Schließlich wird er im Januar 2014 aus dem Gefängnis entlassen, ohne dass sich der Tatverdacht gegen ihn hätte erhärten lassen. Die Zeugenaussage mit dem britischen BMW X5 wird als fehlerhaft verworfen.
Im Gespräch mit französischen Journalisten macht Zaid Al-Hilli seinem Groll gegen die französische Justiz Luft, die ihn zum Sündenbock gestempelt habe. Er wolle nicht nach Frankreich kommen, um Fragen zu beantworten, aus Angst verhaftet zu werden.
Im Übrigen habe er regelmäßigen Kontakt mit seinen Nichten, den Überlebenden des Blutbades, die heute 17 und 14 Jahre alt sind. „Aus Sicherheitsgründen“ könne er nicht ins Detail gehen. Es gehe ihnen gut. Sie sprächen nicht mehr über das, was passiert ist.
Der Rennradfahrer
Die Ermittler nehmen auch einen Perspektivenwechsel ein. Was, wenn nicht die Familie Al-Hilli das Ziel des Mordanschlags war, sondern der Rennradfahrer Sylvain Mollier, der bis dato als Kollateralopfer galt, das einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort war?
Von allen Opfern hat Sylvain Mollier die meisten Schusswunden erlitten, nämlich fünf. Die letzte Kugel traf ihn mitten ins Gesicht, als er schon am Boden lag. Fast so als hätte der Täter einen Zorn oder Hass an ihm auslassen wollen.
Sylvain Mollier stammte aus der Gegend und hatte sich nie weit weg von seinem Geburtsort entfernt. Er arbeite bei einer Tochterfirma des Nuklearkonzerns Areva als Maschinenführer und Schweißer. Er war gewerkschaftlich organisiert bei der kommunistischen CGT und hatte im Übrigen keinen Zugang zu sensiblen technischen Informationen.
Nach einer Fußballverletzung hatte er sich auf das ambitionierte Radfahren verlagert, und fuhr jede Woche zahlreiche Kilometer auf den Straßen der umliegenden Berge mit einem Rennrad, das er einem ehemaligen Radrennfahrer abgekauft hatte.
Am 5. September 2012 war er wieder auf sein Rad gestiegen. Unterwegs nimmt er einen Anruf seiner Ex-Frau entgegen, die etwas wegen des Kantinenessens seines Sohnes klären will. Mit seiner Ex-Frau hat Sylvain Mollier zwei Sohne im Teenageralter. 2003 ließ er sich scheiden und lebte mit einer anderen Frau zusammen, mit der er ein Kind hat.
Eine ganze Weile sind die Ermittler der Spur eines Racheaktes des Ex-Partners seiner neuen Frau nachgegangen, der in demselben Unternehmen wie Sylvian Mollier arbeitet, ohne dass sie etwas ergeben hätte.
Im weiteren Verlauf finden die Polizisten heraus, dass Sylvain Molliers Ex-Frau mit ihrem neuen Partner eine militärische Reservistenausbildung absolviert hat. Beim weiteren Verfolgen dieser Spur finden sie heraus, dass der Ausbilder einen gemeinsamen Bekannten mit dem ersten Tatortzeugen William Brett Martins hat. Doch diese sehr schwache Fährte ergibt nichts Verwertbares.
Auch ein Ex-Fremdenlegionär, der früher einmal der Freund von Sylvain Molliers jüngerer Schwester war, wird verdächtigt. Allerdings ergebnislos. Die Ermittlungen gegen ihn haben ihn jedoch so erschüttert, dass er sich das Leben nimmt.
Wie bei der Familie Al-Hilli bleibt auch der Mord an Sylvain Mollier ein Rätsel.
Der Motorradfahrer
Kurz bevor William Brett Martin den Ort des Blutbades erreichte, kamen ihm erst ein Fahrzeug der Forstbehörde und dann, etwa 250 Meter unterhalb des Parkplatzes, ein Motorradfahrer entgegen, der bei seinem Anblick die Fahrt verlangsamte. Ist er der mysteriöse Vierfachmörder?
Dass sich der englische Mountainbiker den Motorradfahrer nicht ausgedacht hatte, das bewiesen die Aussagen der Beamten der Forstbehörde. Diese hatten etwa zehn Minuten bevor die Opfer erschossen wurden, im Wald, jenseits des Parkplatzes, an dem die Morde geschahen, und ab dem Fahrzeuge nicht mehr fahren dürfen, einen Motorradfahrer zum Umkehren aufgefordert, der dort vorschriftswidrig fuhr.
Der Motorradfahrer hatte keine Anstalten gemacht, sich vor den Forstbeamten zu verbergen, er öffnete sein Visier und sprach mit ihnen. Die Beamten konnten erkennen, dass er einen Bart in Goatee-Form trug. Anhand ihrer Beschreibungen wird ein Phantombild des Motorradfahrers angefertigt. Die Forstbeamten besteigen ihr Auto und fahren talwärts. Der Biker folgt ihnen. Im Rückspiegel beobachten sie, dass der Motorradfahrer an dem Parkplatz Le Martinet anhält.

Die Ermittler wollen natürlich allzu gerne mit diesem Motorradfahrer sprechen, der ein „wichtiger Zeuge“ ist, und in unmittelbarer örtlicher und zeitlicher Nähe zur Tat und zum Tatort war. Doch trotz aller Meldungen und Aufrufe in den Medien meldete sich niemand.
Erst im Jahr 2014 wird der mysteriöse Motorradfahrer identifiziert. Die Ermittler hatten in einer Sisyphusarbeit alle 4000 Inhaber von Mobilfunkverträgen, deren Telefone sich im Tatzeitraum am fraglichen Ort in den Netzen der Mobilfunkantennen eingeloggt hatten, überprüft, und waren auf Pierre C. gestoßen, einen Unternehmer aus der Gegend von Lyon, Träger eines Goatees und Eigentümer eines weißen Motorrads.
Mit den Vorwürfen konfrontiert, leugnete er nicht, am 5. September 2012 in der Gegend von Chevaline gewesen zu sein. Er habe an dem Tag einen Gleitschirmflug absolviert und wollte dann nach Lyon zurückfahren und dabei die Gebirgsstraßen mit dem Motorrad genießen, sagte er aus. Er konnte sich an das Gespräch mit den Forstmitarbeitern erinnern, aber er habe keinen Mountainbike-Fahrer bei seiner Fahrt Richtung Tal gesehen.
Er sei auch an dem Parkplatz Le Martinet vorbeigefahren, doch dort sei ihm nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Von dem Vierfachmord habe er im Übrigen vorher noch nie etwas gehört. Er habe außerdem kaum noch Erinnerungen an diesen Tag.
Eine Version, die ihm die Polizisten nicht abnehmen. Auch wenn man die seine Zeugenaussage immer mit Skepsis betrachten muss: William Brett Martin, der englische Mountainbiker, hatte ausgesagt, dem Motorrad wenige hundert Meter unterhalb des Parkplatzes begegnet zu sein, unmittelbar vor der schrecklichen Entdeckung. Er musste das Massaker gesehen haben. Sylvain Molliers Rennrad lag mitten auf der Straße, er konnte sie nicht befahren haben, ohne das Rad umfahren zu müssen.
Auch irritiert die Ermittler, dass sich der Motorradfahrer trotz des Trommelfeuers in den Medien nach dem spektakulären Mordfall nicht von sich aus gemeldet hat.
Anfang Januar 2022 wurde er kurzzeitig in Polizeigewahrsam genommen. Es ging den Ermittlern darum, bestimmte Punkte zu klären und zu präzisieren. Nach 38 Stunden wurde er wieder freigelassen.
Die Ermittler mussten konstatieren, dass er keinerlei Verbindung zur Familie Al-Hilli hatte. Motive wie Rache, Eifersucht oder aus dem finanziellen Bereich scheiden aus. Beweggründe für einen Mord aus rassistischen, ideologischen oder religiösen Gründen konnten nicht nachgewiesen werden.
Wie in einem makabren Cluedospiel müssen die Ermittler weiter forschen. Es sei denn die Tat wurde von einem bisher noch unbekannten Dritten begangen, den die Polizei bisher noch nicht auf dem Zettel hatte.