Der Indianer, der aus dem Dschungel kam

Es wäre falsch zu sagen, Patrick Chauvel habe ein bewegtes Leben gehabt.

Er lebt es immer noch, auch noch mit über 70 Jahren ist er mit seinen Kameras auf den Kriegsschauplätzen der Welt unterwegs, wenn er nicht gerade in Paris an der Bar in den Jazzclubs seiner Jugend aushilft. Patrick Chauvel hat keine Rücklagen, um sich zur Ruhe zu setzen. Das ist der Preis der Freiheit und des Abenteurerdaseins.

Nach seinem spannenden Buch „Rapporteur de guerre“, über das ich bereits vor einiger Zeit geschrieben habe, hat er seine Erlebnisse als Fotoreporter während des Vietnamkriegs in Romanform verarbeitet.

Chauvel war 19 Jahre alt, als er nach Vietnam flog, um seine Karriere als Kriegsreporter zu beginnen und seinem Leben endlich den Startschuss zu verpassen, den er sich erhoffte („pour mettre le feu à ma vie“, wie er es ausdrückte).

Unvermittelt stand er, der Anarchist, der eben noch Steine von den Barrikaden während der Studentenunruhen von Paris 1968 geworfen und ein paar Wochen im Gefängnis gesessen hatte, auf einem Flugfeld, um eine Lurp-Einheit auf einem Einsatz hinter den feindlichen Linien zu begleiten.

„Lurp“ ist die verballhornte Form der Abkürzung von LRRP (Long Range Reconnaissance Patrol). Sie bestehen aus kleinen Aufklärungsteams von sechs Mann, die tief im Feindgebiet abgesetzt werden.

Ihre Aufgabe ist es, Informationen zu sammeln und die Lage aufzuklären: strategisch wichtige topographische Punkte und Erhöhungen, Aufmarschwege und Zugänge, Auswertung von Bombentreffern, Feindbewegungen, Hubschrauberlandeplätze, die sie in ihren Karten vermerken. Aber auch Hinterhalte anzulegen und den Feind zu töten, wenn sie während der Patrouille auf ihn treffen.

Sie haben einen legendären Ruf und die anderen Soldaten haben einen tiefen Respekt vor ihnen. Keine Medaille oder Abzeichen hebt sie hervor, nur das grün-schwarze Tigerstreifenmuster ihrer Tarnanzüge hebt sie von den „gewöhnlichen“ Einheiten ab.

Sie werden mit einem Hubschrauber tief im Feindgebiet abgesetzt, vielleicht auf einer kleinen Lichtung im Dschungel, dem letzten bekannten Punkt auf einer Militärkarte.

Chauvel beschreibt eindringlich das beklemmende Gefühl, tief in der Scheiße zu stecken, wenn er dem abschwebenden Helikopter hinterherblickt und weiß, dass er von nun an vollkommen auf sich und die anderen Teammitglieder gestellt ist. So verloren und fern von allem Vertrauten. Allein mit dem Sirren der Insekten, den Rufen fremdartiger Vögel und Tiere und den Geräuschen des Dschungels.

Operation Junction City-Vietnam Combat Jump – Junction City was a massive search and destroy operation, conducted in hopes of clearing People’s Army of Vietnam (PAVN) and National Front for the Liberation of South Vietnam (NLF or derogatively, Viet Cong) units from the area of War Zone C, northeast of the South Vietnamese capital of Saigon. Another goal of the operation was the possible capture or destruction of the PAVN/NLF Central Office for South Vietnam (COSVN). This headquarters controlled all enemy activities south of the triborder region of Laos, Cambodia, and South Vietnam. – American soldiers of 2nd Batt, 503rd Airborne Inf., 173rd Airborne Div. gear up for a long range patrol during Operation Junction City.

Die Männer des Lurp-Teams sind schweigsam. Still und geräuschlos bewegen sie sich im Dschungel. Sprechen tagelang kein Wort, verständigen sich nur mit Blicken und Handzeichen. Wachsam und mit geschärften Sinnen bewegen sie sich lautlos durch Sümpfe, Flüsse und den Wald.

Die Männer des Teams sind der Querschnitt der amerikanischen Bevölkerung, in der noch die Wehrpflicht gilt: Schwarze, Puertoricaner, ein Weißer, genannt „Grandma“. Er ist der Sanitäter, der sein Medizinstudium für eine Tour nach Vietnam unterbrechen musste. Dazu drei Indianer: Sky Eyes, Luis und Red Owl. Und schließlich Chauvel, der verrückte Franzose, der neben seiner Ausrüstung und dem Rucksack noch seine Fototasche mit Kameras und Objektiven schleppt.

Dabei kann er noch nicht mal Fotos schießen. Die hohen Bäume des Dschungels schlucken jedes Licht. Nachmittags um vier ist es dunkel wie in der Nacht.

In den Lurp-Einheiten setzte die US-Army gerne Indianer ein, weil sie glaubte, dass sie aufgrund der Instinkte ihrer Vorfahren, die sie in sich trugen, am besten für den Job geeignet waren, und sich in der Vegetation vollständig lautlos bewegen konnten.

Einer der Indianer beeindruckt Chauvel. Er ist ein zwei Meter großes Apachenhalbblut, der wegen seinen hellen, grauen Augen den Namen Sky Eyes trägt. Augen, so hell, als würde sein Kopf von innen leuchten.

Den anderen Soldaten ist er unheimlich und doch folgen sie ihm bedingungslos. Unausgesprochen hat sich eine natürliche Hierarchie zwischen den Männern gebildet, in der Sky die Anführerrolle einnimmt. „Er ist der gemeinste Hurensohn aller Schweinehunde, die dieser Dschungel je gesehen hat“, wie ihm der Funker grinsend mitteilt. Ein kaltblütiger und präziser Killer. Und weil das so ist, hat er Privilegien. Er darf seine langen schwarzen Haare offen und Kriegsbemalung im Gesicht tragen. Zwei rote Streifen und einen breiteren schwarzen.

Als die Soldaten mit der Zeit Chauvel zu vertrauen beginnen, entspinnt sich ein wiederkehrendes Ritual: vor jedem Einsatz halten die Männer seinen Kopf fest und Sky zeichnet mit einem Filzstift eine große Träne auf seine Wange. Die Männer, deren Tränen versiegt sind, beauftragen Chauvel damit, ihre Geschichte zu erzählen und an ihrer Stelle zu weinen. Sky tauft Chauvel „Little Wolf“.

Chauvel findet sich mehrmals in Gefechten, in denen er innerhalb von Sekunden entscheiden muss, weiter (unbewaffneter) Journalist zu sein oder mit der Waffe um sein Überleben zu kämpfen. Situationen, die er für sich „Situation F.P.“ (flingue ou photo, Knarre oder Foto) nennt. Die Grenzen zwischen Beobachter und Teilnehmer verschwimmen.

Zwischen den Einsätzen läuft Chauvel dem großen Indianer mit den grauen Augen immer wieder in Saigon in den pittoresk beschriebenen Bordellen, schmierigen Animierbars und Opiumhöhlen, die von einem Mikrokosmos aus Nutten, Soldaten und Journalisten bevölkert werden, über den Weg.

Hier lernt er Skys andere Seite kennen, sein Gesicht, wenn die Anspannung fällt, er seine Deckung fallen lässt und er zu dem 22-jährigen Jungen wird, der er in Wirklichkeit ist. Aus einer Begegnung, die auf gegenseitigem Respekt und Bewunderung gründete, wird eine Freundschaft.

Und so erfährt er bruchstückweise mehr über Skys Geschichte und wie es ihn von seinem Reservat in New Mexico in den Dschungel Vietnams verschlagen hatte.

Sky hatte in einer Bar außerhalb des Reservats in einer Schlägerei einen Mann getötet. Der Mann, der sich als Polizist herausstellte, hatte ihm die Adlerfeder weggenommen, die ihm die Stammesältesten in einer Zeremonie überreicht hatten, als sie ihn für würdig und alt genug befunden hatten, Herr seines Schicksals zu sein.

Sky wurde zu 30 Jahre Gefängnis verurteilt. Nach einem Jahr bekam er Besuch von einem Rekrutierungsoffizier, der ihn vor die Wahl stellte, nach Vietnam zu gehen oder in der Zelle zugrundezugehen.

Zwischen seinen Einsätzen im Dschungel fliegt Chauvel immer wieder nach Paris zurück, wo eines Tages Sky auftaucht. Er ist desertiert und will bei seinem Freund Wolf untertauchen, ohne einen Plan zu haben, wie die Sache enden soll.

Und so entdeckt Sky, das Landei aus dem Reservat, Paris, das sich nach ´68 in eine immerwährende Party verwandelt zu haben scheint.

Chauvel arbeitet als Barman im „Rock ‚n‘ Roll Circus“, wo Jim Morrison die letzten Wochen seines Lebens verbrachte: aufgedunsen von einem Cocktail aus Alkohol, Aufputschmittelen und Tranquilizern, bevor er sich eine Heroinüberdosis verpasste und auf dem Père Lachaise sein letztes Domizil wählte.

Chauvel, der Anarchist, blickt mit Verachtung und Ekel auf die Bewohner seiner Stadt und das Ergebnis der „Revolte“, von der er sich eine Veränderung der Gesellschaft erhofft hatte.

Die repressive und konservative Gesellschaft unter de Gaulle hatte aufgehört zu existieren, die Sitten hatten sich gelockert. Die sexuelle Befreiung war da. Was Chauvel aber sah, waren Tölpel, die indische Klamotten, die nun plötzlich schick geworden waren, zu überteuerten Preisen als Modeaccessoires kauften und in debiler Ergriffenheit Sitarspielern lauschten.

Ein schwer zu bezwingender Zorn überwältigt ihn, und er wird immer wieder in wüste Schlägereien verwickelt.

Sky ist krank. Vietnam und der Krieg haben ihn krank gemacht. Er leidet an einer Krankheit, für die es damals keinen Namen gab: eine posttraumatische Belastungsstörung.

Er hatte keine Zeit den Gefechtsstress und die Erlebnisse zu verarbeiten und zu rationalisieren. Die Exzesse von Paris verschlimmern seine Symptome. Er, der im Dschungel vollständig diszipliniert war und alles unter Kontrolle hatte, gerät in Paris außer Kontrolle.

Er tötet einen Mann und wird, von einem französischen Gericht wegen Totschlags verurteilt.

Sky, der ganz legal dutzende von Männern getötet hatte, sitzt in Paris im Gefängnis und geht zugrunde und begeht schließlich Selbstmord.

Wie „Rapporteur de guerre“ ist « Sky » ein Buch, das eine andere, heute untergegangene Epoche schildert.

In einem Bestreben, Verluste zu minimieren und die Bevölkerung (die Wähler) nicht in Aufruhr zu versetzen, werden Konflikte in einen Cyber-Warfare verlagert. „Ziele“ werden durch Raketen „neutralisiert“, die von einer Drohne abgefeuert werden, die wiederum von einem „Piloten“ in einem Container irgendwo auf einer Luftwaffenbasis in den USA gesteuert wird.

Und selbst die Kämpfer im Syrien und Libyen haben heute eine GoPro-Kamera auf ihren Helm befestigt oder um ihren Körper geschnallt, mit dem sie Bilder des Gefechts wie aus der Ego-Shooter-Perspektive aufnehmen können.

Was bleibt noch vom Kriegsreporter alter Schule?

Chauvel hat keine Wahl. Er hat seine Fototasche schon wieder gepackt.

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