Epochen großer Umwälzungen oder Krisen sind stets auch eine Blütezeit obskurer und bizarrer Gestalten, für die solche Phasen ein Biotop zu sein scheinen, das ihnen ermöglicht, ihr zuvor blockiertes Potenzial auszuschöpfen und aus dem Schatten ins Licht zu treten.
In einem anderen Artikel hatte ich geschrieben, dass eins der sonderbarsten Individuen zur Zeit der deutschen Besatzung in Frankreich der berüchtigte Serienmörder Dr. Petiot gewesen sei. Nach weiteren Recherchen zu dem Thema habe ich eine Person gefunden, die ihn an Kuriosität noch übertreffen dürfte.
Violette Morris war zu Lebzeiten eine auffällige und illustre Erscheinung mit mehreren Leben: sie war eine ruhmüberhäufte Ausnahmeathletin, Kriegsheldin und schließlich eine Verräterin und Kollaborateurin.
Die Anfänge
1916. Eine Verbindungsstraße in der Somme. Der Erste Weltkrieg tobt. Die Straße hat sich nach dem monatelangen Granathagel in eine Mondlandschaft aus schlammigen, wassergefüllten Kratern verwandelt.
Eine lange Reihe schweigsamer Männer bewegt sich in Richtung Front. Sie sind in sich gekehrt. Vielleicht lasten Sorgen auf ihnen oder Erschöpfung. Vielleicht ist es Apathie oder lähmendes Entsetzen angesichts des bevorstehenden Massakers.
Es sind die Männer der 63. Infanteriedivision, die an die vordersten Linien herangeführt werden. Zum dritten Mal innerhalb von zwei Wochen sollen sie einen Angriff vortragen, um die feindlichen Linien der deutschen Eindringlinge zu nehmen.
Von hinten nähert sich ein Motorrad mit einem kräftigen, bulligen Fahrer auf dem Sattel. In seiner Meldetasche transportiert er Meldungen und Befehle aus dem behelfsmäßigen Stabsquartier in den Überresten des Bahnhofs von Fleury und ist auf dem Weg, um sie im vorgeschobenen Gefechtsstand von Hauptmann Guyot des Salines, Held von Douaumont, zu übergeben.
Die Tätigkeit des Kradmelders erfordert nicht nur fahrerisches Können, sondern vor allem großen Mut, denn zu allen Zeiten und in allen kriegerischen Auseinandersetzungen haben die Konfliktparteien versucht, die Kommunikationswege des Feindes zu unterbrechen. Melder waren daher das bevorzugte Ziel von MG- und Scharfschützen.
Keiner der Männer in der Kolonne ahnt, dass in der unförmigen, schlammbedeckten Uniform, unter der Lederhaube und der großen Motorradbrille eine Frau steckt.
Die Fahrerin ist Violette Gouraud, damals 23 Jahre alt und ein berühmtes As der Athletik, besser bekannt unter ihrem Mädchennamen Violette Morris.
25 Jahre später werden ihr die Franzosen, die das Unglück hatten, in ihre Fänge zu geraden an der berüchtigten Adresse Rue des Saussaies Nr. 11, dem Sitz des SD und der Sipo wieder begegnen, wo sie „Terroristen“ mit Peitsche und Ochsenziemer, mit Lötkolben und brennenden Zigaretten folterte. Bei Frauen ergötzte sie sich daran, ihnen die Flamme eines Feuerzeugs unter die Brustwarze zu halten.
Wie lassen sich solch unterschiedliche Wesenszüge in einer Person vereinen?
Kindheit
Violette Morris wurde am 18.04.1893 in eine nicht gerade liebevolle Familie geboren.
Ihr Vater Jacques Morris war Kavalleriehauptmann angelsächsischer Abkunft und von kühlem und abweisendem Temperament. Ihre Mutter, ihrem Mädchennamen (Sakakini) nach zu urteilen mit einer bekannten palästinensischen christlich-orthodoxen Familie aus Jerusalem verwandt, ist von der Geburt eines zweiten Mädchens wenig begeistert, hatte sie sich doch sehnlichst einen Jungen gewünscht.
Die Eltern lassen die kleine Violette ihre Enttäuschung und Ablehnung deutlich spüren. Sehr früh zeigt sich, dass das Kind kein Interesse an typischen Mädchenaktivitäten wie Puppenspielen hat, sondern lieber Fußball spielt oder mit Jungen rauft.
In dem lieblosen Haushalt wächst ein verschlossenes, mit gigantischen körperlichen Kräften ausgestattetes Mädchen heran.
Angesichts ihrer eher bescheidenen schulischen Leistungen entschließt sich der Vater, Violette in ein von Nonnen geführtes Internat im belgischen Huy zu bringen, wo der Schwerpunkt auf der sportlichen Erziehung lag.
Dort erlebt sie ihre ersten Erfolgserlebnisse, die sie nirgends sonst erzielen konnte. Sie tritt in zahlreichen Disziplinen an: Schwimmen, Laufen, Wasserball, Leichtathletik, Speerwurf, Kugelstoßen und lernt sogar Boxen, was in einer Epoche, in der die sportliche Betätigung von Frauen mit Naserümpfen begegnet wurde, erstaunlich ist. Sie hat eine bis über die Schulzeit hinaus andauernde lesbische Beziehung zu ihrer Mitschülerin Marie-Claire de Kuysscher. Während ihres Aufenthalts an der Klosterschule von Huy wird eine versuchte Vergewaltigung durch einen jungen Athleten kolportiert, worin der Biograph Raymond Ruffin eine Ursache für eine gestörte Sexualität sieht.
Bei Kriegsausbruch 1914 heiratete Violette Morris einen Bekannten aus ihrem Freundeskreis, Cyprien Gouraud, der jedoch sogleich eingezogen und an die Front beordert wurde.
Violette Morris selbst diente als Krankenwagenfahrerin und zum Ende des Krieges als Kradmelderin.
Zwischenkriegszeit
Nach dem Kriegsende widmete sie sich vollends ihrer Karriere als Athletin.
Ihre Kräfte und ihre körperliche Überlegenheit gegenüber anderen Frauen bringt sie dazu, sich regelmäßig mit Männern zu messen. Jedoch, so die Biographen nicht im Sinne einer Revanche, sondern im rein sportlichen Wettkampf. Häufig zitierte Violette Morris ihr Lebensmotto : „Ce qu’un homme fait, Violette peut le faire ». (frei übersetzt : was ein Mann kann, kann Violette schon lange).
Sie bricht mehrere damalige französische Rekorde, u.a. im Kugelstoßen und Speerwurf und tritt weiterhin im Laufen, Schwimmen, Wasserball und Boxen an. Im Jahr 1923 stellt sie sogar den ersten Weltrekord im Kugelstoßen mit 10,15 m auf.
Zusätzlich verlagert sie ihr Interesse auf Radrennen und nimmt an den damals beim Publikum sehr beliebten Steherrennen teil, bei denen die Radrennfahrer hinter einem Motorrad herfahren, das als Tempomacher dient.
Gleichzeitig beginnt sie sich für den neu aufgekommenen Motorsport zu interessieren und da es nicht in ihrem Charakter liegt, halbe Sachen zu machen, nimmt sie als Fahrerin an anspruchsvollen Autorennen teil, die sie teilweise gegen eine ausschließlich männliche Konkurrenz gewinnt.
Auch diese Autorennen waren in der damaligen Zeit, bevor es Autobahnen gab und die meisten Straßen nicht asphaltiert waren, eine sehr große Herausforderung für die Fahrer.
1922 siegt sie bei dem sehr anspruchsvollen Rennen „Paris – Les Pyrénées – Paris“, einem sehr schwer zu fahrenden Rennen auf schlechten Straßen durch das Zentralmassiv, bei dem die Fahrer den Elementen ausgeliefert sind. Das Fahren in zwar im Vergleich zu heute noch bescheiden und dennoch hochmotorisierten Boliden ohne Gurte oder Knautschzonen durch Wind, Regen und Nebel auf den Paßstraßen der Pyrenäen erfordert sehr viel Kraft und Durchhaltevermögen, so dass nur die entschlossensten und leidensbereitesten Fahrer gewinnen. Violette männliche Konkurrenten sind in ihrer Niederlage, so zumindest die Biographen, nicht gekränkt oder beleidigt, sondern respektieren und ehren Violette Morris als Athletin und begabte Rennfahrerin aus eigenem Recht und als würdige Konkurrentin.
Ihre Ehe mit Monsieur Gouraud war im selben Jahr in die Brüche gegangen, da sie ihr gesamtes Leben dem Sport unterordnete, vor allem jedoch deswegen, weil sie weiterhin ihre lesbischen Beziehungen pflegte, was ihrem Ehemann unerträglich erschien. Kurz darauf hatte sie jedoch eine langjährige Beziehung mit dem berühmten Schwerathleten Raoul Paoli.
1929 lässt sie sich beide Brüste amputieren, nach eigener Aussage, um mehr Bewegungsfreiheit in den engen Rennautos zu haben. Die psychologische Bedeutung dieser Tat kann allerdings gar nicht genug überschätzt werden.
Obwohl sie mit Mitte dreißig den Zenit als Athletin schon überschritten hatte, war es ihr Traum, zum krönenden Abschluss ihrer Karriere an den Olympischen Sommerspielen 1928 in Amsterdam teilzunehmen. Allein, Verbandsfunktionäre machten ihr einen Strich durch die Rechnung. 1930 führt sie einen Prozess gegen die „Fédération féminine sportive“, dem Sportverband der weiblichen Athleten. Dieser hatte ihre Lizenz nicht verlängert und so ihre Teilnahme zunichte gemacht. Der vorgeschobene Grund war das Tragen von männlicher Kleidung, was nicht nur als unziemlich für eine französische Athletin angesehen wurde, sondern auch gegen die Regularien des Sportverbands verstieße.
In Wirklichkeit war die Verweigerung der Athletenlizenz ein Vorwand, um sie aufgrund ihrer Homosexualität aus dem Verband zu werfen. Violette Morris hatte ihre sexuelle Orientierung nie an die große Glocke gehängt, aber auch kein Geheimnis daraus gemacht. Tatsächlich war ihre Neigung aber schwer zu übersehen. In der Tat legte sich Violette Morris, was ihr Erscheinungsbild betraf keinerlei Zurückhaltung auf. Sie kleidete sich in feinen Zwirn, trug männliche Anzüge mit Nadelstreifen und darauf abgestimmte Krawatten und Einstecktücher.
Entgegen der Erwartung und der Unterstützung und Fürsprache nicht zuletzt männlicher Athletenkollegen, verlor sie den Prozess, was sie zwar schmerzte, ihr jedoch ihre Erfolge und ihre Pionierleistungen im Sport nicht nehmen konnte.
Fortan trat sie nur noch in den Motorsportarten an und eröffnete einen Laden für Autoersatzteile in der Nähe der Porte de Champerret in Paris.
Auch wenn in der zeitlichen Rückschau der Auslöser oder das Motiv für ihre Bereitschaft zur Kollaboration mit den deutschen Besatzern einige Jahre später nur Spekulation sein kann, situiert der Biograph Raymond Ruffin bei Violette Morris in dieser Lebensphase eine beginnende Abneigung gegen Frankreich und seine Gesellschaft.
Als Kriegsteilnehmerin hatte Violette Morris schon kurz nach dem Krieg ihre Bitterkeit über die Feiglinge geäußert, die in der Etappe geblieben waren, die Kriegsgewinnler, Schacherer und Schwarzmarktspekulanten, die die Gelegenheit genutzt hatten, um sich schamlos zu bereichern, während die Frontschweine in den Gräben krepierten.
Nach dem Ersten Weltkrieg befand sich Frankreich, durch die Nachwirkungen des Krieges und der Weltwirtschaftskrise ökonomisch gebeutelt, auch politisch in einer desolaten Lage. Die 1920er und 1930er Jahre waren eine Phase des Niedergangs, der Korruptions- und Politskandale. Illustriert wurden sie durch die beiden Finanzaffären um den Betrüger Stavisky und die Banque Oustric, die durch zwielichtige Börsentransaktionen und betrügerischen Bankrott mehrere andere Banken mit in den Abgrund gerissen hatte und den Verlust von Spareinlagen verursacht hatte. Diese Skandale bestätigen Violette Morris (wie auch viele andere Franzosen) in ihrer Auffassung, dass die französische Regierung mit inkompetenten und korrupten Nichtskönnern besetzt ist.
Hinzu kommt bei Violette Morris eine persönliche unangenehme Erfahrung, die von Raymond Ruffin kolportiert wird. Durch die Wirtschaftskrise selbst in finanzielle Not gekommen, hatte sich Violette für ihren Einzelteilehandel verschuldet. Ein jüdischer Wucherer mit Namen Joseph Steiber hatte alle ihre Schuldtitel aufgekauft und setzte ihr stark zu. Die Rettung kam unverhofft durch einen Rennstall, der den hartnäckigen Gläubiger befriedigte, wenn Morris im Gegenzug für ihn Automobilrennen fahre. Ein Deal den Violette Morris gern annahm, wenn auch diese Begebenheit trotz des glücklichen Ausgangs einen unangenehmen Nachgeschmack bei ihr hinterlassen zu haben scheint.
Möglich ist, dass sie im Nachhinein, dem Denkfehler erlegen ist, eine gesamte Gesellschaftsgruppe für das Verhalten eines Individuums aus ihren Reihen verantwortlich zu machen.
Anwerbung
In dieser Phase wird Violette Morris von einer Agentin des SD bearbeitet und schließlich angeworben.
Auf einer Sportveranstaltung begegnet sie einer früheren Konkurrentin aus dem Stadion, Gertrud Hannecker, die nun angeblich als Journalistin arbeitete. Hannecker ist eine der vielen Zuträgerinnen Roland Noseks, der nach Hitlers Machtergreifung beauftragt wurde, in Frankreich ein Netz aus Sympathisanten und Einflussträgern aufzubauen und zu führen. (n.b. nach einer Recherche, die sich allerdings auf Google beschränkte, ist es mir nicht gelungen, Einträge oder weitere Hinweise zu einer deutschen Athletin mit Namen Gertrud Hannecker zu finden).
1934 besuchte Violette Morris Deutschland, das sich nach Hitlers Machtergreifung in vielerlei Hinsicht verändert hat. Sie, die politisch nicht interessiert war und ahnungslos ist, auf welche Weise die Nazis die Macht übernommen haben, zeigt sich beeindruckt von der regen Bautätigkeit, den sauberen Straßen, den frischgeteerten Autobahnen, den ordentlichen Schulen, Universitäten und Kasernen, und den, so scheint es für Außenstehende, glücklichen Menschen, die freudvoll einer rosigen Zukunft entgegenblicken.
Im Zuge einer weiteren Umwerbung wird Violette Morris 1936 als Ehrengast zu den Olympischen Spielen nach Berlin eingeladen, wo sie eine Gedenkmedaille in Silber erhält. Sie fühlt sich geschmeichelt. Sie kommt nicht umhin, zu vergleichen, wie man sich in Deutschland um sie bemüht und welche Behandlung man ihr in Frankreich nur kurz zuvor teilhaftig werden ließ.
So fasziniert wie sie sich von den perfekt choreographierten Athleten zeigt, die den neuen deutschen Menschen zeigen sollen, so wenig abgestoßen fühlt sie sich von den rassistischen Herabwürdigungen gegen den schwarzen US-amerikanischen Dreifachsieger Jesse Owens und Hitlers beleidigende Weigerung, ihn zu ehren.
Gewiss haben zu allen Zeiten Diktaturen versucht, Intellektuelle, Künstler, aber auch Sportler und Galionsfiguren aus der Unterhaltung zu vereinnahmen und zu Propagandazwecken zu ge- und missbrauchen. Allerdings bleibt unklar, welchen Wert eine Person wie Violette Morris gehabt haben könnte, die politisch (und auch sonst) völlig ungebildet war, nur als Athletin Prestige hatte, den großen Auftritt scheute, sich nur für Sport interessierte und außer in Sportzirkeln keine Beziehungen hatte (wenngleich diese auch nicht zu unterschätzen sind).
Die französische Politik gibt am Ende der Dritten Republik jedenfalls ein jämmerliches und erbärmliches Bild ab. Der deutschen Abwehr fällt es daher sehr leicht, die verschiedenen Parteien gegeneinander auszuspielen und Sympathisanten anzuwerben.
Besatzung und Unterwelt
Nach einer Phase eines trügerischen, durch die berüchtigte Appeasementpolitik begünstigen Drohfriedens kommt 1940 der Überfall auf Frankreich und der Einmarsch der Deutschen.
Die Frage, inwieweit die deutschen Besatzer auf bereits bestehende Zustimmung in der französischen Bevölkerung zählen konnte, soll nicht Thema dieses Artikels sein. Allerdings benötigten die neuen deutschen Machthaber trotz ihrer sehr guten Vorarbeit der vergangenen Jahre (Kenntnis der französischen Gesellschaft und Korruption ihrer Entscheidungsträger) Handlanger, nicht nur um Juden und Oppositionelle aufzuspüren, sondern auch um die extensive Plünderungsindustrie am Laufen zu halten. Hierbei stützten sie sich zunächst auf Kollaborateure und Mitglieder der faschistischen Parteien aber auch auf Mitglieder der Unterwelt, die gierig auf Macht und Geld waren.
Die Deutschen benötigten für die Kriegsproduktion in der Heimat zahllose Materialien, wie Leder, Metalle, Autoeinzelteile, Wäsche, Schuhe und zahlreiche andere Dinge, für die sie zahlreiche Exportgesellschaften gründeten. Eine Gelddruckmaschine für gewiefte Schwarzmarkthändler, Schieber und Geschäftemacher. Die Gangster aus dem Milieu mit dem Riecher für die großen Profitmargen hatten indes keine Schwierigkeiten, die Mittelsmänner und Vermittler mit der Überzeugungskraft eines Pistolenlaufs zu überzeugen, dass es besser wäre, ihnen die Stellen abzutreten.
Dies bot ihnen nicht nur ein immenses Bereicherungspotential, das sie auch weidlich ausnutzten, sondern auch noch einen Passierschein, der sie Kontrollen der französischen Polizei enthob. Ein doppelter Jackpot.
Die Gestapo ließ die Unterweltler gewähren. Der Deal lautete: die Gangster sollten Juden und Feinde des Reichs und der neuen Besatzungsordnung aufspüren, im Gegenzug durften sie das Eigentum der „überführten“ Feinde behalten. Dies bildete einen Anreiz zur Folter und der Verfolgung Unschuldiger.
So stellte sich sehr rasch die kuriose, wenn auch folgerichtigen Symbiose aus krimineller Halb- und Unterwelt mit der deutschen Gestapo ein.
Die „Nazi-Gangster“ residierten in der berüchtigten Rue Lauriston Nr. 93. Ihre Anführer waren Pierre Bony, ein korrupter Ex-Polizist, der in der Zwischenkriegszeit eine gewisse Prominenz bei den Stavisky-Affären erlangt hatte und dem eine glänzende Karriere als Kommissar offenstand bis er wegen Käuflichkeit und Korruption aus dem Beamtendienst entlassen wurde.
Daneben Henri Chamberlin, der seinen Nachnamen in Lafont ändern ließ. Dieser holte weitere Kumpane mit pittoresken Namen wie Adrien Eztébétéguy, genannt „der Baske“ oder „Adrien mit den kalten Händen“, (er verschwand in der Heizungsanlage des Doktor Petiot, das Pariser Unterweltmilieu ist klein); der Killer Jean-Michel Chavès, genannt „Nez-de-braise“ („Glutnase“) oder Abel Danos genannt „das Mammut“ zu sich.
Lafont und Bony wurden nach der Befreiung wegen Kollaboration zum Tode verurteilt und am 26. bzw. 27. Dezember 1944 im Fort von Montrouge durch ein Erschießungskommando hingerichtet.
Im Gegensatz zu Bony, der nach Berichten von Augenzeugen auf dem Weg zum Erschießungspfosten jammerte und bettelte, stellte Lafont eine betonte Kaltschnäuzigkeit zur Schau. Als er zum Pfosten geführt wurde, sagte er leichthin: „Man müsste das alles modernisieren. Zum Beispiel eine hübsche Puppe herbringen, statt eines Pfarrers.“ Er hatte schon zuvor schon im Prozess die volle Verantwortung für sein Handeln übernommen. Er war ein Berufsverbrecher und seine Unterstützung und Mitarbeit für die Deutschen war nur eine Fortsetzung seines auf persönliche Bereicherung gerichteten Gangsterlebens.
Seine letzten Worte waren an seine Anwältin Maître Drieu gerichtet: „Ich bereue nichts, Madame. Vier Jahre inmitten von Orchideen, Dahlien und Bentleys haben ihren Preis. Ich habe zehnmal schneller gelebt als andere, das ist alles. Sagen Sie meinem Sohn, dass er niemals „caves“ frequentieren soll [Anmerkung: „cave“ bedeutet auf Französisch „Keller“, aber in der Unterweltsprache „Argot“ meint es – je nach Kontext – eine Person, die nicht zum kriminellen Milieu gehört oder einen Naivling, den man leicht hereinlegen und ausnehmen kann.] Er soll ein Mann wie sein Vater sein.“ Um 9 Uhr 50 wurde er am Pfosten festgebunden. Er verzichtete auf eine Augenbinde und starb mit einer Zigarette zwischen den Lippen.
Hier eine interessante Doku von France 3:
Der Pakt mit dem Teufel
In dieser Phase erhält Violette Morris Kontakte zum Milieu. Mit Kriegsausbruch sind ihre wirtschaftlichen Aktivitäten zusammengebrochen. Sie hat keine Erwerbsmöglichkeiten mehr. Automobilrennen finden nicht mehr statt. Sie hält sich mit Tennis- und Reitstunden für die Kinder der wohlhabenden Pariser, die noch Geld für solche Aktivitäten haben, über Wasser.
Es sind ihre Sportkontakte, die ihr Zugang zu einer gutbezahlten Arbeit und damit zum Milieu verschaffen. Bei einem Boxkampf begegnet sie einem alten Bekannten, der ihr einen Job anbietet. Sie soll Lastwagen mit den beschlagnahmten Wertsachen zu den Depots und Lagerhallen der Deutschen fahren, damit sie ins Reich transportiert werden können. In den Gangsterkreisen, die sich gegenseitig übers Ohr hauen und Teile der Ware unterschlagen, ist Violette Morris als diszipliniert und ehrlich bekannt und steigt in der Hierarchie auf.
Über die Verbindungen ins Milieu nehmen SD und Gestapo wieder Kontakt zu Violette Morris auf.
War es Überzeugung? War es das Geld? War es die Machtfülle? Oder Opportunismus? Was brachte Violette Morris als Agentin dazu, die Résistance-Netzwerke zu infiltrieren, Verdächtige an die Gestapo auszuliefern, selbst zu foltern. Auch ein noch so minutiöser Biograph kann die verborgenen Regungen nicht rekonstruieren.
Violette Morris ist eine zuverlässige Agentin des SD. Aus ihrer Sicht handelte es sich für Violette Morris bei den Résistance-Einheiten um „Terroristen“, die man mit Unerbittlichkeit bekämpfen musste. Ihren deutschen Vorgesetzten galt sie als zuverlässig und diszipliniert und vor allem als effektiv. Das Vertrauen der Deutschen geht so weit, dass sie einen eigenen Sektor zugewiesen bekommt, in dem sie die Résistance-Netzwerke infiltrieren soll, und zwar die Départements Eure und Eure-et-Loir, nordwestlich von Paris.
Das Ende
Violette Morris‘ Infiltrations-Aktivitäten haben in den Reihen der Résistance große Verwüstungen angerichtet, die Beschlagnahme von zahlreichen Waffendepots ermöglicht und die Résistance-Netzwerke erheblich geschwächt.
Auf der Liste der Planer in London stand sie daher relativ weit oben auf der Liste der Personen, die man aus dem Weg schaffen musste. Den Ausschlag gaben jedoch die Planungen der Alliierten für die Operation Overlord. Bis auf einen sehr kleinen Kreis in den Planungsstäben wusste Ende 1943 niemand, dass die Landung der Alliierten in der Normandie geplant wurde.
Bekannt war nur, dass eine größere Aktion geplant war. Die französischen Widerständler sollten darauf vorbereitet werden, einige Stunden vor dem Anlaufen der Operation, die Kommunikationswege in dem Küstenabschnitt zu kappen.
Violette Morris, die immer wieder die Netzwerke der Résistance in der Normandie durch Verhaftungen unterbrach, war ein Hindernis. Sie musste sterben.
Die Durchführung der Exekution wurde dem Résistance-Maquis „Surcouf“, benannt nach dem berüchtigten Freibeuter, übertragen. Die kampferprobten Widerständler waren die richtigen Männer für diese Aktion.
Zum Verhängnis wurde Violette Morris eine Routine. Über eine Telefonistin, die Gespräche mithörte, hatten Résistance-Mitglieder ein Muster herausgefunden. Violette Morris fuhr jede Woche die gleiche Strecke von Pacy über Vernon bis nach Beuzeville, um dort ihre Informanten zu treffen.
In der Morgendämmerung des 26. April 1944 postierte sich eine bewaffnete Gruppe des Maquis hinter der erhöhten Böschung an der Landstraße zwischen Epaignes und Lieurey in Erwartung des schwarzen Citroën 15 CV, den Violette Morris fuhr. Ihr Plan: sobald der Wagen auf ihrer Höhe erschien, wollten sie das Feuer eröffnen und Violette Morris töten. Ein Maquisard war in eine Baumkrone geklettert und sollte ein Taschentuch bewegen, wenn er den Wagen herannahen sah. Gegen 10:40 Uhr erblickt er den Wagen. Allerdings rast die ehemalige Rennfahrerin mit solch einer Geschwindigkeit dahin, dass die Schützen keine Möglichkeit haben, anzulegen und zu feuern.
Planänderung: auf der Rückfahrt soll der Wagen mit einem Fuhrwerk zum Bremsen gezwungen und dann beschossen werden. Um 18:35 Uhr desselben Tages erscheint der Citroën auf der Landstraße in Richtung Paris. Das Pferdefuhrwerk setzt sich aus einem Hohlweg in Bewegung und blockiert die rechte Spur. Violette Morris, die ihrer Gewohnheit nach schnell dahinfährt, muss nach rechts in die Böschung ausweichen, um einen Zusammenstoß zu verhindern. Dies ist der Augenblick, in dem die Schützen aus Maschinenpistolen das Feuer eröffnen. Nachdem alle Magazine leergefeuert wurden, herrscht zwei Sekunden lang absolute Stille. Plötzlich stürzt Violette Morris aus dem Auto, eine Waffe in der Hand. Ein Feuerstoß des Anführers der Einheit streckt sie nieder. Sie fällt über den Kotflügel zu Boden. Tot.
Beim Öffnen des Wagens stellen die Résistance-Mitglieder bestürzt fest, dass Violette Morris nicht allein im Auto gesessen hatte. Sie hatte die Metzgerfamilie Bailleul aus Beuzeville samt ihren kleinen Kindern und ihren Schwiegersohn nach Paris mitnehmen wollen. Alle waren tot.
Die Gruppe hatte allerdings keine Zeit, sich über diese Tragödie Gedanken zu machen. Eine weitere Résistance-Einheit erscheint, um die Spuren des Attentats zu verwischen. Der durchlöcherte Citroën wurde auf einen nahegelegenen Bauernhof gefahren. Die Leichen wurden mit ihrem Schmuck zu Identifikationszwecken auf dem Gelände des Hofs in einem trockengelegten Teich begraben, wo sie nach dem Krieg wieder exhumiert wurden.
Noch mehrere Jahre später wurde debattiert, ob es rechtens gewesen sei, das Attentat durchzuführen, ohne sich zu vergewissern, dass Violette Morris allein im Wagen saß, schließlich seien zwei unschuldige Kinder getötet worden.
Der Konsens innerhalb der Résistance war lakonisch: dies waren die Realitäten des Krieges.
In dieser Reihe sind weitere Artikel geplant, jedoch wird die Recherche zuerst noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Auf der Warteliste stehen Artikel über den berüchtigten Chef der Carlingue, Pierre Loutrel, gennant „Pierrot le fou“, den oben bereits erwähnten Henri Lafont und einen Mann, bei dem man den Begriff „kognitive Dissonanz“ auf eine neue Ebene heben muss: Paul Rassinier, KZ-Häftling und Holocaustleugner.
Stay tuned!