Im Anschluss an den letzten Artikel zum Terroranschlag am 14. Juli 2016 in Nizza, wollte ich noch einen weiteren Artikel über den Verhandlungsteil hinzufügen, in welchem die Eltern und Freunde über die Persönlichkeit des Täters ausgesagt haben.
Zwischenzeitlich sind alle Angeklagten als Mittäter und Gehilfen zu teils hohen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Zwei von Ihnen zu 18 Jahren Gefängnis. Ich habe es nur nicht früher geschafft, den Artikel zu übersetzen.
Was in diesem Teil des Prozesses über die Persönlichkeit des Täters zur Sprache kommt, ist mehr als bizarr.
Ich bin weder Sozialarbeiter noch Psychologe und dennoch bin ich der Meinung, dass die Eltern von Mohamed Lahouaiej Bouhlel einen überragenden Anteil an der kranken Persönlichkeit und damit auch an der Tat selbst haben. Ich glaube überdies, dass man das bei islamistisch motivierten Tätern durchaus generalisieren kann: die Erziehung mit und die Normalisierung und Banalisierung von Gewalt, die Bildungsverachtung bzw. das Streben nach einer formalisierten in Diplomen darstellbaren Bildung, die Ignoranz, das Nicht-Wissen-Wollen, die Schuldabwehr…
Ich bin nicht abgeneigt, bei solchen Taten, die Eltern mit auf die Anklagebank zu setzen.
Versuch der Ergründung eines „Monsters“
Die Sitzungswoche, die vergangenen Freitag geendet hat, war der Persönlichkeit des Terroristen gewidmet. Um die zehn Verwandte und ihm nahestehende Personen haben von seiner Kindheit in Tunesien berichtet, von seiner Obsession für Sex, seinen „Verhaltensauffälligkeiten“. Ein vielstimmiges Portrait, das jedoch nicht vermocht hat, die tieferen Beweggründe seines wahnsinnigen Verbrechens zu verstehen.
Wie kann man die Persönlichkeit eines Täters rekonstruieren, der das Undenkbare begangen hat, eines der monströsesten Massaker, das man sich vorstellen kann?
Wie kann man die tieferen Beweggründe eines Terroristen entschlüsseln, bei dem alles darauf hindeutet, dass er psychisch schwer gestört war.
In Ermangelung einer psychiatrischen Expertise, mangels erwiesener Mittäter oder eines selbstverfassten Bekennerschreibens hat Mohamed Lahouaiej Bouhlel, der am 14. Juni 2016 an Bord eines LKW 84 Menschen getötet hat, indem er in die Menge gefahren ist, das Geheimnis seiner wahnsinnigen Tat mit ins Grab genommen.
War der Mörder Promenade des Anglais verrückt? War er depressiv, selbstmörderisch und sadistisch, radikalisiert oder all das zugleich?
Im Verlauf der vergangenen Prozesswoche, deren Verhandlung vollständig der Persönlichkeit des Terroristen gewidmet war und die am Freitag, dem 28. Oktober (2022) geendet hat, hat das spezielle Schwurgericht von Paris versucht, das Unentwirrbare zu entwirren durch die Zeugenaussagen von ihm nahestehenden Personen.
Jede dieser Personen hat eine Facette des Sohns, des Bruders, des Neffen, eine Erinnerung an den Liebhaber, ein Teilchen des „Monsters“ beigesteuert.
Die genaue Natur seiner Störungen und der Auslöser für seine Tat blieben unbegreiflich. Doch im Zuge der Befragungen, um Verlauf der Zeugenaussagen hat sich allmählich ein Mosaik abgezeichnet, das Portrait eines labilen Mannes, der Frustration nicht ertrug, reizbar und gewalttätig war, der narzisstische Störungen aufwies, zur Empathie unfähig und dem Religion „schnuppe“ war, der jedoch schließlich begonnen hatte, sich in den Wochen vor der Tatbegehung sehr oberflächlich für den Islam zu interessieren.
Seine Eltern und seine Schwestern, die aus Tunesien angereist waren, haben als erste im Gerichtssaal seine Kindheit in einer ungebildeten Familie aus M’Saken, einer kleinen Stadt im Sahel von Tunesien, seine gequälte Jugend, seinen Klassen-Komplex, seine „Verhaltensauffälligkeiten“ und auch seine Zornausbrüche beschrieben.
Andere ihm nahestehende Personen, die in Frankreich leben, eine Tante, ein Schwager, ein Cousin, ein Liebhaber und seine zwei Geliebten haben später sein Leben in Nizza beschrieben, seine krankhafte Obsession für Sex, seine Frau, die er nach Lust und Laune verprügelte und auch hier wieder seine Verhaltensauffälligkeiten
Er hasste sich
Vor seiner Jugend in Tunesien hat man einen Charakterzug registriert, den der Mörder bis zu seinem Tod mit 31 Jahren begleitet zu haben scheint: Mohamed Lahouaiej Bouhlel mochte sich nicht. „Er hasste sich“, hat seine Tante Rafika in ihrer Zeugenaussage zusammengefasst, dem einzigen Familienmitglied, dem sich der Terrorist nach dem Aufbruch nach Frankreich noch verbunden fühlte. Dieser Selbsthass wurde nur noch von einem tiefen Ressentiment gegenüber seinen Eltern übertroffen: „Er war hasserfüllt, er sagte, dass sie Ratten seien und Wilde“, sagt die alte Tante, in einen großen schwarzen Mantel gehüllt.
Der Ursprung dieser Wut? Die Scham über seine soziale Herkunft, ein Gefühl der Ungerechtigkeit, für das er seinen Vater verantwortlich machte. Dieser ließ ihn auf seinem Bauernhof schwer arbeiten und der junge Mohamed litt darunter, schlecht angezogen zu sein und in der Schule zu stinken, weil er sich um die Tiere kümmern musste, was ihm die Hänseleien seiner Mitschüler einbracht e.
„Er fühlte sich von den anderen Kindern geringgeschätzt, da er nicht gut angezogen war, er roch schlecht“, erzählt die Tante.
„Es war nicht gerade wie in Mogadischu bei ihnen aber fast. Im Ort galten sie als Hinterwäldler“, bestätigt sein Cousin Mehdi, der sich als Bäcker im Département Alpes-Maritimes niedergelassen hat.
Wenn man ihm Glauben schenkt, hat Mohameds Vater seine Kinder „auf die harte Tour erzogen“: er erinnert sich, dass er sich, dass er sie einmal gesehen hat, wie sie alle aus einem Bottich gegessen haben und sich um die Stücke stritten, „wie Tiere“.
War es also wegen seiner Komplexe und der Hänseleien über seine äußere Erscheinung? Jedenfalls hat Mohamed Lahouaiej Bouhlel beim Heranwachsen eine Obsession für seinen Körper entwickelt. Er praktizierte regelmäßig Bodybuilding und konsumierte „große Flaschen mit Proteinen“, erinnert sich sein Vater Mondher, ein Landwirt von 63 Jahren mit von der Sonne zerklüfteter Haut, der die Reise aus M’Saken angetreten hat, um die Fragen des Gerichts zu beantworten. „Er hatte ein Talent für nur eine Sache: Bodybuilding. Er beobachtete sich die ganze Zeit im Spiegel“.
Gefährlicher Blick
Je weiter er heranwuchs und Muskeln bekam, begann er, der selbst die Schläge und den Stock seines Vaters zu spüren bekommen hatte, seine Brüder und Schwestern beim geringsten Ärgernis zu schlagen.
– „Haben Sie schon mal ihren Sohn geschlagen?“ fragt der Vorsitzende den Vater.
– „Ja, er gehorchte nie! Ich lebe auf dem Land. Dort schlägt jeder seine Kinder, aber es hinterließ keine Spuren… Er bekam manchmal eine Ohrfeige oder einen Fußtritt…“
„Es kam vor, dass sein Vater in schlug, normal, nicht mehr als die anderen, aber Mohamed war der älteste. Es stimmt, dass es ein bißchen hart war, wir wollten, dass er im Leben Erfolg hat, dass er ein Mann wird“, erinnert sich seine Mutter Chérifa, eine Frau von 58 Jahren mit pergamentener Gesichtshaut, eingehüllt in ein langes khakifarbenes Gewand, den Kopf mit einem rosafarbenen Kopftuch bedeckt.
Hier beginnt das Kapitel der „Verhaltensauffälligkeiten“ des Mörders, das Wort ist mehrfach im Verlauf der Verhandlung aufgetaucht. Wie jener Tag als Mohamed Lahouaiej Bouhlel seine ganze Familie zu Hause mithilfe einer Kette eingesperrt hatte, weil ihm sein Vater kein Motorrad kaufen wollte. Oder dieses andere Mal, als er die Türen und Fenster des elterlichen Hauses zerstört hatte, was seinen Vater dazu bewogen hat, mit ihm einen Psychiater aufzusuchen.
Das war im Jahr 2004, Mohamed war 19 Jahre alt. „Als ich die Türen und Fenster beim Nachhausekommen zerstört vorgefunden habe, habe ich gefragt, was passiert ist. Er hat nicht geantwortet, er hat mich mit einem gefährlichen Blick angeschaut. Er ist jähzornig, er wird wütend, wenn er ein Problem nicht regeln kann. Wenn er auf ein Hindernis stößt, wird sein Kopf rot und blau… Der Doktor hat ihm ein Medikament zur Behandlung verschrieben, aber er hat sich nicht daran gehalten, denn die Medikamente machten ihn müde während seiner Kurse an der Universität.“
Unersättlicher sexueller Appetit
Drei Jahre später zieht Mohamed Lahouaiej Bouhlel nach Nizza mit seiner jungen Frau, die auch gleichzeitig seine Cousine ist. Er ist 22 Jahre alt. Diese, mit der er drei Kinder bekommen hat, war das erste Opfer seiner Gewaltausbrüche, die sie dazu bewogen hat, zweimal Anzeige zu erstatten. Der Mörder hat sie fast jeden Tag, den ihre Ehe gedauert hat, geschlagen, er hat sie mit einem Stock vergewaltigt als sie schwanger war, sie mit dem Tod bedroht, auf sie uriniert und in ihr Zimmer defäkiert. Die junge Frau, von den Jahren der ehelichen Gewalt und dem Attentat traumatisiert, hat nicht die Kraft gefunden, als Zeugin auszusagen.
Abdallah, der Schwager des Terroristen, hat schließlich im Zeugenstand diese Begebenheit berichtet: „Er sagte mir, dass er in ihre Wohnung defäkierte, wenn sie sich weigerte zu putzen. Das war seine Art zu reagieren. Er war der Auffassung, dass sie sich nicht gut um ihn kümmerte, dass sie ihn vernachlässigte.“
Ihm zufolge warf der Mörder seiner Frau auch vor, ihn sexuell nicht zu befriedigen. Dazu muss man sagen, dass sein Sexualtrieb unersättlich war: bis zu sechs Mal am Tag, hatte seine arme Ehefrau den Ermittlern berichtet, die zu ihrer Mutter floh, wenn er zu zudringlich wurde. „Er sagte, dass er die ganze Zeit einen Steifen hätte“, erinnert sich sein Schwager. Wenn seine Frau nicht mit ihm schlafen wollte, hatte er eine aufblasbare Puppe, um sich zu erleichtern.
Seine Obsession für Sex hat den eingefleischten Aufreißer, der als „sehr aufdringlich und penetrant“ beschrieben wurde, der jedoch nach einhelliger Ansicht die Frauen „vergötterte“, dazu gebracht, vier Jahre lang intime Beziehungen mit einem Mann, dem vierzig Jahre älteren Robert. „Er nannte mich ‚mein Lieber‘ aus Gag“, erinnert sich der kleine 80-jährige Mann mit der Erscheinung eines jungen Mannes, der während seiner aktiven Berufsjahre, eine Gaysauna in Paris betrieben hatte.
Auf Befragen der Staatsanwaltschaft, willigt der Rentner ein, zu wiederholen, was er schon im Jahr 2020 vor der Presse erklärt hat: während des Verkehrs mit dem Terroristen, wollte „Momo“, wie er ihn nannte, die Rolle einer liederlichen Frau spielen. Das war eine Phantasie zwischen uns. Um ihm Lust zu bereiten, behandelte ich ihn wie eine Pennerin und machte mit ihm Dinge von der Straße und das gefiel ihm.“
Die Erinnerung an die geflickten Kleider und den Klassen-Komplex des jungen Mohamed schwebt im Gerichtsaal.
Unempfindlich für Emotionen
Abgesehen von Robert, der sich selbst als „Mentor“ und väterliche Figur beschreibt, hatte der Mörder noch zwei andere länger andauernde Beziehungen zu zwei Frauen, auch sie älter als er. Beide hatte er bei Salsakursen kennengelernt: Dominique, eine schöne, adrette und gepflegte Frau von 65 Jahren, dreißig Jahre älter als er, eine Sprechstundenhilfe in Rente und Evelyne, eine Chefsekretärin von 55 Jahren. Alle drei beschreiben einen zwar labilen aber dennoch höflichen und charmanten Mann.
„Er war sympathisch, lächelnd, vollkommen normal. Ich habe nicht das Monster vom 14. Juli gekannt“, sagt Evelyne. „Er war schweigsam, einzelgängerisch, er erschien mir unglücklich in seinem Leben, er hatte Komplexe… Aber ich habe nichts Besorgniserregendes bemerkt. Nach dem Attentat habe ich nicht die Verbindung zu dem Mann herstellen können, den ich gekannt habe“, erinnert sich Dominique, die ihn „chouchou“ (Schatzi) nannte.
Robert räumt allerdings ein, dass Mohamed Lahouaiej Bouhlel zwei Gesichter haben konnte: „Er war ein hübscher Junge, wenn er lächelte, aber wenn er nicht lächelte, waren seine Augen Kalaschnikows, er sah sehr böse aus. Wenn er kalt und gefühllos war, hatte er diesen schwarzen, starren Blick, der die Seele dieses Jungen widerspiegelte.“
– „Fanden Sie ihn kalt, gefühllos?, fragt der Vorsitzende nach.
– „Ja, schon…unempfindlich für Emotionen. Eines Tages auf der Promenade des Anglais, das Meer war aufgewühlt, schleuderten die Wellen Kieselsteine auf die Geschäfte. Momo hat begonnen angesichts der Schäden vor Freude zu springen, er lachte wie ein Verrückter. Mir tat es leid, die Händler zu sehen, wie sie hektisch versuchten, ihre Sachen einzupacken. Ich fragte ihn: „Findest du dieses Desaster lustig? Er sagte ja. Er musste seine Stimmungen haben…“
„Er sagte, dass er Jude sei“
War es, um die Scham seiner Jugend in Tunesien ein für alle Mal zu verbannen? Seiner Tante Rafika zufolge hatte Mohamed Lahouaiej Bouhlel die Angewohnheit, sich „Salomon“ nennen zu lassen und auch „Shalom“ zu sagen. Robert bestätigt das: „Wenn er Salsa tanzen ging, sagte er, dass er Jude sei und manchmal auch Brasilianer. Ich sagte zu ihm, warum sagst du nicht, wer du bist? Er sagte nur, dass er sich schämte, dass er Araber hasse. Er selbst fühlte sich nicht wohl, er wäre lieber Europäer gewesen… Für mich hat er keine Rasse ausgewählt, um es [das Attentat] zu begehen, er hat es getan, damit man von ihm spricht…“
Abdallah, der Schwager, bestätigt, dass der Terrorist, der Schweinefleisch aß, demonstrativ mit seiner Herkunftskultur gebrochen hatte: „Er kritisierte die ganze Zeit den Koran und seinen Vater, das sind Dinge, die man nicht so sehr in der arabischen Kultur tut. Irgendwas lief nicht gut in seinem Kopf…“ „Er verspottete die Religion und alles übrige auch“, bestätigte seine Tante.
Was könnte die Tatbegehung des Mannes, der die Religion verachtete, erklären? Mehrere der ihm nahestehenden Personen hatten Veränderungen bei dem Mörder in den Wochen vor dem Anschlag beobachtet.
Die erste war körperlicher Art: Mohamed Lahouaiej Bouhlel, der regelmäßig Bodybuilding betrieb, hatte stark an Gewicht verloren. „Er war abgemagert und war an den Schläfen weiß geworden“, erinnert sich Evelyne. „In kurzer Zeit war er gealtert“. Robert hatte auch diese Veränderung bemerkt, die laut ihm auch mit einer Verhaltensänderung einherging: „Er war in der Zeit unmittelbar davor sehr kalt geworden, immer traurig, er lächelte nicht mehr.“
In diesem Zeitraum, der möglicherweise eine depressive Episode darstellte, hat der Mörder zum ersten Mal in seinem Leben begonnen, sich für den Islam zu interessieren. Er lauschte Suren des Korans, surfte auf dschihadistischen Internetseiten, ging acht Tage vor dem Attentat in die Moschee, zum Gebet zum Schluss des Ramadans, den er jedoch nie eingehalten hatte.
Hat er in der Religion einen Sinn für seinen Selbstmord und sein Massaker gesucht, der im Begriff war zu begehen? Keiner seiner Familienmitglieder oder Freunde war in der Lage gewesen, eine Erklärung für seine Tat zu geben: „Warum hat er all die Menschen umgebracht“, fragt sich seine Schwester Rabeb, die wie ihre Eltern aus Tunesien in der Hoffnung angereist war, zu verstehen.
„Ich habe den Eindruck, dass er zwei Persönlichkeiten hatte. Sagen wir, dass er seelisch krank war… aber in dem Fall, warum hat er sich nicht einfach umgebracht? Das hätte ich akzeptiert. Das hier, das verstehe ich nicht…“.
„Wenn er nicht lächelte, waren seine Augen Kalaschnikows.“
Wenn man etwas liest, das einen hinter die Dinge schauen lässt, nur ein bisschen, ein paar Absätze, gibt’s nur noch eine mögliche Reaktion: Was für eine unerträgliche Scheiße, dieses Leben.
In der Tat. Das Schlimme ist, dass man sich gar nicht klar macht, dass es wahrscheinlich mehr von solchen innerlich brodelnden Menschen gibt, als man denkt. Danke übrigens fürs Vertweeten.
Komischerweise ist der Re-Tweet bei mir wieder rausgerutscht. Werde ich erneuern.
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