Adoptiere ein Skelett!

Vor einigen Jahren war ich in Neapel.

Zuletzt war ich zur Abi-Abschlussfahrt in dieser Gegend. Aber damals, d.h. Mitte der 1990er Jahre, war es uns verboten worden, durch die Stadt stromern. Zu gefährlich. Von Rom ging es direkt nach Sorrent.

Erst eine ganze Weile später habe ich begriffen, dass Neapel, wie zahlreiche wichtige Städte am Rande des Mittelmeers eine griechische Gründung ist (wenn es nicht die Griechen waren, dann im Zweifel die Phönizier).

Neapel geht auf die griechische Bezeichnung Néa Polis („neue Stadt“) zurück. Es ist seltsam, aber als Schüler eines humanistischen Gymnasiums fühle ich mich auf irrationale fast schon paranormale Weise sofort wohl, wenn ich mich in einer griechischen Siedlung befinde. Denn überall, wo die alten Griechen hinkamen war es wahr, schön und gut, war Zivilisation.

Sobald sie an der Küste landeten, brachten sie Poseidon an Tieropfer dar, als Dank dafür, dass er ihnen eine günstige Überfahrt gewährt hatte und dann Zeus, weil, nun ja, weil er der Oberbabo auf dem Olymp ist. Sodann legten sie einen Platz für die Agora fest, denn eine Menschengruppe muss die Dinge ihrer Gesellschaft regeln und Entscheidungen treffen. Gleich darauf rammten sie Rebstöcke in den nächstgelegenen Hang, denn der zivilisierte Mensch braucht natürlich Wein. Sofort im Anschluss begann der Handel.

Die Griechen haben somit die Matrix für jede Menschenansammlung festgelegt, die man Zivilisation nennen kann: Stadt/Staat, Parlament, Handel. Und Wein.

Zur Wahrheit gehört allerdings, dass die Vorarbeit hierfür die Sumerer und Babylonier geleistet haben, die uns nicht nur mit der Erfindung des Rads und der Schrift beglückt, sondern auch das Konzept des Staats und der allgemeingültigen Gesetze erfunden haben. Selbstverständlich wurden im Zweistromland auch Wein und Bier konsumiert. Forscher haben herausgefunden, dass es zwei Ursprungsgebiete des Weinanbaus gibt: den Kaukasus und das Gebiet des fruchtbaren Halbmonds.

Das älteste bekannte literarische Werk der Menschheit, das altbabylonische Gilgamesch-Epos, gleichzeitig auch die erste Bromance, beschreibt, wie ein zotteliges Wesen namens Enkidu in der Steppe lebt, Gras frisst und mit den Gazellen umherzieht. Seine Menschwerdung wird folgendermaßen beschrieben: „Der wilde Enkidu trank Bier; er trank davon gar an die sieben Mal. Sein Geist ward gelöst, und er ließ sich mit lauter Stimme vernehmen. Wohlbehagen erfüllte seinen Körper und sein Antlitz erstrahlte. Er wusch den zottigen Leib sich mit Wasser, salbte sich den Leib mit Öl – und ward ein Mensch.

Zur vollständigen Geschichte gehört allerdings auch, dass er gleichzeitig auch sieben Tage lang mit der Kurtisane Schamkat gebumst hat.

Nach dem ältesten bekannten Buch der Menschheit wird der Mann also erst durch die Frau und das Bier zum Menschen. Ist das nicht schön?

Gilgamesch selbst tröstet sich nach dem Tod seines besten Freundes Enkidu mit Wein, den ihm die Wirtin Siduri kredenzt.

Es ist meiner bescheidenen Meinung nach immer wieder wichtig, sich klarzumachen, dass in dieser Region zweitausend Jahre vor unserer Zeitrechnung Bier und Wein konsumiert wurde, lange bevor die mohammedanische Religion die Grenzen der arabischen Halbinsel überschritt und in weiten Teilen der Erde nicht nur den Alkoholgenuss untersagt, sondern bis zur heutigen Zeit auch noch ganz andere geistige Verwüstungen anrichtete.

Heute leben in Süditalien, größtenteils in Kalabrien an der Stiefelspitze und am Hacken noch immer griechische Minderheiten, die einen Dialekt namens „Griko“ sprechen, deren Sprecherzahl aber immer weiter sinkt.

Doch bevor ich immer weiter abschweife: back to the point. Denn ich wollte ja eigentlich etwas ganz anderes erzählen.

Der italienische Familienzweig meiner Frau, die aus Mailand stammt, blickt indes voller Misstrauen auf alles herab, was südlich von Rom liegt. Wie in Deutschland gibt es auch in Italien eine, natürlich bigotte und scheinheilige, geographische und mentale Teilung: im Norden die fleißigen, „deutschen“ Italiener, die das Bruttosozialprodukt steigern, im Süden die faulen, nichtsnutzigen Halb-N-Wort, die außer Faulheit und organisierter Kriminalität nichts zustande bringen. Im Norden nennt man die Leute im Süden „terroni“, d.h. etwas schief übersetzt „Erdlinge“, was sich sowohl auf ihre Hautfarbe als auch auf ihre Erwerbstätigkeit bezieht. Das Einzige, was man diesen Wilden zutraut, ist allenfalls etwas primitive Landwirtschaft.

Nun ist es so, dass an Neapel als Kriminalitätshotspot schon etwas dran ist, auch wenn sich in den vergangenen Jahren einiges gebessert hat. Bisher bewirbt sich Neapel erfolglos als Kulturhauptstadt Europas. Leider hat es nicht geklappt, aber meiner Meinung nach würde es sich lohnen, denn die Stadt ist wirklich interessant.

Roberto Saviano hat in seiner wirklich beeindruckenden Recherche „Gomorrha“ die weitausgreifenden Tentakel der Mafia, die in Kampanien Camorra heißt, beschrieben, die alle Bereiche der Gesellschaft und der Politik unterwandert und korrumpiert hat.

Für den unbeteiligten Dritten verläuft das alles unsichtbar und den Augen des Touristen oder Unbeteiligten entzogen. Was vor wenigen Jahren noch ein Problem und Gegenstand von Warnungen in Reiseführern war, die vielen Taschendiebe und Handtaschenräuber, hat sich in Luft aufgelöst.

Es liegt nahe, dass es Abkommen zwischen Polizei und Camorra gegeben hat, in der Art, dass die Camorra die Kleinkriminellen an die Kandare nimmt und die Bullen bei den größeren, aber lautloseren Geschäften keinen allzu großen Ermittlungseifer zeigen.

Wie in vielen korrupten Systemen haben beide Seiten etwas davon: die Polizei kann gute Statistiken vorweisen und die Camorra kann in Ruhe ihren lukrativeren Geschäften nachgehen, ohne permanent den Atem der Bullen im Nacken zu spüren.

Dabei sind wahrscheinlich ein paar Nasenbeine und Kniescheiben auf der Strecke geblieben, bis die Botschaft angekommen war, aber jetzt ist es ruhig, wie ich persönlich bestätigen kann. Sogar in dem berüchtigten „Spanischen Viertel“, das bis vor kurzem noch als No-Go-Area galt.

Mir gefallen leicht schmutzige, dreckige Städte, so wie Marseille zum Beispiel, weil ich dort das Gefühl habe, dass dort noch Menschen aus Fleisch und Blut mit all ihren Fehlern und Schwächen leben und keine Cyborgs, Roboter oder lobotomisierte Arbeitssklaven. Mit solchen kärcher-gereinigten Städten wie Manhattan, London oder Singapur kann ich rein gar nichts anfangen.

Was mir an den südlichen Gefilden auch noch gefällt, und was ich als Atheist wie ein Anthropologe beobachte, ist diese Mischung aus tiefgläubigem Katholizismus und Aberglauben. Überall sieht man Mauernischen mit kleinen Marienstatuen. Natürlich ist auch Padre Pio allgegenwärtig. Aber fast jeder in Neapel trägt auch einen kleinen Anhänger mit einer roten Pfefferschote, dem „Cornicello“. Dieser Talisman soll einerseits den bösen Blick bannen, aber auch Kraft, Vitalität und Fruchtbarkeit bringen. Nicht ohne Grund hat der Glücksbringer eine kaum verhohlen phallische Erscheinung.

Das geheimnisvollste Epizentrum des Aberglaubens ist allerdings ein sehr mysteriöser und unscheinbarer Ort im Stadtteil Materdei.

In den einschlägigen Traveller-Blogs wird Materdei den digital Nomads und Expats als billig und noch nicht gentrifiziert angepriesen wird, was ein todsicheres Signal dafür ist, dass sich das Viertel in den nächsten 5 bis 10 Jahren komplett wandeln wird. Schön ist es auf jeden Fall dort.

In einer Höhle aus Tuffstein, deren Eingang sich gähnend öffnet, befindet sich ein Beinhaus, der Cimitero delle Fontanelle. Dort wurden – ähnlich wie bei den Katakomben in Paris – die Gebeine aus Friedhöfen transferiert, die bei der Vergrößerung der Stadt im Weg standen.

Die Neapolitaner haben den Aberglauben entwickelt, dass sie Glück erhalten oder ihr Schicksal zum Besseren wenden können, wenn sie sich eines Toten annehmen, sein Skelett pflegen, ihm Zigaretten, Kaugummis, Geldscheine oder sonstige kleine Geschenke bringen.

So findet man neben all diesen Präsenten allerlei kleine Zettel mit Wünschen. Schüler und Studenten bitten um Glück bei einer Prüfung, eine Frau bittet darum, schwanger zu werden. Mütter wünschen sich einen Mann für die Tochter oder eine Frau für den Sohn. Ein Mann erbittet, dass seine Angebetete seine Liebe erwidert. Das Kind soll von einer schweren Krankheit gesunden und so weiter.

So etwas habe ich auch schon im Süden Frankreichs und in Klöstern in Syrien und im Libanon gesehen. Ein wenig erinnert es an den Ort eines Voodoo-Priesters in New Orleans in dem Film „Angel Heart“.

Es ist zwar verboten, dort zu fotografieren, aber da ich ein böser Junge bin und außerdem im Süden Verbote niemals durchgesetzt werden, habe ich es doch getan.

Ganz am Ende der Höhle steht eine kopflose Statue, die mit Ketten und Tüchern behängt ist. Eine leichte Brise aus einer Öffnung hielt die Tücher in Bewegung. Es war wirklich gruselig.

Obwohl ich eigentlich ein Rationalist bin, habe ich eine Weile überlegt, ob ich diese Fotos hier posten soll oder ob mich vielleicht der Fluch des maltesischen Matrosen trifft.

Aber dann dachte ich mir, dass es sehr viel weniger anstößig ist, ein paar Fotos zu zeigen, die vielleicht zehn Menschen hier auf diesem Blog sehen, als einem Totenschädel eine Zigarette zwischen die Zähne zu stecken.

In diesem Sinne: enjoy!

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2 Antworten zu Adoptiere ein Skelett!

  1. geschichtenundmeer schreibt:

    Ein hübsches Skelett ist auch die heilige Munditia in München:
    https://www.munichkindl.net/munditia

    • benwaylab.com schreibt:

      Danke für den Tip. Sehr interessanter Hintergrund. Mit den eingelegten Augen sieht sie schon etwas creepy aus.
      Wenn ich demnächst geschäftlich in München bin, schaue ich mal bei ihr vorbei.

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