„Craigslist Ripper“ gefasst?

Seit dreizehn Jahren warten die Mordopfer von Gilgo Beach darauf, dass ihr Mörder zur Rechenschaft gezogen wird.

Nachdem sie ermordet wurden, hatte jemand die neun Frauen, einen asiatischen Mann in Frauenkleidern und einen Säugling, auf einem Abschnitt von 3 km Länge in einer langen Reihe im Dickicht zwischen Highway und Ozean abgelegt. Erweitert man den Radius noch etwas, kommen sogar 18 Morde für die Serie in Betracht.

Long Island ist eine langgezogene, breite Insel, südöstlich von New York City. Viele Pendler wohnen hier, die sich Manhattan und auch die anderen Boroughs nicht mehr leisten können.

Südlich von Long Island befindet sich eine sehr schmale langgezogene Sandzunge: Jones Beach Island. Weiter östlich davon befindet sich das ehemalige Refugium und Schwulenparadies Fire Island. Heute ist es sehr schick und upperclass, die schwule New Yorker Kunstbourgeoisie hat dort ihre Sommerfrischen. Auch Jones Beach Island ist in den Sommermonaten ganz reizvoll. In den Wintermonaten und vor allem nachts ist es allerdings ein sehr unheimlicher Ort.

Der Ocean Parkway läuft schnurgerade und parallel zum Ozean. Links und rechts der Fahrbahn, zwischen Straße und Meer wuchert ein dichtes und undurchdringliches Unterholzgestrüpp. Nachts ist die Straße vollständig unbeleuchtet.

Im Jahr 2010 hatten Polizisten auf der Suche nach einer Prostituierten, die nach einem Treffen mit einem Kunden einen panischen Notruf abgesetzt hatte, den Strandabschnitt abgesucht und hatten geschockt eine Leiche nach der anderen aus dem Boden gegraben.

Altgediente New Yorker Cops kannten die Gegend als „Verklappungsort“ der Mafia. Die Mobster aus New York und New Jersey hatten schon seit den 1930er Jahren ihre Opfer schnell und unkompliziert an diesem einsamen und verlassenen Ort entsorgt.

Aber diese Opfer passten überhaupt nicht in das Mafia-Schema. Die Gangster aus den Familien mit den Vokalen am Namensende waren nicht bekannt dafür, Frauen, Männer in Frauenkleider oder Säuglinge zu ermorden.

Es musste etwas anderes dahinterstecken.

Jetzt steht der spektakuläre Serienmord möglicherweise vor der Aufklärung. Zumindest teilweise.

Die Polizei von Suffolk County auf Long Island bei New York gab am Freitag, dem 14.07.2023 bekannt, sie habe den mysteriösen Serienkiller, den sie dreizehn Jahre lang gejagt hatte, festgenommen.

„Craigslist Ripper“ oder auch „Long Island Serial Killer“, abgekürzt LISK, so hatte ihn die Sensationspresse genannt, die immer erpicht darauf ist, Verbrechern ein Sobriquet zu verpassen, um dem gespenstischen Unbekannten eine Ersatzpersönlichkeit zu geben und die Leser gleich zu orientieren.

Nun wurde Rex Heuermann aus Massapequa Park auf Long Island vor seinem Büro in Manhattan festgenommen, wo er ein Architekturbüro betreibt.

Er soll drei Prostituierte ermordet haben, die nah beieinander am Strandabschnitt von Gilgo Beach gefunden wurden und ist der Hauptverdächtige im Mordfall einer vierten. Ob er mit den anderen Leichen in Verbindung steht, werden die Ermittlungen zeigen.

Die Boulevardzeitung „New York Post“, gegen die im Vergleich dazu unsere hiesige „Bild“-Zeitung wie ein Intellektuellenblatt daherkommt, breitet genüsslich Interviews mit Nachbarn, die ihn „schon immer schräg“ fanden, und alle Details aus der Vergangenheit und dem Privatleben aus: alte High-School-Fotos, auf denen der Verdächtige linkisch in die Kamera grient, oder alte Tweets seiner Frau, Gegenstände aus seinem Haus.

Beim Betrachten des Mugshots macht sich einerseits Enttäuschung breit aber es bestätigt sich auch eine Gewissheit, nämlich dass Serienmörder die Verkörperung der Banalität des Bösen sind.

Es erweist sich wieder einmal, dass Serienmörder nicht die Monster sind, als die man sie sich kollektiv vorstellt, d.h. als mißgebildete Unholde mit Narben, Zahnlücken und irrem Blick. Nein. Es ist der nette Familienvater von nebenan. Der fast karikaturhaft fleischgewordene „Family Guy“. Ein biederer Familienvater, der mit seiner Frau außerhalb von New York City wohnt und morgens nach Manhattan in sein Büro pendelt. So ähnlich wie „Machine“, der Mörder für Snuff-Movies in dem Film „8mm“ mit Nicolas Cage, der ein biederes Leben bei seiner Mutter führt.

Man muss keine besonders große Menschenkenntnis besitzen oder ein großer Psychologe sein. Man sieht das Bild, sieht den Mann und weiß, was Sache ist: ein stupider, nervtötender Job. Eine dumpfe, ereignislose Existenz, die im Nichts begonnen und im Nichts enden wird, nur eine belanglose Abfolge monotoner und trostloser Ereignisse und die Gewissheit, dass da auch nichts mehr kommen wird. Eine übergewichtige, klimakterische Ehefrau, die keinen Sex mehr will. Wenn’s hochkommt noch ein oder zweimal im Jahr ein lustloser Fick. Vielleicht auch gar nicht mehr. Die Besuche bei Prostituierten. Der Zorn und der Hass, der sich jahrelang, jahrzehntlang angesammelt hat. Die Mordinstinkte, die in jeden von uns schlummern und durch komplexe, psychologische Unterdrückungsmechanismen in Schach gehalten werden und die plötzlich nicht mehr zu bändigen sind.

War es so? Oder vielleicht ganz anders? Die Rechtstreue gebietet uns jedenfalls, bis zu einer Verurteilung von der Unschuld des Beschuldigten auszugehen.

Alle weiblichen Opfer des Long Island Serial Killers waren drogensüchtige Prostituierte aus dysfunktionalen Scheidungsfamilien, die er auf dem Kleinanzeigenportal „Craigslist“ kontaktiert hatte. Sie hatten ein oder mehrere Kinder von teils unterschiedlichen Vätern. Sie perpetuierten die erlernten Beziehungserfahrungen, also Scheidung und Trennung, zogen ihre Kinder allein auf. Dann kamen Drogen und Prostitution. Alle waren von ihrer körperlichen Konstitution auffallend klein und zierlich. Mehrere der Mordopfer waren in Jutesäcke oder -bahnen gewickelt.

Dies soll kein Werturteil über die ermordeten Frauen darstellen. Ganz im Gegenteil. Ich beabsichtigte damit soziologische Klassifizierungen, um den sozio-ökonomischen Background der Opfer zu beleuchten und natürlich um in forensischer Hinsicht das spezifische Opferprofil des Serienmörders einzugrenzen.

Interessant ist, dass Rex Heuermann als mutmaßlicher Serienkiller fast schon einer aussterbenden Spezies angehört. Denn Untersuchungen haben nachgewiesen, dass die Anzahl der Serienmörder in den USA in den 1980er Jahren am höchsten war und Ende der 1990er Jahre rapide heruntergeht. Hierfür mag es unterschiedliche, valide Gründe geben.

Auffällig ist jedoch, dass das Sinken der Anzahl der aktiven Serienmörder mit einem spezifischen Ereignis zusammenfällt: dem Amoklauf an der Columbine High School im April 1999

Wie der bereits erwähnte Schriftsteller Hazukashi in einem Tweet bereits sehr richtig diagnostiziert hat, ist das Morden in einer Gesellschaft nicht beziehungslos. Die psychotische Dekompensation, die den Täter zur Tatbegehung veranlasst basieren auf einem kulturellen Substrat und unterliegen auch Nachahmungseffekten.

Der Serienmörder vom Typ eines Jeffrey Dahmer, Ed Gain oder Ted Bundy, der sich in seinem mit Zeitungsausschnitten seiner Taten tapezierten Keller bei Kerzenlicht an Trophäen ergötzt, die er seinen Opfern abgenommenen hat, gehört einer vergangenen Epoche an.

Der von Michael Douglas dargestellte William „D-FENS“ Foster aus „Falling Down“ muss nicht mehr Frauen stalken, um seinen mörderischen Trieben nachzugeben, er nimmt sich seine AR-15, die er im örtlichen Supermarkt gekauft hat, und richtet ein Blutbad an, bevor er von der Polizei erschossen wird, oder sich selbst richtet.

Zum Beispiel wie Stephen Padock, der sich 2017 in ein Hotel in Las Vegas mit seinem legal erworbenen Waffenarsenal einmietete und aus dem Hotelfenster Besucher eines Countrymusic-Festivals niedermähte und 60 von ihnen tötete.

Noch besser: sich nach einer Bauanleitung aus dem Internet eine eigene Waffe aus dem 3D-Drucker herstellen, die berühmt-berüchtigte FGC-9 (FGC steht für „fuck gun control“).

Bevor ich zu weit abschweife, zurück zur Sache: wie kam dieser Fall eigentlich ins Rollen?

Die Gelegenheitsprostiuierte Shannan Gilbert hatte sich in der Nacht vom 1. Mai 2010 von einem Fahrer nach Oak Beach (ein Stück weiter östlich von Gilgo Beach) zu einem Kunden fahren lassen. Um kurz vor fünf Uhr morgens erhielt die Notrufzentrale einen Anruf von Gilbert. Sie klang konfus und panisch. Sie wiederholte immer wieder, „sie“ seien hinter ihr her und dass „sie“ sie töten wollten. Der Anruf dauert ganze 23 Minuten, während die Beamtin am anderen Ende der Leitung vergeblich versuchte, den genauen Aufenthaltsort von Shannan herauszubekommen.

Während ihrer wirren und ziellosen Flucht hämmerte sie gegen die Tür eines Hauses, verschwand jedoch wieder, bevor die Bewohnerin ihr helfen konnte. Shannan verschwand in der Nacht.

Polizisten des Suffolk County suchten den Bereich in den folgenden Tagen und Wochen ergebnislos ab. Es kam ein Leichensuchhund zum Einsatz, der auch keine Spur aufnehmen konnte. Besonders große Mühe gab sich die Polizei nicht bei der Suche, denn das Opfer war nicht nur als Prostituierte und Drogenkonsumentin bekannt, sondern litt auch an psychischen Erkrankungen. Die einfachste Erklärung der Polizisten war, dass Shannan bei ihrem Kunden Drogen konsumiert hatte und auf einen schlechten Trip gekommen war, so dass sie in drogeninduzierter Paranoia panisch aus dem Haus gestürzt war. Ihr Kunde war ein angesehenes und nützliches Mitglied der Gesellschaft und über jeden Zweifel erhaben.

Im Dezember des Jahres 2010 beschloss der Hundeführer den Suchbereich auszuweiten und weiter westlich zu suchen, beginnend mit der Westspitze von Jones Beach Island. Hierbei stieß er auf vier im Abstand von jeweils ungefähr 150 Meter liegende und in Jute eingewickelte weibliche Leichen, die sogenannten „Gilgo Four“. Es handelte sich um die Sexarbeiterinnen Maureen Brainard-Barnes, Melissa Barthelemy, Megan Waterman und Amber Lynn Costello. Alle waren erwürgt oder erdrosselt worden. Der Ermordung dieser vier Frauen ist Rex Heuermann beschuldigt.

Doch damit nicht genug. Je weiter der Hundeführer und die Polizisten dem Verlauf des Strandes folgen, auf desto mehr sterbliche Überreste stoßen sie.

Im März 2011 werden die Reste von Jessica Taylors Leiche gefunden. Acht Jahre zuvor, im Jahr 2003, waren in Manorville, einer Stadt im Suffolk County, bereits Teile von Taylors Leichnam gefunden worden.

 Im darauffolgenden April 2011 entdeckte die Polizei drei weitere Leichen: ein nicht identifiziertes weibliches Kleinkind, eine nicht identifizierte asiatische Person und Valerie Mack, deren teilweise Überreste – wie die von Jessica Taylor – mehrere Jahre zuvor, im November 2000, in Manorville gefunden worden waren. Im benachbarten Nassau County wurden zwei weitere Leichen gefunden: eine nicht identifizierte Frau, deren teilweise Überreste bereits 1996 auf Fire Island gefunden worden waren, und eine nicht identifizierte Frau mit einer markanten Pfirsichtätowierung, die sich später als Mutter des nicht identifizierten Kleinkindes herausstellte.

Erst 19 Monate nach ihrem Verschwinden, im Dezember 2011, wurden die sterblichen Überreste von Shannan Gilbert, die die Ermittlungen und die grauenvollen Funde in Gang gesetzt hatte,in Oak Beach gefunden. Die Todesursache ist umstritten. Fremdeinwirkung konnte bei der rechtsmedizinischen Untersuchung nicht sicher festgestellt werden. Als offizielle Todesursache wurde Ertrinken vermerkt. Die Angehörigen wollen diesem Ergebnis keinen Glauben schenken, denn Shannan sei auf dem Rücken liegend aufgefunden worden. Wasserleichen würden jedoch in 99% der Fälle in Bauchlage aufgefunden.

In der Folge gerieten mehrere Verdächtige ins Fadenkreuz der Ermittler, unter anderem der verurteilte Mörder John Bittrolff, aber auch der Arzt Peter Hackett, der durch bizarres Verhalten Argwohn auf sich zog. Schließlich wurde sogar der Polizeichef von Suffolk County als Täter verdächtigt, weil er auf unerklärliche Weise die Ermittlungen zu behindern schien. Er wurde wegen Körperverletzung an einem Festgenommen aus dem Polizeidienst entlassen.

Bis jetzt ist noch nicht ganz klar, wie die Polizei letztlich Rex Heuermann auf die Spur gekommen ist. In der Pressekonferenz wurde mitgeteilt, dass an einem der Jutesäcke, in denen die Leichen eingewickelt worden waren, ein Haar des Tatverdächtigen gefunden wurde. Die aus dem Haar extrahierte DNA wurde dann mit genetischem Spurenmaterial von einen Pizzakarton und Resten einer Pizza abgeglichen, die Heuermann zu Mittagspause in Manhattan gegessen hatte, und eine Übereinstimmung festgestellt. Wie man jedoch die Verbindung zu dem Verdächtigen hergestellt hat, die den DNA-Abgleich ermöglich hat, wurde von der Polizei nicht preisgegeben. Nicht unwahrscheinlich ist, dass die Polizei wie in anderen spektakulären Fallaufklärungen in der jüngeren Vergangenheit auf genealogische Datenbanken zurückgegriffen hat, die wegen des in den USA gängigen Hobbys der Ahnenforschung weitverbreitet sind. Dies werden die weiteren Enthüllungen in den kommenden Tagen und Wochen zeigen.

Update 4. August 2023: Im Zuge der Ermittlungen konnte nun die bisher unbekannte Frauenleiche mit der Bezeichnung „Jane Doe No. 7“ identifiziert werden. Es handelt sich um Karen Vergata, die im Februar 1996 verschwand. Zwei Monate später, im April 1996, fand man ihre abgetrennte Beine im Gebiet von Fire Island. Ihr Schädel wurde 2011 im Rahmen der Suche nach Shannan Gilbert im Bereich von Tobay Beach nahe Gilgo Beach gefunden. Die Identifikation konnte durch einen Abgleich mit genealogischen Datenbanken erfolgen.

Update 24.04.2025: Amerikanische Medien melden, dass nun auch die unbekannte Tote, eine Afroamerikanerin, die aufgrund eines Tattoos „Peaches“ genannt wurde, sowie ihr ebenfalls ermordetes Baby identifiziert werden konnten. Es handelt sich um die US-Army Veteranin Tanya Denise Jackson und ihre Tochter Tatiana Marie Dykes.

Update Dezember 2025: im Fall der als „Peaches“ bezeichneten Toten, die als Tanya Jackson identifiziert wurde, gab es in Florida eine Festnahme. Festgenommen wurde der 66-jährige Andrew Dykes, bei dem auch die Vaterschaft zu dem getöteten Kind „Baby Doe“ a.k.a. Tatianna Dykes nachgewiesen werden konnte. Somit ist der noch immer in Untersuchungshaft sitzende Rex Heuermann wahrscheinlich nicht für die diese beiden Morde verantwortlich.

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2 Responses to „Craigslist Ripper“ gefasst?

  1. Menschen, die viel über Massenmorde schreiben, sind aber auch irgendwie verdächtig, oder nicht?
    ;-P

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