Das Oktoberfest-Attentat: Rechtsextremer Anschlag oder erweiterter Suizid eines Incels?

Thematisch passt der Artikel ganz gut in die Nachrichtenlage, in der nach Jahrzehnten die in der Anonymität der Großstadt untergetauchte Daniela Klette, die Terror-Rentnerin mit dem Faible für Samba und Capoeira, in Kreuzberg aufgeflogen ist.

Unvermittelt dreht sich die Aktualität um Wiedergänger aus einer längst untergegangenen Realität, als Helmut Kohl noch Bundeskanzler war, man noch mit DM bezahlte und die TV-Größen Frank Elstner und Dieter-Thomas Heck hießen. Die damaligen Kämpfe und ihre Beweggründe scheinen unbegreiflich und weit entfernt. Ich finde das interessant und kurios zugleich.

Ich wollte mir vor meiner letzten Reise wieder ein wenig True Crime zu Gemüte führen und hatte auf spannende Lektüre für den Flug und vor allem die Warterei im Boarding-Bereich gehofft.

Nun. Ja. Das Ergebnis stellt mich nicht wirklich zufrieden.

Die Bombe

Zunächst die Fakten: am 26. September 1980 explodierte eine Bombe, die in einem Papierkorb am Eingang der Wirtsbudenstraße zum Oktoberfest deponiert worden war. 13 Menschen wurden getötet, einschließlich des mutmaßlichen Attentäters.

Aufgrund von Zeugenaussagen unmittelbar vor der Explosion und des Verletzungsbildes wurde der 23-jährige Rechtsextremist Gundolf Köhler als Täter identifiziert, der die Bombe in den Papierkorb ablegte, wo sie unmittelbar darauf explodierte. Die Bombe war aus einer britischen Mörsergranate und einem mit Sprengstoff gefüllten Feuerlöscher hergestellt worden.

Es ist nicht klar – zumindest nicht nach Lektüre des Buchs -, ob Köhler die Bombe zündete, ob sie beim Ablegen (planwidrig) zu früh explodierte oder ob sie möglicherweise ferngezündet wurde.

Mit seinem Tod wurden die Ermittlungen gegen ihn von Rechts wegen eingestellt.

Ob Köhler bei seiner Tat Mittäter hatte, ist bis heute nicht geklärt. Das ist das große Thema des Buchs.

Der Autor des Buchs, Ulrich Chaussy, ist felsenfest davon überzeugt, dass es mehrere bisher nicht identifizierte und damit nicht bestrafte Mittäter an diesem Attentat gab. Ihm wurden einige Jahre nach dem Anschlag aus anonymer Quelle Teile der Ermittlungsakte zugespielt, so dass er auf eigene Faust zu recherchieren begann.

Der Zeuge

Ausgangspunkt für seine Recherchen war ein Zeuge, der Gundolf Köhler in dem Zeitraum unmittelbar vor dem Bombenattentat längere Zeit beobachtet hatte.

Der Zeuge nannte sich Frank Lauterjung. Er war homosexuell und war an dem lauen Spätsommerabend aus seiner nahegelegenen Wohnung zur Wiesn gegangen, um zu „cruisen“, d.h. Sexualkontakte zu Männern zu suchen. Er hielt sich auf der sogenannten Brausebadinsel, offenbar eine ehemalige öffentliche Badeanstalt, auf einer Verkehrsinsel direkt vor dem Eingang zur Theresienwiese auf. Dort gewahrte er Gundolf Köhler, den er in seiner Aussage bei der Polizei als „niedlichen Wuschelkopf“ bezeichnete, der im Gespräch mit zwei Männern war, die Frank Lauterjung nur von hinten sah. Die Männer trugen Armeeparkas und hatten kurzgeschorene Köpfe (im Buch ist die Rede von „Stiftenköpfen“; ich musste den Ausdruck erstmal googeln. Gemeint ist vermutlich einfach eine Buzzcut-Frisur). Während Lauterjung versuchte, mit Köhler Blickkontakt aufzunehmen, hatte dieser – nach Aussage Lauterjungs – eine sehr hitzige Diskussion mit den beiden Parkaträgern.

Lauterjung überquerte den Bavariaring in Richtung Wirtsbudenstraße, während Köhler mit seinen Gesprächspartnern zurückblieb. Danach flanierte der Zeuge im Eingangsbereich der Wirtsbudenstraße. Kurz darauf sah er wieder Köhler, den Wuschelkopf, der eine weiße Plastiktüte trug, in der sich ein schwerer Gegenstand zu befinden schien, und diesen Gegenstand in den Papierkorb ablegte, woraufhin sich unmittelbar darauf eine Stichflamme und eine Explosion ereigneten. Lauterjung wurde von der Druckwelle fortgeschleudert und verlor das Bewusstsein.

Als er wieder zu sich kam, herrschte unbeschreibliches Chaos. Um den Explosionsort lagen Tote und Verletzte.

Eine Zeugin sagte aus, sie habe direkt nach der Explosion in der Nähe des Eingangs einen jungen Mann gesehen, der sinngemäß immer wieder geschrien habe: „Das habe ich nicht gewollt, ich wollte das nicht!“

Eine andere Zeugin gab viel später an, sie habe Köhler wenige Minuten vor der Explosion am Bavariaring im Gespräch mit mehreren Insassen eines Autos gesehen, das am Straßenrand hielt.

Diese unterschiedlichen und widersprüchlichen Aussagen sind wichtig für die Frage, ob es tatsächlich Mitwisser- oder Mittäter gegeben hat. Aus der Sicht von Ulrich Chaussy gibt es nicht den geringsten Zweifel daran, dass die beiden „Stiftenköpfe“ Mittäter Köhlers gewesen waren.

Das große Problem bei der Geschichte: sie konnten nie ermittelt werden.

Abgesehen von dem Zeugen Lauterjung, nennt Chaussy noch zwei andere Zeugen, die aber jeweils andere Wahrnehmungen schildern, einen schreienden Mann mit Gewissenbissen und Köhler mit Gespräch mit Automobilisten. Keiner der Zeugen ist der Lage, eine Aussage der anderen Zeugen zu bestätigen. Weder der schreiende Mann, noch die Insassen des Autos konnten ermittelt werden.

Für Chaussy sind es jedoch keine kritisch zu prüfenden Aussagen, sondern unterschiedliche Facetten eines Handlungsablaufs kurz vor und nach der Explosion, die er nicht hinterfragt, sondern als wahrhaftig und gegeben nimmt.

Hier kommen wir trotz der sehr interessanten Recherche zu dem ersten von zahlreichen Schwachpunkten des Buches. Der Journalist nimmt seine eigenen Überzeugungen für Beweise und verrennt sich dadurch in immer weitere Fehlschlüsse. Fehlschlüsse deswegen, weil Beweisführungen ohne objektive Anknüpfungspunkte logisch unzulässig und damit falsch sind. Es sind Spekulationen, die sich entweder zu Tatsachen konkretisieren oder aber zu Verschwörungstheorien verselbständigen können.

Ulrich Chaussy verletzt damit erstens die elementare journalistische Regel, wonach eine Tatsachenbehauptung durch (mindestens) zwei Quellen bestätigt sein muss.

Zweitens müssen Aussagen von Augen- oder Ohrenzeugen sehr kritisch hinterfragt werden, denn Zeugenwahrnehmungen sind aus vielfacher forensischer Erfahrung das schwächste Beweismittel. Es gibt psychologische Versuche, bei denen Versuchspersonen nur wenige Minuten nach einem bestimmten Ereignis nicht mehr in der Lage waren, die Farbe eines Autos, die Haarfarbe oder die Kleidung einer Person korrekt zu benennen. Das menschliche Gehirn spielt einem schon im Normalfall schöne Streiche und lässt uns Dinge erinnern, die sich überhaupt nicht oder völlig anders abgespielt haben.

Dies gilt umso mehr, als es sich bei den Zeugen vor und nach der Bombenexplosion um Beobachter eines traumatisierenden Geschehens und/oder um verletzte Opfer eines Attentats handelte, die sehr wahrscheinlich unmittelbar danach unter einem schweren Schock standen.

Wahrscheinlich ist es bei mir eine Berufsdeformation, aber ich misstraue automatisch Zeugenaussagen, weil ich schon aus meiner eigenen Anwaltspraxis weiß, wie unzuverlässig (oder unehrlich) Zeugen sein können.

Als weiterführende Lektüre kann ich nur das sehr hilfreiche Buch „Tatsachenfeststellung vor Gericht“ von Bender/Nack empfehlen, in dem vom Irrtum bis zur Lüge alle möglichen Fehler bei der Sachverhaltsaufklärung thematisiert werden und Tips für eine zielführende Zeugenbefragung gegeben werden. Es richtet sich zwar formal an Richter, aber ich arbeite als Anwalt recht viel mit dem Buch. Es ist zwar Fachliteratur, aber ich halte es auch für juristische Laien (eventuell auch für Journalisten) instruktiv, vor allem weil es nicht staubtrocken geschrieben ist, sondern eher amüsant und viele praktische Beispiele bietet.

Was uns zur Persönlichkeit des Hauptzeugen Frank Lauterjung führt. War er ein zuverlässiger Zeuge? Außer der Polizei kann hierzu niemand etwas sagen. Als Chaussy seine Adresse ausfindig gemacht hatte, stellte sich heraus, dass Lauterjung zwei Jahre nach dem Attentat verstorben war.

Abgesehen von seinen meiner Meinung nach fehlerhaften Schlussfolgerungen und Spekulationen fördert Chaussy doch so einige interessante biographische Aspekte zutage. Der Zeuge schien nämlich in seiner Jugend selbst ein wenig orientierungs- und haltlos zu sein.

In den1960er Jahre wurde er Parteimitglied bei der rechtsextremen NPD (ob dies bewusst oder unbewusst seine Aussage oder vielleicht auch seine Wahrnehmung beeinflusst haben könnte, wird in dem Buch nicht thematisiert). Nachdem er sich mit seinem politischen Mentor überworfen hatte, trat er nach einigen Jahren aus der NPD aus und machte eine politische 180-Grad-Wende und engagierte sich beim SDS in Berlin. Nach programmatischen Enttäuschungen verließ er auch diese Bewegung, schloss sich einer christlichen Sekte an und wurde Seelsorger.

Chaussy befrage mehrere Bekannte und Familienmitglieder von Lauterjung, die ihm berichteten, dass der Hauptzeuge kurz nach dem Attentat körperlich stark abgebaut habe. Er sei zwei Tage nach dem Selbstmord eines Neonazis im Jahr 1982 plötzlich verstorben, offiziell an einem Herzinfarkt.

Aus Sicht von Chaussy lässt das den Schluss zu, dass ihn die Traumatisierung durch das erlebte Attentat psychisch stark belastet hatte, ihn immer schwächer und kraftloser hat werden lassen und der Selbstmord des Neonazis seine Erinnerungen aufgewühlt haben und ihm bei seiner angegriffenen Gesundheit den Rest gegeben haben.

Kann so sein. Oder auch nicht. Lauterjung wurde nicht obduziert.

Ich habe da allerdings eine andere Theorie, die den körperlichen Verfall erklären könnte: zu Beginn der 1980er Jahre begann ein kleines Virus zu zirkulieren, das hauptsächlich schwule Männer befiel. Niemand konnte sich auf diese Krankheit einen Reim machen, deren Verlauf rasant verlief und die Patienten schnell dahinraffte. Als man das Virus identifiziert und kurz darauf seinen Übertragungsweg verstanden hatte, waren die Ärzte zwar etwas schlauer, waren aber machtlos gegen den Krankheitsverlauf. Die Krankheit, die man zunächst aufgrund der Symptome deskriptiv AIDS genannt hatte, führte zu einem schnellen körperlichen Verfall und Tod.

Lauterjung, der, wie man dem Bericht entnehmen kann, gern cruiste, fiel genau in dieses Zeitfenster, als sich das HI-Virus unerkannt rasant verbreitete und die Medizin noch keinerlei Therapie dagegen hatte.

In der damaligen Zeit waren sowohl Homosexualität als auch eine AIDS-Erkrankung hochgradig schambehaftet und tabuisiert, so dass Angehörige verklausulierte Erklärungen für den plötzlichen Tod abgaben: Krebs, „kurze schwere Krankheit“ oder Herzinfarkt, wie bei Lauterjung.

Ich verhehle nicht, dass das auch meinerseits ein spekulativer Erklärungsansatz ist, aber im Gegensatz zu Chaussy erhebe ich keinen Wahrheitsanspruch darauf.

Bei der Polizei hatte Lauterjung jedenfalls die Szenerie mit Gundolf Köhler und den beiden Parkaträgern unmittelbar vor der Explosion geschildert. Im Verlauf der Vernehmungen kam er – aus Sicht von Chaussy von den Ermittlern gedrängt oder gelenkt – zu der Aussage, es habe für ihn ausgesehen, als ob Köhler nach einem Schlafplatz suche und sich deshalb mit den Männern unterhalten habe. Die Begegnung sei also, aus Sicht der Polizei, rein zufällig und habe keine Relevanz für die Ermittlungen der Tathintergründe und eventueller Mittäter. Für Chaussy stellt das einen Versuch dar, die Ermittlungen auf einen lebensmüden Einzeltäter zu beschränken und einen etwaigen rechtsextremistischen Kontext zu ersticken. Dies vor dem Hintergrund, dass der seine Wiederwahl anstrebende bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß die Wehrsportgruppe Hoffmann, bei der Köhler an einer Wehrsportübung teilgenommen hatte, verharmlost hatte (was zutrifft).

Chaussy versucht, die Tat des Gundolf Köhler als von der Wehrsportgruppe Hoffmann, von der noch zu reden sein wird, initiiert darzustellen. Chaussy wirft der Polizei und der Bundesanwaltschaft vor, den (möglichen) rechtsextremen Kontext der Tat aus politischen Gründen ausgeblendet, wenn nicht gar vertuscht zu haben.

Die sehr große Schwäche in seiner Beweisführung ist allerdings die, dass niemand außer Lauterjung diese Parkaträger gesehen hat und sie niemals ermittelt werden konnten.

Aus diesem Grund war es der Polizei und der Bundesanwaltschaft nicht möglich, eine valide Aussage über Mittäter oder weitergehende Motive der Tat zu treffen. Nicht ermittelte Täter, bei denen noch nicht einmal klar ist, ob es sie wirklich gegeben hat, sind in der juristischen Realität (die sich, wohlgemerkt, von der tatsächlichen Realität unterscheiden kann) nicht existent.

Das alles haben Chaussy mehrere Bundesanwälte, die Normalsterbliche so gut wie nie zu Gesicht bekommen, persönlich mehrfach auseinandergesetzt. Natürlich hat ein Journalist eine andere Rolle als ein Staatsanwalt, der nur mit der Ermittlungs- und Prozessmaterie arbeiten kann, die ihm konkret vorliegt. Ein Journalist, darf hinterfragen und auch selbst recherchieren. Die Aufforderung des Bundesanwalts Kurt Rebmann, der noch die Terrorverfahren gegen die RAF geführt hat, an Chaussy: „Präsentieren Sie mir doch die Täter!“ ist aus Sicht des Journalisten der Gipfel des Zynismus und der Arroganz einer abgehobenen Justiz.

Aber Stellen wir einmal ein kleines Gedankenexperiment an: angenommen, es hat die beiden Parkaträger wirklich gegeben (was ich persönlich keineswegs ausschließen will). Gundolf Köhler war nach der Aussage von Lauterjung in ein hitziges Gespräch mit ihnen verwickelt.

Kann man daraus schließen, dass sie sich kannten? Vielleicht. Aber gesichert ist das nicht. Vielleicht sind sie über irgendeinen unbekannten Gegenstand in Streit geraten.

Doch selbst wenn es sich um Begleiter oder Mittäter handelte, weiß man nichts über ihr Gesprächsthema. Haben die beiden versucht, Gundolf Köhler zur Tat zu drängen oder nicht vielleicht sogar, ihn von der Tat abzubringen? Niemand weiß das.

Was könnte dies also an Ermittlungsansätzen erbringen? Es sind müßige Spekulationen. Eine solche Beweislage ist für einen Journalisten, der den ganz großen Scoops landen will, verständlicherweise sehr frustrierend, aber eben nicht zu ändern. Die Versuchung, einer Verschwörungstheorie zu erliegen, muss immer bekämpft werden.

Leider geht das bedenklich in diese Richtung, als Chaussy auf mögliche Gladio-Verbindungen und dabei auf das unsägliche Schrottbuch des Verschwörungstheoretikers Daniele Ganser verweist.

Hier hast du mich verloren, Uli!

Die Hand

Und dann ist da noch die Sache mit der Hand.

Unweit der Brausebadinsel wurde nach der Explosion ein „Handfragment“ gefunden. Aus dem Buch wird nicht klar, ob es sich dabei um eine ganze Hand oder mehrere Finger handelte, jedenfalls legt das Wort „Fragment“ nahe, dass es nur der Teil einer Hand war. Chaussy kommt im Verlauf des Buchs zu dem Schluss, dass es sogar zwei Handfragmente gegeben haben müsse.

Köhlers Leiche war die einzige, an der beide Unterarme und ein Unterschenkel fehlten. So lag es nahe, dass er der ehemalige Inhaber dieses Körperteils gewesen war.

Die Polizei hat auch ermittelt, ob Köhler die abgerissene Hand zugeordnet werden konnte. Da ein DNA-Abgleich zum damaligen Zeitpunkt noch nicht möglich war, da die entsprechende Technik noch nicht erfunden war, gab es nur die Möglichkeit einer serologischen Überprüfung, d.h. eines Blutgruppenabgleichs.

Chaussy schreibt in seinem Buch: Im Schlussvermerk der Soko Theresienwiese heißt es: „Etwa 25 m nordwestlich des Explosionszentrums, auf der Verkehrsinsel des Brausebads, wurden bei der Tatortbefundaufnahme die Reste einer menschlichen Hand gefunden. Eine serologische Zuordnung zur Leiche des Gundolf Köhler war nicht möglich. (Hervorhebung durch mich) Der Abdruck von diesen Fingern war aber identisch mit Fingerspuren, die in schriftlichen Unterlagen des Gundolf Köhler gesichert worden sind. Die zweite Hand von Gundolf Köhler konnte trotz intensiver Suche nicht gefunden werden. Sie dürfte durch den Explosionsdruck zerfetzt worden sein.“

Aus dem fettgedruckten Satz in dem Abschlussbericht zieht Chaussy die Schlussfolgerung, dass die abgerissene Hand, da alle anderen verletzten und verstorbenen Opfer der Explosion noch beide Hände hatten, einem bisher nicht identifizierten Mittäter Köhlers gehören müsse.

Chaussy liest und versteht den Satz so, dass ein serologischer Abgleich stattgefunden hat, die Blutgruppe der Hand aber nicht mit der von Köhler übereinstimmt. Die Übereinstimmung mit Fingerabdrücken auf Unterlagen in Köhlers Wohnung ließen sich dadurch erklären, dass der unbekannte Mittäter Schriftstücke in Köhlers Wohnung berührt habe. Möglich. Aber doch schon sehr an den Haaren herbeigezogen.

Ich bin immer wieder über die phänomenale Unfähigkeit zu logischem Denken bei vielen Journalisten erstaunt. Da das Buch an sich gut geschrieben ist, kann es nicht an fehlender Lesekompetenz liegen. Es muss bei Chaussy ein vorsätzliches Missverstehen vorliegen.

Aus dem Satz in dem Schlussvermerk, der in der Tat mehrere Interpretationen zulässt, ist nämlich keineswegs zwingend zu folgern, dass die Hand einer anderen, nicht-identifizierten Person gehört.

Dass eine serologische Zuordnung nicht möglich war, kann darauf zurückzuführen sein, dass zwar ein Abgleich versucht worden war, aber die Hand so zerstört war, dass kein für eine Probe ausreichendes analysierbares Material entnommen werden konnte.

Es kann in letzter Konsequenz auch bedeuten, dass ein Abgleich zwischen Hand und Leiche auch einfach gar nicht vorgenommen worden ist.

Chaussy kommt dann zu der aus meiner Sicht abwegigen Konklusion, die abgerissene Hand müsse einem Mittäter gehören, der seinen zerfetzten Armstumpf nicht im Krankenhaus habe behandeln lassen, da keine derartige Verletzung in den Tagen nach dem Attentat gemeldet worden war. Ernsthaft!?!

Hier werde ich als Leser langsam echt genervt. Hypothesenbildung, schön und gut, aber das hier geht in Richtung Verschwörungstheorie.

Heute gibt es allerdings die Möglichkeit des DNA-Abgleichs. Für einen neugierigen Journalisten liegt es daher nahe, eine solche anzuregen. Man müsste dazu genetisches Material von Köhler beschaffen, etwa von einer Zahn- oder Haarbürste, was nach über vierzig Jahren natürlich etwas schwierig ist, oder in letzter Konsequenz seine Leiche exhumieren, um aus Knochen oder Zähnen DNA zu exhumieren. Sehr aufwendig, aber möglich.

Dazu bräuchte man aber auch noch die abgerissene Hand. Und die ist verschwunden. Sie ist weder in der Münchner Rechtsmedizin, noch beim LKA, noch bei der Bundesanwaltschaft.

Für Chaussy ist das nur ein weiteres Glied in der bayerischen Vertuschungskette, um das rechtsextreme Komplott um die Wehrsportgruppe Hoffmann und anderen Neonazis nicht ans Licht der Öffentlichkeit kommen zu lassen.

Aber jetzt mal im Ernst, Uli: soll der Generalbundesanwalt die vergammelte Flosse jahrzehntelang in einer Tupperdose in seiner Schreibtischschublade aufbewahren und jeweils an seinen Nachfolger übergeben, weil irgendwann mal ein DNA-Abgleich möglich wäre?

Die wahrscheinlichste Erklärung ist, dass die Hand vermutlich irgendwann vernichtet wurde, weil das Verfahren eingestellt war und in der Asservatenkammer Platz für neue Beweismittel geschaffen werden musste. So einfach ist das. Ockhams Rasiermesser.

Natürlich kann alles auch ganz anders sein und man soll sich anderen Erklärungsansätzen nicht verschließen. Aber wer eine Tatsache behauptet, ist beweispflichtig, sonst ist es eine Spekulation.

Der Attentäter

Kommen wir nun zu dem mutmaßlichen Haupttäter Gundolf Köhler.

Zum Zeitpunkt der Tat wohnte er in Tübingen und stand kurz vor der Exmatrikulation, da er eine Prüfung in seinem Studienfach Geologie nicht bestanden hatte. Er hatte Probleme, Kontakt zum anderen Geschlecht aufzunehmen. Nach einer angestrebten Karriere als Berufssoldat war er nach seinem Wehrdienst, den er durch eine vorgetäuschte Taubheit vorzeitig beendete, von der Bundeswehr komplett desillusioniert. Er hatte wenige Freunde und galt als eigenbrötlerisch und kauzig.

Er war an Chemie interessiert und hatte in seiner Jugend Sprengstoffexperimente durchgeführt. Auch hing er eine Zeit lang rechtsextremen Ansichten an und hat an mindestens einer Wehrsportübung bei der berüchtigten WSG Hoffmann in Bayern teilgenommen.

Bezüglich seines familiären Hintergrunds hat Chaussy wertvolle Recherchearbeit geleistet. Die in Donaueschingen ansässige Familie Köhler kann nicht als rechtsextrem eingestuft werden. Sein Vater stammte aus Schlesien und floh nach dem Zweiten Weltkrieg nach Westdeutschland. Gundolfs Vater betätigte sich als gemäßigt Konservativer bei der örtlichen CDU. Die Brüder waren deutlich liberaler, sie neigten der SPD, der FDP und den neu gegründeten Grünen zu.

Gundolf Köhler, das Nesthäkchen der Familie mit konservativem Vater und links-liberalen Brüdern hat, um die Worte eines der Brüder zu paraphrasieren, das in der Familie noch offene Angebot im Parteienspektrum angenommen, was eine interessante psychologische Deutung darstellt.

Das interessante ist, dass die Dinge nicht so eindeutig sind, wie sie sonst dargestellt werden. Denn noch verblüffender ist, dass Gundolf in der Zeit vor dem Attentat den rechtsextremen Ideen abgeschworen und sich den Grünen zugewandt hatte.

Im Buch heißt es dazu:

Christian Köhler gewann ab Anfang 1980 den Eindruck, dass dieser Schock für seinen jüngsten Bruder heilsam war. Jetzt kamen wieder Gespräche in Gang, die zeitweise zwischen ihm und Gundolf gar nicht möglich gewesen seien. Gundolf habe seiner Auffassung nach in dieser Zeit begonnen, zu den konservativen Grünen [sic!] zu tendieren. „Er hat dann mit mir intensiv über die ökologischen Probleme in unserer Gegend diskutiert. Ich stellte fest, dass bei ihm sehr viel in Bewegung war und zwar weg von dieser ursprünglich rechtslastigen Argumentation. Dass das kein nahtloser Prozess war wie eigentlich alles in der Realität, dass das seine Bock- und Seitensprünge hatte, ist natürlich auf der anderen Seite auch klar“. Zumindest kurzzeitig habe Gundolf seine Fühler auch in Richtung der Grünen ausgestreckt, fügt Klaus Köhler hinzu. Der Ortsverband Donaueschingen der Grünen wurde im Frühjahr 1980 noch vor der baden-württembergischen Landtagswahl gegründet. In einigen der ersten Versammlungen am Ort sei Gundolf aufgetaucht, um sich über die neue Gruppierung zu informieren.“ (S. 185)

Ich finde, dass das die These des rechtsextremen Anschlags doch stark relativiert und ich frage mich, warum Chaussy trotz dieser sehr interessanten Elemente trotzdem an seiner These festhält.

Was die Recherchen in der Familie und im Umfeld Gundolf Köhlers ergaben, war das Folgende: er hat sich in einer persönlichen, beruflichen und seelischen Sackgasse gesehen. Er hatte keinen Erfolg bei Frauen, er war von der Bundeswehr enttäuscht, auf die er große Berufspläne gesetzt hatte, er war im Studium durchgefallen und stand unmittelbar vor der Exmatrikulation (der Brief mit dem Exmatrikulationsbescheid ging kurz nach seinem Tod postalisch bei ihm ein).

Es kann sein, dass aus der rein subjektiven Perspektive des Gundolf Köhler und dem Vergrößerungsglas seiner eigenen Psyche ihm seine Situation so ausweglos und düster erschienen ist, dass er sich entschlossen hat, sich das Leben zu nehmen. Mit einem großen Knall.

Hatte er noch rechtsextremistische Anwandlungen oder nicht? Durchaus denkbar. Auszuschließen ist es jedenfalls nicht, dass er trotz seiner Besuche bei den Grünen, teilweise seine rechtsextremen Ansichten beibehalten hat. Der Mensch ist widersprüchlich.

So einige Journalisten, die auf der Suche nach dem Scoop sind, verrennen sich in abstruse Theorien, ohne das Naheliegende einfach zu akzeptieren.

Chaussy stellt sich die Frage: wenn Gundolf Köhler tatsächlich vorhatte, Selbstmord zu begehen, warum hat er sich nicht mit einem Strick im Wald erhängt, sondern ist eigens mit einer Bombe nach München gefahren und hat Unschuldige umgebracht?

Gute Frage. Legitime Frage.

Aber man kann diese Frage genauso umdrehen: wenn Köhler tatsächlich ein rechtsextremes Fanal setzen wollte, warum ist er dann nach München gefahren und hat fröhliche Wiesnbesucher auf einem dem Alkohol gewidmeten Volksfest ermordet, das nicht gerade als Zusammenkunft von Linken, Juden oder muslimischen Besuchern bekannt war?

Was überwog? Sein faschistischer Menschenhass oder sein Lebensekel aufgrund seines selbstempfundenen Loser-Daseins? Vielleicht eine Mischung aus beidem.

Es kann einfach sein, dass er lebensmüde und depressiv war. Und daneben auch rechtsextrem. Eine ganz banale Erklärung.

So wie das Leben, das allzu oft einfach bestürzend banal ist.

Der Wehrsport-Chef

Chaussy versucht in seinem Buch den Gründer der Wehrsportgruppe Hoffmann mit zwei Attentaten in Verbindung zu bringen: dem Oktoberfest-Attentat und dem Doppelmord von Erlangen, bei dem der Rabbiner Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke erschossen worden waren.

Bei dem Doppelmord von Erlangen besteht tatsächlich eine Indizienkette zwischen der Tat und Hoffmann. Der mutmaßliche Täter Uwe Behrend, der später im Libanon Selbstmord verübte, war Mitglied der Wehrsportgruppe und hatte am Tatort die blaue Sonnenbrille von Hoffmanns Lebensgefährtin verloren. Hoffmann hatte die Tatwaffe verschwinden lassen und Behrend bei seiner Flucht unterstützt.

In einem nachfolgenden Prozess konnte ihm jedoch nicht nachgewiesen werden, dass er im Vorhinein von der Tat wusste oder in sonstiger Form an ihr beteiligt gewesen war.

Beim Oktoberfest-Attentat ist die einzige Verbindung zwischen Gundolf Köhler und Hoffmann die, dass Köhler einige Jahre zuvor an einer seiner Wehrsportübung teilgenommen hat. Auch von einer Beteiligung am Attentat in München wurde Hoffmann freigesprochen.

Karl-Heinz Hoffmann ist eine mysteriöse und undurchsichtige Person, über die es viele Gerüchte aber nur sehr wenige verlässliche Informationen gibt.

Der aus Nürnberg stammende Hoffmann, der in seiner Jugend in Thüringen aufwuchs, hatte eine Ausbildung zum Grafiker absolviert.

Hoffmann, bei dem man nicht so genau weiß, wovon er seinen Lebensunterhalt bestritt, konnte als sein Domizil das Schloss Ermreuth erwerben und sich einen zahmen Puma halten. Offiziell verkaufte er ausrangierte Bundeswehrfahrzeuge an die PLO im Libanon. Ich kenne mich in dem Markt nicht aus, aber ich glaube, man muss schon eine ganze Menge Unimogs verkaufen, um sich ein Schloss leisten zu können.

Offenbar hatte er nebenher eine Menge Zeit, um große Reden zu schwingen und seine Wehrsportübungen abzuhalten.

Auf Fotos trägt er entweder einen lächerlichen Kaiser Franz-Josef-Backenbart oder einen struppigen Salafistenbart.

Das Landgericht Nürnberg-Fürth charakterisierte ihn in einem Urteil von 1976 folgendermaßen: Für das Gericht war er „ein militanter Radikaler faschistoider Ausrichtung“, der Demokratie und Parlamentarismus ablehnte, Wahlen als „für die wahren Ziele des Volkes schädlich“ darstellte, das Führerprinzip vertrat und einen „wehrfähigen Nationalstaat innerhalb des deutschen Lebensraumes“ anstrebte.

War er der eingefleischte Rechtsextremist, als der er beschrieben wurde, oder doch vielleicht eher ein verkappter Schwuler mit Uniformfetisch, der gerne knackige Jünglinge um sich hatte, um sie zu scheuchen und herumzukommandieren, um seinen Herrenmenschen- und Überlegenheitskomplex an ihnen auszuleben?

Wie immer schließt im Leben das eine das andere nicht aus.

Fakt ist, dass er in den 1980er Jahren eine mehrjährige Freiheitsstrafe absaß, aber von der Beteiligung am Oktoberfest-Attentat und vom Doppelmord in Erlangen freigesprochen wurde.

Rechercheansätze

Nach mehreren Jahrzehnten ist es natürlich sehr schwierig, aber nicht unmöglich – wie der Fall Daniela Klette zeigt – Täter und Gehilfen aufzuspüren und Taten vielleicht aufzuklären.

Trotz meiner vorgebrachten Kritik muss man Ulrich Chaussy zugestehen, dass es so einige Ungereimtheiten in dem Fall gibt. Beispielsweise die Unauffindbarkeit der Laborbücher aus dem Jahr 1980 in der Rechtsmedizin. Damit fehlen Angaben über die Obduktion der Leiche von Köhler und der rechtsmedizinischen Untersuchung des Handfragments.

Aber andere Ermittlungsansätze gibt es dennoch.

Woher kam denn eigentlich der Sprengstoff? Dies wurde, zumindest im Buch, nicht geklärt. Weder in Köhlers Elternhaus in Donaueschingen noch in seinem Studentenzimmer in Tübingen hat man Sprengstoffspuren gefunden. Vielleicht hat Köhler die Räume sehr sorgfältig gesäubert, vielleicht haben die Ermittler auch schlampig gearbeitet.

War es überhaupt Köhler, der die Bombe baute? Und wenn nicht er, wer dann?

Woher stammte der Feuerlöscher? Und noch interessanter: woher kam die Mörsergranate, in die der Sprengstoff gefüllt worden war?

Es mag ja so einige Waffensammler und Militariahändler geben, die unter dem Ladentisch mal ein StG44 oder eine MP40 verkaufen. Aber eine Mörsergranate, ist schon etwas sehr Ungewöhnliches und auf diese dürften nur die wenigsten Zugriff haben.

Und was ist eigentlich mit dem guten Grundsatz „Follow the money“?

Wie kommt es, dass jemand wie Hoffmann, der eine Ausbildung zum Grafiker gemacht hat und in seiner Freizeit im Tarnanzug durch die Wälder hüpft, sich ein Schloss leisten kann?

Hat ihm da jemand finanziell unter die Arme gegriffen, damit er seine Aktivitäten ausüben kann? Vielleicht vermögende Alt- und Neonazis?

Oder vielleicht auch die Stasi, die sich gerne ihre eigenen Neonazis hielt, um die Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik abzufucken.

Fragen könnte man ihn jedenfalls, denn der Betroffene lebt noch.

Es ist jedenfalls auffällig, dass so einige Neonazis die in den 1970er und 1980er Jahren tonangebend waren, aus der DDR stammten.

Beispielsweise Udo Albrecht, der aus der DDR floh und Karl-Heinz Hoffmann bei seinem Fahrzeughandel mit der PLO unterstützte, Attentate beging und bei einem Ortstermin an der innerdeutschen Grenze vor der Nase der Staatsanwälte auf das Zonengebiet entkam und heute als verschollen gilt. Er war lange Zeit DDR-Agent.

Oder Uwe Behrend, der Shlomo Lewin und Frida Poeschke mutmaßlich ermordete.

Zu nennen wäre auch der Badener Odfried Hepp, der in die DDR floh und dort als Stasi-IM amtete.

Möglicherweise birgt auch die Stasi-Unterlagenbehörde so einige interessante Überraschungen.

Fazit: eine interessante Recherche, der es aber an Rigorosität und methodischer Strenge mangelt. Leider ordnet Chaussy Rechercheelemente seiner These unter, dass es mehrere Mittäter aus dem Umfeld der Wehrsportgruppe Hoffmann müssen, was die Beweislage aber nicht hergibt.

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