Am Rand der Städte verschwinden

Entre les docks et les grues, au bord de l’eau

la cathédrale rêve de partir comme les bateaux :

dans le port il y des zèbres, des bananes, du caoutchouc et du café

l’Afrique entière est rangée au fond des entrepôts

Marseille, mélange de mer et de ville

réalité crue

rues soûles

danse mécanique des têtes urbaines

et puis les tables tranquilles, les silences frais

les ombres sans nombre et les odeurs rares

les regards exotiques

Marseille

Non pas l’orient mais ville où tous les orients se rêvent

Tant de vent !

Comme si l’invisible sans cesse chavirait

Marseille ville-navire

ville assouvie de mer

où dans chaque rue, dans chaque arbre, dans chaque fenêtre

est inscrite la mer

comme en un corps la trace du plaisir

où pour toujours

le soleil a raison

Marseille

c’est ici que commence l’ailleurs

H.-Frédéric Blanc

Eine selbstgestellte Aufgabe hat mich die vergangenen Jahre beschäftigt und war vor allem ein Vorwand, immer wieder nach Marseille zurückzukehren. Wäre ich objektophil oder besser urbanophil, dann wäre Marseille mein größter Crush.

Marseille, die Wilde. Marseille, die Sonnendurchflutete, vom Mistral Windgepeitschte. Stolz und kühn, mit dem selbstsicheren dunklen Blick und der schwarzen Mähne der Mädchen des Südens. Melange aller Gegenden des Mittelmeers von Marokko über Griechenland bis zur Levante.

Es ist jedenfalls ein gutes Gefühl, Aufgaben, an denen man lange und beharrlich gearbeitet hat, zu einem Ende zu bringen: vor kurzem habe ich den Wanderweg GR 2013 bei Marseille beendet.

Der Wanderweg wurde von Wanderern und Künstlern unter Initiative des Philosophen und Verlegers Baptiste Lanaspèze konzipiert und im Jahr 2013, als Marseille amtierende Kulturhauptstadt Europas war, freigegeben.

Wikipedia dazu:

„In Form einer liegenden 8 verläuft der GR 2013 vom TGV-Bahnhof Aix  in der Peripherie der Hafenmetropole Marseille. Im Westen umrundet er das Binnenmeer Étang de Berre, im Osten das Massif de l‘Étoile und Garlaban. Die von seinem Initiator als Metropolenwanderweg bezeichnete Route führt durch Städte und ihre Randgebiete. Der GR 2013 durchkreuzt Kommunen, Einkaufszentren, Industriegebiete, römische Kastelle, Eisenbahnstrecken, Felder, Autobahnen, Wohnsiedlungen, Industriebrachen, aber auch Natura 2000-Gebiete und zwei Gebirgsketten.

Die Bezeichnung „Metropolenwanderweg“ (frz.: sentier métropolitain) wurde durch den Erfinder des GR 2013 Baptiste Lanaspèze geprägt. Ein solcher Weg führt durch die Stadt, Vorstädte und ihre Peripherien. Die Festlegung des Weges soll der Bevölkerung ermöglichen, alle Teile der Stadt – inklusive der sonst gemiedenen Randgebiete – zu Fuß zu erwandern. Ziel eines Metropolenwanderweges ist es, den Stadtraum anders zu erfahren, Beziehungen zwischen Orten herzustellen, von denen man dachte, sie seien weit voneinander entfernt und die Bereiche Ökologie und Stadtplanung, zeitgenössische Kunst und Literatur, Tourismus, öffentlicher Nahverkehr, Kommunalpolitik und Biodiversität miteinander zu verknüpfen.“

Und genau das war es, was mich damals an dem Weg gereizt hat, als ich zum ersten Mal in der französischen Meeresendung „Thalassa“ von ihm hörte.

Auch wenn ich Einzelgänger bin und immer eingenbrötlerischer werde, brauche ich ein Minimum an Zivilisation in der Nähe. Ich glaube, ich Kind der Stadt, würde in der totalen Wildnis dekompensieren.

Seit 2016 bin ich fast jedes Jahr ein längeres oder kürzeres Teilstück der 365 km langen Strecke gelaufen. Zu unterschiedlichen Jahreszeiten in unterschiedlichen Konstellationen: mit einem guten Freund, mit dem die Freundschaft leider in die Brüche gegangen ist, allein, mit der ganzen Familie, mit meinen Töchtern, nur mit meiner älteren Tochter, mit guten Schuhen, mit schlechten Schuhen, in der Hitze des Spätsommers, im Frühling, im kühlen Spätherbst (bedroht durch die Kugeln der psychopathischen Jäger), nach einem schweren Streit mit meiner Frau, mit schwerem Rucksack, mit leichtem Rucksack, fit oder verletzt (Achillessehne, Kapselriss am Knie). Wandern geht immer.

Geschlafen habe ich an den Orten, die gerade verfügbar waren: in Hostels, auf Campingplätzen, in Schutzhütten, im Wald, im Park unter einem Baum.

Mir gefällt es, durch die Landschaft zu streifen, mit den seltenen Menschen, die einem außerhalb der Städte begegnen einen Gruß zu wechseln, mit dem Obsthändler oder dem Espressoverkäufer zu schnacken, wissend, dass ich sie wahrscheinlich nie mehr wieder sehen werde.

An verlassenen Höfen oder Gebäuden im Wald innezuhalten, mir die Gespenster der Menschen vorzustellen, die früher hier gewohnt hatten.

Ich folge den gelb-roten Markierungen, die auf Bäumen, Felsen oder schiefen uralten Betonblöcken aufgepinselt sind.

Ich atme den fruchtigen Duft der Pinien und der Kräuter des Südens ein.

Der Weg bleibt immer am Rand der beiden Pole Marseille im Süden und Aix-en-Provence im Norden, durchquert kleine Städte und Dörfer.

Er bedient alle Gefühlsregungen, die in mir sind: Einsamkeit – Geselligkeit, Stadt – Land, Sesshaftigkeit – Fernweh, Meer- Gebirge.

Marseille und das Département Bouches du Rhône waren noch bis Mitte der 1980er Jahre ein Industriezentrum, und zwar nicht nur der Hafen, sondern vor allem ein wichtiger Standort von Raffinerien und für Bergbau.

Bauxit wird wegen seiner Umweltbelastung nicht mehr abgebaut, aber in Gardanne steht noch das Alumin-Werk, dessen Staub die Fassaden der Häuser rot färbt.

All dies ist größtenteils vorbei, man sieht die Relikte des Industriezeitalters, die Industrieruinen, die wie Dinosauriergerippe in der Landschaft stehen.

Mitten im Wald, in der Nähe von Aix-en-Provence, steht der Zola-Staudamm. Er wurde von François Zolla, dem Vater des späteren berühmten Schriftstellers Émile Zola (nach der Franzisierung nur noch mit einem „l“) entworfen, dem Schöpfer sozialkritischer Werke wie der Roman „Germinal“, in dem er die menschenunwürdigen Ausbeutungszustände im Kohlebecken Nordfrankreichs anprangert. Später war Zola einer der wenigen, die für den zu Unrecht des Hochverrats angeklagten jüdischen Offiziers Alfred Dreyfus Partei ergriffen.

Sein Vater konnte den Staudamm nicht vollenden, da er vorher von einer Lungenentzündung, die er sich auf der Baustelle zugezogen hatte, hinweggerafft wurde.

Um den Bahnhof Aix-TGV haben sich zahlreiche ungeheure Z-Wort-Lager mit aufgetürmten Müll und ihrem sauren Geruch breitgemacht.

Die savannenartige Hochebene bei Vitrolles ist interessant. Der Stadt merkt man allerdings die kurze Periode an, in der das Rathaus vom Front National geführt wurde, auch wenn die Stadt nun schon seit geraumer Zeit in sozialistischer Hand ist

Die Blicke der Einwohner sind abweisend. Ein Mann mit Rucksack, der durch die abendlichen Straßen spaziert, wird nicht gern gesehen. Macht nichts.

Der provenzalische Waldboden ist jedenfalls gastfreundlich.

Und dann natürlich Marseille, die Wilde. Ganz anders als der Rest der Küste, das abstoßend prollige Monaco oder das nach Botox und Silikonimplantaten stinkende Nizza.

Es kann meine romantische Einbildung sein, aber ich finde man merkt der Stadt den griechischen Ursprung an. Relikte der Vielgötterei in der Mentalität, die Lebensfreude und Wildheit, Roheit, Direktheit hervorbringen.

Marseille ist die älteste Stadt Frankreichs. Vor fast 3000 Jahren von Griechen aus dem heute in der Türkei gelegenen Phokäa gegründet, daher auch der französische Beiname „Cité Phocéenne“.

Die Place de Lenche am Rande des Panier (von Jean-Claude Izzo in seinen Krimis stimmungsvoll beschrieben) hat noch die rechteckige Form der antiken Agora, wo die Griechen ihrer Sitte gemäß die Angelegenheiten der Polis zu besprechen und verhandeln pflegten.

Ich mag das Schmutzige, das Rauhe, das Dreckige – das Menschliche.

Der Geruch der Abgase, die grellen, billigen Neonlichter in den Cafés und Wohnungen, die Graffitis, die ausgebrannte Autowracks, die benutzten Kondome auf den Wegen.

Eine Stadt, in der Drogen gehandelt und schon Kinder im Kugelhagel der Kalaschnikows sterben, wenn die Dealer ihre Rechnungen begleichen. Zum Zeitpunkt des Artikels im April 2023 sind bereits seit Anfang des Jahres 16 Personen erschossen worden.

Der Wanderweg führt an einer dieser gefährlichen Betonsiedlungen vorbei, der Cité La Bricarde. Man steht erst auf einer Anhöhe, wo schon ein Späher in einem Liegestuhl fläzt und den Fremden fragt, was er hier will. Nach dem Blick auf die Landkarte in meiner Hand, zieht er sich wieder in den Schatten der Pinien zurück. Kein Bulle, er ist beruhigt.

Unterhalb der Anhöhe liegen ausgebrannte Autowracks, die vermutlich nach einem Bruch abgefackelt und den Abhang heruntergekippt wurden.

An den Wänden der Cité sind die Preise für die Drogen in einer ungelenken Mischung aus Slang, Verlan und rechtschreibschwachem Französisch an die Wände gesprüht: „Beuh“, „Super moula“, „Cok“, „Peufra“.

Scharfe Augen erblicken sofort den Wanderer, der mit Rucksack den parallel verlaufenden Wanderweg herabkommt. Die kleinen Späher, halbwüchsige Jungen im Alter von ca. 12 bis 17 Jahren, im Drogenhändlerjargon „choufs“ genannt, stoßen sofort ihren Alarmruf aus, der sich wie „ara-ara“ anhört, sobald sie meiner ansichtig werden. Man sieht etwas ältere Gestalten, sich in den Schatten oder Hauseingänge zurückziehen.

Hier war mir etwas mulmig. Das Einzige, was mir als Verteidigungswaffe dienen konnte, war ein kleines Messer, mit dem ich Brot oder Salami schneide. Doch natürlich passierte nichts. Die Drogenhändler wollen nicht in ihren Geschäften gestört werden, alles, was die Polizei anzieht, ist schlecht. Es wird nicht gekämpft oder geraubt, solange es nicht unbedingt notwendig ist.

Marseille ist wie alle armen Gegenden religiös. Katholizismus und Islam dominieren.

Alle Religionen sind scheiße und der Islam noch mehr als alle anderen Religionen aber die Freundlichkeit und Herzlichkeit der Menschen sind gleichzeitig unleugbar. Und das ist schön.

Die Stadt ändert sich schnell. Im Verlauf der Wanderung musste ich feststellen, dass manche Wege oder Brücken gesperrt sind oder abgerissen wurden, so dass man Umwege laufen muss. Das ist die Dynamik der Stadt.

Am besten gefällt mir, dass der Weg die Form einer liegenden Acht hat, das Unendlichkeitszeichen. Wenn man die Strecke beendet hat, kann man wieder von vorn beginnen.

Und bald werde ich wieder hier sein.

Wenn ich die weißen, scharfkantigen Steine oder den typischen grobkörnigen französischen Asphalt unter meinen Füßen spüre, fühle ich mich lebendig.

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5 Antworten zu Am Rand der Städte verschwinden

  1. Pingback: Marseille, mon amour | akihart

  2. Andreas Moser schreibt:

    Danke, dass du uns mitgenommen hast auf diese Wanderung!

    Mir gefällt diese Kombination aus Stadt- und Naturwanderung und dass sich das leicht in mehrere Jahresetappen aufteilen lässt. So hat man bei jeder Abreise schon wieder die nächste Etappe vor Augen, auf die man sich vorfreuen kann.

    Ein bisschen wie der Rundumadum-Weg um Wien, nur dass dort weniger Menschen erschossen werden. 😉

  3. Pingback: Adoptiere ein Skelett! |

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