Youtube-Funde

Der Youtube-Algorithmus hat meine Persönlichkeit durchschaut und kennt mich mittlerweile besser als ich mich selbst. Ich habe es aufgegeben, mich dagegen aufzulehnen.

Vor nicht allzu langer Zeit musste ich abends ewig ratlos durch die Videos scrollen, um eine interessante Reportage zu finden. Heute finde ich eine Überfülle an interessanten Dokus, so dass ich heute Zeit brauche, um eine Auswahl zu treffen.

Neulich erst hat mir Algi ™ diesen Engländer vorgestellt, der schon seit ein paar Jahren als Vlogger unter dem Handle „Bald & Bankrupt“ unterwegs ist. Die Legende geht, dass er mit einem Buchladen pleite gegangen ist und dann Geld mit seinen Videos verdient hat. Es ist ehrlichgesagt ein großes Mysterium für mich, ob man tatsächlich mit monetarisierten Videos auf Youtube Geld verdienen kann, dass man damit seinen Lebensunterhalt bestreiten kann.

In seiner Jugend in den 1990ern hat er das perfide Albion verlassen und längere Zeit in Belarus und Indien verbracht, so dass er fließend Hindi und Russisch spricht, was es ihm ermöglicht mit den Menschen auf seinen entlegenen Streifzügen ins Gespräch zu kommen.

Er ist ein Engländer ganz nach meinem Geschmack: weltgewandt, gebildet, immer gut gelaunt und mit ausgeprägten „social skills“ ausgestattet, die es ihm ermöglichen, mit den unterschiedlichsten Menschen jenseits von Herkunft oder sozialer Klassen ins Gespräch zu kommen. Es sind keine bis ins Detail ausgearbeiteten Filme mit dokumentarischem Anspruch, sondern eher recht amateurhaft gefilmte und geschnittene Filme, deren Charme ganz in der Begegnung von Wesen der Gattung homo sapiens aus verschiedenen Erdteilen liegt, die auf amüsante Weise zusammentreffen.

Dieses Video ist ein wahres Kleinod: eine zufällige Begegnung in einer belarussischen Kleinstadt mit einem Unbekannten, der ihm die Stadt zeigen will und ihn auf den Friedhof führt, wo er ihm das Denkmal für den Zweiten Weltkrieg zeigen will, das er nicht findet. Man landet bei einem Freund, der Geigenlehrer ist, zum Wodkatrinken, gerät über den Zweiten Weltkrieg in Streit. Es wird geweint, getanzt, Geige und Gitarre gespielt. Schließlich verschwindet der Mann wutentbrannt aus der Wohnung, weil er den Engländer für einen amerikanischen Spion hält. Ein oberlustiges Miniaturschauspiel aus der postsowjetischen Welt oder, wie ein User in den Kommentaren schreibt: „Drinking with Slavics: happy, angry, dancing, repeat“. Man kann allerdings auch ruhig mit großem Respekt würdigen, dass in einem trostlosen Städtchen mit schlammigen Straßen und heruntergekommenen Plattenbauten ein zahnloser Alkoholiker den 3. Satz aus Vivaldis „Sommer“ auf einer verstimmten Geige spielen kann. Das sind die Paradoxe des Ostblocks.

Nachdem im Zuge der russischen Überfalls auf die Ukraine das paranoide russische Regime dem Briten ein Einreiseverbot auferlegt hat, hat er seine Aktivitäten auf Südamerika verlegt.

Dieses Video kommt einer Reportage schon näher. Darin macht sich der Vlogger auf den Weg der Migranten über den sogenannten Darién-Gap in die USA auf und dokumentiert, den gefährlichen Trip, auf dem die Migranten nicht nur mit Hunger, Durst und Verletzungen, sondern auch mit Gewalt, Raub und Entführungen durch Drogenkartelle konfrontiert sind. Der in Panama gelegene Darién-Gap ist das Einfallstor für Migranten aus Venezuela, die vor Maduro, Haitianern, die vor kannibalistischen Gangstern flüchten, aber auch von Vietnamesen, Indern und Afrikanern. Nicht nur Venezuela, auch das diktatorisch regierte Nicaragua rächt sich an den ihnen auferlegten Sanktionen, indem sie Migranten als Druckmittel und Waffe einsetzen, indem sie keine Visa verlangen und die Migranten direkt in die USA weiterleiten. Gerade erst im Dezember wurde ein indisches Flugzeug mehrere Tage in Frankreich festgehalten, das mit geschleusten Indern besetzt war.

Eine andere Neuentdeckung ist Legend. Ein wirklich gutes Interviewformat, bei dem ein Interviewgast lange und ausführlich zu Wort kommt. Der Gastgeber Guillaume Pley lädt die unterschiedlichsten Persönlichkeiten ein, von Pornodarstellerinnen, links- wie rechtsextremen Politikern, ehemaligen Geheimagenten und Mitgliedern von Spezialeinheiten. Frankreich hat ohnehin eine ganz andere Diskussionskultur, in der extreme Positionen und Meinungen nicht per se zur Disqualifikation führen. Im Gegenteil, für Talkmaster gilt: du kannst sagen was du willst, Hauptsache, du langweilst nicht. Auch hier hat sich in den letzten Jahren das Overton-Fenster langsam aber sicher verengt.

Zielsicher hat mir Algi das Interview mit dem Kriegsreporter Didier François vorgesetzt, dessen Persönlichkeit mich wirklich fasziniert hat. Obwohl mittlerweile über sechzig Jahre alt, hat er sich eine fabelhafte Jugendlichkeit und viel Humor bewahrt.

Es ist schier unglaublich, was er alles erlebt hat. Bei einer Reportage im Gazastreifen 2006 wurde ihm eine Kalaschnikowkugel ins Bein geschossen. Der Titanstab, mit dem sein Oberschenkelknochen ersetzt wurde, hinderte ihn jedoch nicht daran, seinen Beruf weiter auszuüben. Im Jahr 2013 wurde er in Syrien von Mitgliedern der Terrororganisation Islamischer Staat mehr als zehn Monate lang als Geisel festgehalten. Sein mit viel Humor vorgetragener Bericht über seine Gefangenschaft ist so spannend, dass selbst der Moderator ganz entgegen dem Konzept der Sendung zwei Teile von mehr als einer Stunde aus dem Interview macht.

Didier Francois ist wirklich ein sagenhaftes Vorbild an Resilienz. Der unschätzbare Wert solcher Interviews ist der, dass sie einem doch immer wieder vor Augen führen, wie absolut unbedeutend und belanglos die täglichen Ärgernisse im Gegensatz zu den Erlebnissen, die andere Menschen durchmachen müssen.

Die Untertitel sind leider bisher nur auf Französisch eingestellt, leider kann das Gespräch nicht wie bei anderen Videos automatisch englisch untertitelt werden, was wirklich schade ist. Ich hoffe, dass zumindest meine frankophilen Leser sich an diesen Videos erfreuen können.

Bon visionnage!

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