Throwback Thursday

Der Youtube-Algorithmus war der Auffassung, dass ich dieses Video sehen soll.

Es ist ein Mix aus der Mezzanine, der Bar im Nachtclub L’Alcazar. Gewissermaßen das Pendant zur Panoramabar in Berlin. Nur ein wenig schicker, weil: Paris.

Es ist echt gespenstisch. Vielleicht hat mein Telefon Musik, die ich beim Arbeiten höre, belauscht und mir über Youtube das Video kredenzt, so wie man personalisierte Werbung auf Webseiten erhält, wenn man sich über bestimmte Themen unterhält.

Es kann sehr gut sein, dass ich diesen Ambient-Downtempo-Minimal-Mix tatsächlich damals in Paris gehört habe, abends beim Lernen. 19. Juni 2000. Da standen die Semesterabschlussklausuren an. Da war nichts mehr mit Party. Es war Hardcore-Lernphase und alle saßen an ihren Schreibtischen und würgen sich den Stoff rein.

Wenn die Bibliotheken schlossen, ging ich nach Hause und lernte weiter. Die Abende waren warm und noch sehr lange hell. Paris liegt nochmal mehr als 1000 km westlicher als Berlin.

Ich erinnere mich an einen Abend. Schräg gegenüber, über der Wäscherei in der Rue Hyppolite Maindron, feierte ein Mädel aus einer Familie tunesischer Juden ihren Geburtstag. Vielleicht ihren zwanzigsten. Ich hörte orientalische Klänge, Housemusik, Lachen. Ich war kaum älter als sie. Wie gerne wäre ich einfach hinübergegangen. Ich prokrastinierte. Ich wollte überall sein, nur nicht an meinem Schreibtisch und meine bis zum platzen gefüllte Birne noch weiter mit Schemata zum Gesellschaft- oder Arbeitsrecht füllen.

Wie Alices Sturz in den Kaninchenbau zieht mich dieses Video in die Zeit zurück. Die Musik lässt die Stimmung wieder aufleben, wie es sonst nur ein plötzlicher erhaschter Geruch kann. Unglaublich.

Jetzt sitze ich hier in meinem Büro und übe den ungeliebten Beruf aus und denke an die Zeit zurück.

Fred habe ich mit Yvan letztes Jahr in Paris auf dem 45. Geburtstag gesehen und sogar Anfang des Jahres in Helsinki, wo er eine schöne Wohnung im Stadtteil Pasila hat. Die eisige Kälte von – 20 Grad und die Massen an Schnee sind schon Erfahrungen der besonderen Art, die man in Deutschland definitiv nicht mehr macht.

Unsere Kinder spielten gemeinsam Mario Cart auf der Konsole. Daran kann man ermessen, wieviel Zeit schon vergangen ist. Bald werden die Kinder ausziehen.

Die Zeit rast. Man blinzelt einmal und schon ist April, man blinzelt nochmal und es ist August, wenn man ein drittes Mal blinzelt, sitzt man schon in der Weihnachtsfeier und hat zwei Glühwein intus und die Strafverteidiger im Haus erzählen ihre besten Geschichten aus der Blut-und-Sperma-Abteilung und lästern über Richter, Staatsanwälte und Kollegen.

Das Jahr in Paris liegt schon Äonen zurück. Die Welt hat sich schon lange weitergedreht. Die Musik zieht mich für eine kurze Weile dorthin zurück.

Ich versinke in cosy Erinnerungen. Sehe mich im Lesesaal im Centre Pompidou hinter Bücherregalreihen vergraben, in der Bibliothèque Sainte-Geneviève. Mit einem Joint am Ufer der Seine.

Der Mix ist vorbei. Ich ziehe die Tür zu. Die Geister kommen.

(Memo an mich selbst: Google home microphone deaktivieren)

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3 Antworten zu Throwback Thursday

  1. geschichtenundmeer schreibt:

    Gut, dass es die Geister aus der Vergangenheit gibt.

    • benwaylab.com schreibt:

      Ja, manchmal ist es schön, in Erinnerungen zu schwelgen, vor allem, wenn sie einen so unverhofft überraschen. Aber zu oft ist, glaube ich, nicht gut. Vor allem, wenn man älter wird 😉

  2. Pingback: Youtube-Funde |

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