Anfang September hat in Paris der Prozess gegen Gehilfen und Mittäter des Massenmörders Mohamed Lahouaiej Bouhlel begonnen, der vor sechs Jahren im französischen Nationalfeiertag mit einem LKW 86 Menschen getötet hat.
Der Täter selbst kann für diese Tat nicht verurteilt werden, weil er unmittelbar nach dem Anschlag von Polizisten erschossen worden war.
Zwangsläufig stellen sich Ermittler, Richter und Terrorexperten die Frage, was den tunesischen Lieferfahrer zu der Tat bewegt hat. Ein Journalist der französischen Zeitung Le Monde hat die Ermittlungsakten einsehen können. Seine Erkenntnisse über die Persönlichkeit des Täters sind entsetzlich und grauenvoll.
Meiner Meinung nach sollte man sich auch mal näher mit der tunesischen Gesellschaft beschäftigen, in der der Täter aufgewachsen ist, denn dort scheint so einiges nicht in Ordnung zu sein, obwohl Tunesien in den Medien gemeinhin als das modernste und fortschrittlichste Land in Nordafrika dargestellt wird.
Bezogen auf den Anteil der Bevölkerung in den Herkunftsstaaten bilden die Tunesier nämlich die größte Gruppe der Terroristen des Islamischen Staats.
Eventuell könnten sich die Soziologen einmal nützlich machen und anstatt sich mit den neuesten absurden Ausgeburten der Sozialwissenschaften zu beschäftigen, dieser Sache auf den Grund gehen.
Hier ist die Übersetzung des Artikels aus Le Monde:
Anschlag vom 14. Juli in Nizza: Werdegang eines Psychopathen, der zum Terroristen wurde.
Über Mohamed Lahouaiej Bouhlel, der 86 Menschen auf der Promenade des Anglais tötete, bevor er erschossen wurde, wird in der Hauptverhandlung, die an diesem Montag [05. September 2022] beginnt, wird nicht geurteilt werden. Doch die Persönlichkeit dieses schwer psychisch gestörten Mannes wird den Prozess überschatten.
Am 05.09.2011 hält eine Polizeistreife vor einem Wohnblock im Viertel von Ray in Nizza, um eine „gewalttätige Familienstreitigkeit“ zu schlichten. Eine 26-jährige franko-tunesische Frau namens Hajer K. hat weinend aus dem Zimmer ihrer Tochter angerufen, in das sie sich eingeschlossen hatte, um der Raserei ihres Ehemannes zu entkommen. Mohamed Lahouaiej Bouhlel, der auch ihr Cousin ist, hatte ihr Faustschläge verpasst und sie über den Boden geschleift, weil sie nicht geputzt hatte.
Nach fünf Jahren an Misshandlungen hat sich die Frau entschlossen, Anzeige gegen ihren Mann zu erstatten, der sie, so sagt sie, seit der Hochzeit „jeden Tag schlägt“. Eine Mediation wird beim Staatsanwalt von Nizza durchgeführt: der gewalttätige Ehemann verlässt das Gebäude mit einem mahnenden Hinweis auf die Rechtslage, während Hajer K. im Gegenzug verspricht, „sich zu Hause Mühe zu geben, damit er wieder die Frau wiederfindet, die er einst geliebt hat.“
Doch in der ehelichen Wohnung geht das Martyrium von Hajer K. weiter. Drei Jahre später, 2014, erstattet sie eine zweite Anzeige wegen „Bedrohungen und quasi täglicher Gewalt“, sogar während ihrer Schwangerschaften. Dieses Mal hat ihr Ehemann auf sie uriniert und in das gemeinsame Zimmer defäkiert.
Er hat sie auch mit dem Tode bedroht und dem Kuscheltier der Tochter mit einem Messer „mitten ins Herz“ gestochen und dabei geschrien: „Glaubst du, ich werde hier aufhören?“
„Er macht mir große Angst“, vertraut sie den Polizisten an. „Meine Kinder und ich sind bei ihm nicht in Sicherheit.“ Auf mehrmalige Vorladungen zum Kommissariat gibt der gefährliche Ehemann kein Lebenszeichen mehr.
Fluss aus Blut
Erst zwei Jahre später, am 20. Juni 2016, wird Mohamed Lahouaiej Bouhlel wegen der zweiten Anzeige seiner Frau befragt, die sich zwischenzeitlich von ihm hat scheiden lassen und allein mit ihren drei Kindern lebt. Er leugnet die Anschuldigungen. Das Ermittlungsverfahren wird nicht abgeschlossen werden können.
In den folgenden Wochen beginnt der tunesische Lieferfahrer von 31 Jahren im Internet Inhalte mit Bezug zum Islam, dschihadistischem Terrorismus, der Miete von LKW und Verkehrsunfällen aufzurufen. In seinem Computer werden die Ermittler folgende Suchbegriffe finden: „schrecklicher tödlicher Unfall“.
Drei Wochen nach seiner Befragung, am 14. Juli 2016 [französischer Nationalfeiertag, AdÜ], rast Mohamed Lahouaiej Bouhlel am Steuer eines gemieteten LKW über die Promenade des Anglais und zermalmt unter seinen Rädern Familien, die sich für das Feuerwerk versammelt hatten und fährt absichtlich in eine Kindergruppe, die fröhlich vor einem Bonbonverkauf stand.
Die Promenade des Anglais ist ein Fluss aus Blut. Die Bilanz der Opfer ist entsetzlich: 86 Tote, darunter 15 Minderjährige und mehr als 300 Verletzte. Nachdem er 4 Minuten und 17 Sekunden lang Tod und Verderben gebracht hat, wird der gewalttätige Ehemann, der zum Terroristen wurde, am Lenkrad seines 19-Tonners von Polizisten erschossen.
Zwei Tage später bekennt sich die Organisation Islamischer Staat zum Attentat desjenigen, den sie als „Soldat des Kalifats“ bezeichnet.
Mohamed Lahouaiej Bouhlel wird nicht für seine Verbrechen im Prozess des Anschlags vom 14 Juli zur Rechenschaft gezogen werden, in welchem ab dem 05. September 2022 acht Personen vor dem speziellen Schwurgericht in Paris angeklagt sind.
Vermutlich werden seine Opfer niemals die tieferen Beweggründe seiner Tat verstehen. Um sich dem Unsagbaren zu nähern, wird man die Zeugenaussagen seiner Verwandten und ihm nahestehenden Personen abwarten müssen.
Schon in den ersten Tagen der Ermittlungen hatten diese ein beängstigendes Portrait gezeichnet: eines psychisch sehr labilen Mannes mit abnormer Sexualität, jedoch mit wenig Interesse an Religion.
Selbst der Teufel hat sich bei ihm inspiriert
Nach dem Anschlag wurde Hajer K., die geprügelte Ehefrau, erneut von den Ermittlern befragt. Wie alle Verwandten des Täters beschreibt sie einen „gestörten“ Mann, der von Sex besessen war und von Gewalt und seinem Aussehen fasziniert war, meilenweit entfernt von den Vorgaben des Islamischen Staats.
„Er ist nicht gläubig, er praktiziert die Religion überhaupt nicht, er isst Schweinefleisch und trinkt Alkohol (…) Ich halte den Ramadan ein. Einmal hat er gesehen, dass ich gebetet habe, weil meine Tochter krank geworden war. Er hat sein Glied herausgeholt und in das Zimmer uriniert, während ich betete. Er betete nie.“
Der Bericht von Hajer K. über die Jahre ihres Martyriums, der Vergewaltigungen, der Beleidigungen und der Schläge zeichnen ein erschreckendes Bild der Psyche des Täters: „Er liebte das Böse, er trat mir mit den Füßen gegen den Kopf, denn er wollte das Blut fließen sehen. Er war ein Monster. Selbst der Teufel hat sich bei ihm inspiriert (…) Die Polizei wollte mich niemals anhören, obwohl ich jahrelang misshandelt wurde (…) Als ich mit meiner zweiten Tochter schwanger war, hat er einen Stock genommen, ihn in zwei Teile zerbrochen und ist in mich eingedrungen. Er hätte meine Tochter töten können. Es gab viel Blut. Mein Baby bewegte sich nicht mehr. Mohamed hat gelacht und ist weggegangen… Er lachte, wenn ich Schmerzen hatte, er war stolz auf sich.“
Labil und pervers tyrannisierte Mohamed Lahouaiej Bouhlel seine Frau, um sie zur Scheidung zu zwingen, damit er sich mit seinen zahlreichen Geliebten vergnügen konnte, aber drohte ihr mit dem Tod, wenn sie ihn verlassen wollte.
„Wenn ich sagte, dass ich gehen würde, antwortete er, dass er mich und meine Tochter aus dem 12. Stock werfen und hinterherspringen würde, denn er hätte keine Angst zu sterben. Er war nie zufrieden. Er sagte, früher sei sein Leben ‚Kaka‘ gewesen, jetzt sei es ‚Pipi‘, erinnert sie sich, bevor sie eine Vermutung über den tieferen Grund seiner Tat ausspricht. „Vielleicht wollte er die ganze Welt töten, um nicht allein zu sterben.“
Ein Attentat ohne Ideologie
War das Massaker von Nizza ein Anschlag oder die Tat eines Geisteskranken? In juristischer Hinsicht vertreten die Richter, die mit dem Ermittlungsverfahren betraut waren, die Auffassung, dass es ein „terroristischer Akt“ gewesen sei, da er die „öffentliche Ordnung durch Einschüchterung oder Terror schwer gestört“ hat, wie es Art. 421-1 des Code pénal (Strafgesetzbuch) definiert. In ihrer Anklageschrift schreiben sie, dass „etwaige Zweifel an der geistigen Gesundheit des Täters nicht die Einordnung seiner Tat als terroristisch in Frage stellen.“
Doch wenn das Strafgesetzbuch den Tatbestand („Störung der öffentlichen Ordnung“) und die Mittel („Einschüchterung oder Terror“) festlegt, so schweigt es sich über die ideologische Dimension des Terrorismus aus. Was war nun das Motiv des Anschlags von Nizza?
Trotz des modus operandi der Tatausführung – die den Empfehlungen des Islamischen Staats entspricht, der dazu aufruft, die Ungläubigen „mit einem Auto“ zu überfahren – und der Bekenntnisbotschaft, das von Propagandaorganen der Gruppe veröffentlicht wurde, entsprechen das Profil und das Verhalten des Täters in keiner Weise denen eines Dschihadisten.
Abgesehen von der Nicht-Religiosität hat er kein Testament noch einen Treueeid oder das geringste Bekenntnis hinterlassen, und die Richter selbst halten die Bekennerbotschaft des Islamischen Staats für rein opportunistisch.
Kann ein Anschlag ohne klares ideologisches, politisches oder religiöses Motiv des Täters überhaupt als terroristisch eingestuft werden?
Der Werdegang von Mohamed Lahouaiej Bouhlel, so wie er von seinen Verwandten dargestellt wurde, erlaubt es vielleicht besser, die Beweggründe seiner Tat zu bestimmen und die Art und Weise wie die ständigen Mordaufrufe des Islamischen Staats in dieser Periode auf seine verstörte Seele abgefärbt und bereits angelegte Todestriebe enthemmen konnten.
Selbstmordversuche
Mohamed Lahouaiej Bouhlel, der in Tunesien in einer wenig liebevollen Familie aufwuchs, wo die Gewalt an der Tagesordnung war, hat Hajer K. anvertraut, dass er schwere Misshandlungen durch seinen Vater erlitten hat und in seiner Jugend zwei Selbstmordversuche unternommen hat. „Beim zweiten Versuch hat er versucht, sich sein Geschlechtsteil mit einem Rasiermesser abzuschneiden“, hat sie den Ermittlern erzählt. Die schweigsame und aggressive Persönlichkeit des Jugendlichen hat irgendwann selbst seine Eltern in beunruhigt, die ihn im Alter von 16 Jahren zu einem Psychiater geschickt haben.
Als er selbst Vater wurde, sagte er oft zu seinen Kindern, dass „er Jesus sei und weder Vater noch Mutter hätte“, erinnert sich seine Ex-Frau.
Eine Freundin von Hajer K. hat eine sehr klare Meinung über seine geistige Gesundheit und die Motive der Tat: „Er war vollkommen bekloppt (…) Er lachte nicht wenig über die Religion. Weil Hajer gläubig war, beleidigte er Gott vor ihr, um sie zu provozieren“, sagt sie, bevor sie eine ahnungsvolle Erinnerung erwähnt: „Er war fähig, so zu tun, als würde er Leute überfahren und dann zu lachen, wenn er Auto fuhr… Für mich ist er ein Sadist und er hat es [das Attentat] aus Sadismus verübt.“
Wenn der Täter eine zumindest distanzierte Beziehung zur Religion hatte, haben jedoch Verwandte und nahestehende Personen bemerkt, dass er in den Wochen vor dem Attentat begonnen hatte, sich für den Islam zu interessieren. Einer seiner Freunde berichtete, dass Mohamed Lahouaiej Bouhlel ab Juni 2016 begonnen hatte, Koranrezitationen zu hören und ihn sogar eine Woche vor dem Attentat zum ersten Mal in seinem Leben zum Gebet zum Fastenbrechen am Ende des Ramadan begleitete.
Nach dem Bericht des Freundes hatte die Erfahrung in der Moschee keine mystische Offenbarung in ihm ausgelöst: „Am Schluss hat er mir nur gesagt, dass er sich gelangweilt hätte.“
Aufhebung eines Tabus
Nach dem Bericht eines anderen Freundes, einer der acht Angeklagten über die im Prozess geurteilt werden wird, hatte der Täter etwa zehn Tage vor dem Attentat begonnen, Lobreden über den Islamischen Staat zu halten.
In seinem Computer hatten die Ermittler ultrabrutale Bildersammlungen entdeckt, auf denen Leichen, Exekutionen des IS, Verkehrsunfälle, Folterszenen und zoophile Photos gesammelt waren. Eine besorgniserregende Mixtur, bei der die Faszination für Gewalt jede Form von Ideologie übertrifft.
Für die Untersuchungsrichter ist es genau diese „bereits angelegte Affinität zur Gewalt in Verbindung mit einer labilen und gewalttätigen Persönlichkeit“, die weit davon entfernt, die These einer Blitzradikalisierung zu widerlegen, „eine Anziehung für die radikale, dschihadistische Ideologie begründet haben“.
Sie bringen daher die Vermutung vor, „dass die vorbestehende psychopathische Funktionsweise in der radikalen islamistischen Ideologie den notwendigen Nährboden gefunden hat, der die Ausführung der mörderischen Tat begünstigt hat.“
In den Augen der Richter wurde der Anschlag auf der Promenade des Anglais durch den damaligen Kontext ermöglicht, was dem Massenmord seine dschihadistische Färbung gegeben hat: die Anschläge und die Propaganda des IS hätten dazu beigetragen, ein Tabu im verstörten Geist des Täters aufzulösen und damit eine Mordlust entfesselt, die schon lange in ihm gereift war.
Es ist erneut ein Freund von Mohamed Lahouaiej Bouhlel, der vermutlich am besten die Ambivalenz der Tat zusammenfasst: „Ich denke, dass er die Terroristen als Beispiel genommen hat, auch wenn er nicht als Dschihadist gehandelt hat.“
Zu der Tunesien-Frage gibt es durchaus schon Forschung, zB:
https://www.jstor.org/stable/26631539#metadata_info_tab_contents
https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/tunisias-foreign-fighters
Wie immer ist nichts monokausal.
Meiner Meinung nach werden dabei allerdings oft die ganz praktischen Aspekte zu wenig oder gar nicht berücksichtigt, weil man unbedingt eine politikwissenschaftliche, soziologische oder theologische Erklärung finden möchte.
Vielleicht hat Tunesien im Vergleich zu Algerien und Libyen aber auch einfach mehr Flugverbindungen nach Istanbul, von wo aus man schwupp in Syrien ist. Außerdem benötigen Tunesier im Gegensatz zu Libyern und Algeriern kein Visum für die Türkei.
Und Libyer können sich ja außerdem im eigenen Bürgerkrieg „austoben“.
Vielen Dank für den Link erstmal. Sehr interessant.
Ja, Du hast natürlich recht. Ich habe da auch keine vorgefasste Meinung.
Es gibt aber nun diese auffällige Häufung. Und die muss einen Grund haben. Auch wenn er völlig banal sein mag, würde ich die Ursache hierfür gerne kennen.
Da ISIS auch in Libyen aktiv ist, stellt sich mir die Frage, warum die tunesischen Dschihadisten dann nicht in ihr Nachbarland reisen und stattdessen nach Syrien, in das „Kalifat“.
„River of blood“, erinnert mich an einen alten Song der Doors: „There’s blood in the streets, it’s up to my ankles (she came).. Blood in the streets, it’s up to my knee (she came)…“
Viele Jahre später erreichen mich diese Textzeilen, die ich in jungen Tagen fröhlich mitposaunt hatte, und die mich jetzt nur noch ratlos zurücklassen.
Kann gut sein, dass sich der Journalist (unbewusst) von der Textzeile hat leiten lassen.
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