Die Augen von Berlin

Ihre Augen sind anders, ihre  Neugier anders. Es kommt vor, dass ein halberwachsener Zigeunerjüngling mit dem Schnitzmesser über seine Kehle geht – die Zigeuner kenne nur den Tod in der Liebe oder den Tod im Leben, und wenn sie glauben, die Sonne stehe tief  genug oder die Mondsichel erhelle das Stück Himmel über ihren Köpfen im  richtigen Licht, sterben sie einfach. Sie sterben meist an einem starken Gefühl. Ihre Sehnsucht ist anders. Ihre Augenblicke sind anders. Es reißen keine Wunden in ihren Lungen auf, sie kommen aufgerissen und aufgewühlt zur Welt.

Feridun Zaimoglu, Leyla

Diese Augen kenne ich auch. Diese seltsamen Augen habe ich im Osten Berlins gesehen, in den 90ern. Als ich da war, ist sind sie mir bewusst gar nicht so aufgefallen. Erst im Nachhinein, als ich das Bild des kleinen Postmanns gesehen habe.

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Ein armes kleines Geschöpf in einem Hinterhof. Fast schon ein androgynes Aussehen. Schmächtige, fallende Schultern unter dem schäbigen Postlermantel und der häßlichen Postlertschapka. Darunter ein abgemagertes Gesicht, das eine verprügelte, unterdrückte Seele zeigt. Ein von Alkohol, Hoffnungslosigkeit, stumpfsinniger Arbeit und noch stumpfsinnigerer Ideologie gezeichnetes Gesicht. Eine zerzauste und gebeutelte Gestalt wie aus einer Geschichte von Wolfgang Borchert. Aber diese seltsamen Augen. Schräg, erloschen, hoffnungslos aber doch von einem eigentümlichen Leben erfüllt. Und diese Augen hatten viele, denn ich habe sie im Osten in den 90er Jahren oft gesehen.

In meinen Augen ist in den Gesichtern und in diesen Augen der Niedergang der DDR eingekerbt. Der Verfall, die politische, soziale und gesellschaftliche Krise, die sich in den 1980ern zuspitzte. Aber der Zusammenbruch war mit dem Mauerfall noch nicht beendet. Die DDR lebte in den Menschen weiter, in ihrem Verhalten und ihren Gesichtern.

Diese Szenerie im Berlin der 90er hatte eine sehr spezielle Atmosphäre, die mit der heutigen nicht zu vergleichen ist. Eine Stimmung der Bewegung und des Übergangs, das noch ziemlich lange anhielt. Viele Paare auf Fahrrädern, die durch die mit Altbauruinen gesäumten Straßen fuhren, viele Leute mit riesigen Rucksäcken auf dem Weg von irgendwoher nach irgendwohin mit einem Zwischenstop in Berlin und eben diese Mädchen mit den seltsamen Augen. Ihre Augen waren in den 90er Jahren nicht mehr mit Hoffnungslosigkeit angefüllt, sonder waren neugierig und lebendig. Dabei waren sie oft hart und gefühllos.

Gastronomie Prenzl.Berg ab 1998

Ich sehe den Übergang hier, die Reste der fleckigen Hausruinen, den Lebenshunger, die noch nicht genormten Lebenswelten. Wo ist jetzt dieser Billy Corgan Typ mit der Glatze?

Jetzt kann ich diese Epoche selbst nur noch aus der zeitlichen Entfernung betrachten, und solche kleinen Mosaiksteinchen meiner Jugend einsammeln. Mit der Jahrtausendwende begann der Prenzlauer Berg, Friedrichshain, Mitte, eigentlich ganz Berlin begannen „hip“ und „sexy“ zu werden. In die Sauf- und Absturzkneipen sind  Edelitaliener und Yogastudios eingezogen. Es ist nichts mehr übrig vom Schmutz und vom Verkommenen und Gebrochenen. Das Jahr 2000 hat die 10 Jahre währende postmortale Agonie beendet, und die DDR hat aufgehört in den Menschen und Gesichtern zu existieren, diese seltsamen Augen, die diesen eigenartigen Blick erzeugten, sind jetzt verschwunden. Die DDR ist auch aus den Physiognomien der Menschen verschwunden. Sie lebt jetzt nur noch heimlich und verborgen in den Gehirnen sterbender.

Aber wo sind jetzt diese Mädchen mit den seltsamen, schrägen Augen?

Ich weiß es nicht, ich weiß nur: Ich bin noch da, und mein Herz schlägt und die Flamme in meinen Herzen lodert noch.

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