Im Auge der Drohne

Der Zug hielt in Bazancourt, einem Städtchen der Champagne. Wir stiegen aus. Mit ungläubiger Ehrfurcht lauschten wir den langsamen Takten des Walzwerks der Front, einer Melodie, die uns in langen Jahren Gewohnheit werden sollte. Ganz weit zerfloß der weiße Ball eines Schrapnells im grauen Dezemberhimmel. Der Atem des Kampfes wehte herüber und ließ uns seltsam erschauern. Ahnten wir, daß fast alle verschlungen werden sollten an Tagen, an denen das dunkle Murren dahinten aufbrandete zu unaufhörlich rollendem Donner – der eine früher, der andere später?

Ernst Jünger, In Stahlgewittern

In wenigen Wochen jährt sich der Beginn des Russisch-Ukrainische Krieges zum zweiten Mal.

Für die Menschen im sicheren Westen ist der Ukrainekrieg etwas Abstraktes: Soldaten sterben, Material wird zerstört. Es sind Zahlen, Daten, Fakten.

Wie wichtig ist dagegen das Trennungsdrama von Oliver und Amira Pocher, das seit Wochen die von der BILD-Zeitung gesteuerte deutsche Ochlokratie in Atem hält, nachdem das Trennungsdrama von Peter Klein und Iris Katzenberger ein wenig an Interesse eingebüßt hat. Abgelöst wird es sicher durch die nächste, tagelange Artikelserie über irgendeinen völlig verdummten Fußballspieler, der seinen neuen Lamborghini Huracán geschrottet hat.

Was von der deutschen Bevölkerung mit allgemeinem Desinteresse zur Kenntnis genommen wird, ist jedenfalls für mich ein Vorbote von drohendem Unheil. Natürlich ist es ein Charakteristikum der menschlichen Natur, sich möglichst schnell an neue Situationen anzupassen und das, was noch kurz zuvor unnormal war, als völlig gewöhnlich zu akzeptieren. Und dennoch. Ein konventionell geführter Krieg mit zigtausenden Toten auf europäischem Gebiet ist nicht normal.

Nie hätte ich es ernst genommen, wenn man mir vor 25 Jahren vorausgesagt hätte, dass in Europa ein „full-scale“-Krieg geführt wird und dass Russland (?!?) tatsächlich ein europäisches (im geographischen Sinn) Land angegriffen hat.

Als Kinder der 90er waren wir naiverweise davon überzeugt, die Zeit der Kriege und Konflikt sei überwunden.

Doch das war ein Trugschluss. Diese Zeiten sind vorbei. Lange vorbei.

Wie im August 1914 haben sich die Organisatoren der „militärischen Spezialoperation“ völlig verschätzt. Man kennt das berühmte alte Foto mit den Landsern des kaiserlichen Deutschen Heers, die lachend aus dem mit den Kreidesprüchen wie „Auf in den Kampf mir juckt die Säbelspitze“, „Ausflug nach Paris“, „Auf Wiedersehen auf dem Boulevard“ beschrifteten Eisenbahnwaggon winken.

Was eine fünftägige Landpartie mit anschließender Blumenparade auf dem Chreschtschatyk werden sollte, hat sich zu einem barbarischen Gemetzel ohne Aussicht auf ein Ende des Schlachtens ausgewachsen.

Ein anschauliches Beispiel für das, was Helmut von Moltke mit seinem berühmten Zitat gemeint hat: „Kein Operationsplan reicht mit einiger Sicherheit über das erste Zusammentreffen mit der feindlichen Hauptmacht hinaus.“

Es scheint, als ob sich die Charakteristika der beiden Weltkriege kombiniert hätten: der Stellungs- und Grabenkrieg und die granattrichterübersäten Landschaften aus dem Ersten und die Panzerschlachten und Raketenangriffe aus dem Zweiten.

Ein neues Element ist heute hinzugekommen, das die hergebrachte Kriegsführung völlig auf den Kopf stellt: Drohnen.

Einen Vorgeschmack darauf haben die Kämpfe in Bergkarabach geboten, als klar wurde, in welcher Rekordzeit die aserbaidschanischen Streitkräfte mit ihren aus der Türkei gelieferten Drohnen die armenischen Verbände ausradiert haben, ohne dass diese auch nur das Geringste entgegensetzen konnten.

Bei Drohnen denkt man gemeinhin an die fliegenden Kawentsmänner aus den USA, die martialische Namen wie Predator oder Reaper tragen. Man stellt sich vor, wie sie von einem übergewichtigen Soldaten irgendwo auf einer Luftwaffenbasis in Iowa gesteuert werden, in der einen Hand einen angebissenen Burger in der anderen den Joystick, während er auf Bildschirmen die Fahrt eines Toyota-Pickup mit irgendeinem Al-Qaida-Emir irgendwo im syrisch-irakischen Niemandsland verfolgt, und im geeigneten Augenblick eine Hellfire-Rakete abfeuert, die den bärtigen Kackvogel zu seinen 72 Jungfrauen befördert.

Aber um solche millionenteuren technischen Kunstwerke im Gegenwert einer Luxusyacht geht es hier nicht, sondern um kleine, handelsübliche Quadrocopter von DJI oder Parrot, die man für ein paar hundert Euro bei Amazon oder Conrad bestellen kann.

Eine kleine, neuartige Waffe, die, so unscheinbar sie auch sein mag, eine totale Disruption auf dem Schlachtfeld herbeigeführt hat.

Es gibt nun nicht mehr nur die „blinden“ Artillerieschläge, bei denen man die Flugbahnen der Granaten irgendwie vorausberechnen oder -ahnen und sich in Deckung werfen kann.

Jetzt wird die Sprengladung direkt über den Köpfen der Kampfbeteiligten abgeworfen. Es gibt kein Entkommen mehr.

Wenn man zum Ukrainekrieg recherchiert, dann kommt man nicht umhin, gewisse Twitter- und Telegram-Kanäle oder Gore-Seiten zu abonnieren. Sie tragen Namen wie, „Death District“, „Fertilizer Finder“ oder „Gruz-200“ („Ladung 200“), seit Sowjetzeiten ein Militärcode für einen Leichentransport und noch andere ausgefallene Namen, auf denen es jeden Tag dutzende Videos mit „Combat footage“ gibt.

Das so beruhigend und sedierende Gefühl des „Abstrakten“ der Info-Häppchen aus dem heute-journal, das man so einfach von sich wegschieben kann, weicht dann sehr schnell Konkreterem.

Die Ukrainer haben ihre waffenmäßige Unterlegenheit zwangsläufig sehr schnell durch Erfindungsgabe ausgeglichen und gelernt, die kleinen Drohnen nicht nur zu Aufklärungszwecken, sondern auch als Waffen zu nutzen.

Sie haben ein bemerkenswertes Geschick entwickelt, Handgranaten mit bunten Stabilisierungsflügeln aus dem 3D-Drucker, die sie mit einer Auslösevorrichtung an kleinen Drohnen befestigen, selbst aus relativ großer Höhe zielsicher in das Turmluk eines Panzers fallen zu lassen und damit Kriegsgerät im Wert von Millionen mit einem kleinen Fluggerät für ein paar hundert Euro zu zerstören.

Neuerdings befestigen sie auch Panzerfaustgranaten an größeren Drohnen. Auf dem Übertragungsvideo sieht man vorne einen verbogenen Draht, wie aus einem Kleiderbügel zurechtgebogen, von dem ich annehme, dass es sich hierbei um eine Aufschlagzündervorrichtung handelt.

Die Drohne fliegt hinter einem Panzer oder einem LKW hinterher, manchmal sieht man noch die im Entsetzen verzerrten Gesichter der Soldaten, kurz bevor das Rauschen auf dem Bildschirm einsetzt.

Was an der Front vorgeht, war noch in jüngster Zeit ein großes Rätsel. Die Drohnenkameras, die GoPros und die Mobiltelefone lüften die Geheimnisse der Front. Man sieht viel Bizarres in den Videos. Schreckliches. Grauenerregendes. Dinge, die jede Vorstellung von Krieg als etwas Heroischem und Abenteuerlichen austreiben:

Soldaten, die sich in einer kümmerlichen Grube verkrochen haben und zwei Granaten von der Drohne kriegen und wie Stoffpuppen durch die Luft gewirbelt werden.

Einer versucht seine Gedärme im Bauch zu halten, die aus einer großen Wunde hervorquellen. Man sieht die schnappende Atmung der letzten Atemzüge.

Andere werden beim Scheißen getroffen. Einer sogar beim Wichsen.

Ein anderer, der sich hinter einem zerschossenen Panzer versteckt hatte, wird von einer Drohne gejagt. Wie in einem alptraumhaften Slapstickfilm, klettert er auf den Panzer, springt herunter und rennt um den Panzer herum, um vor ihr davonzulaufen wird aber von der Drohne – die von einem bemerkenswert geschickten Drohnenpiloten gelenkt wird – erfasst und durch eine Explosion getötet.

Welchen Horror muss dieser Mann in seinen letzten Augenblicken durchlebt haben?

Wieder ein anderer hat sich ein Loch in die Grabenwand gegraben und die Leichen seiner Kameraden als Schutz davorgestapelt. Was für ein grauenerregender Anblick, welch alptraumhafte Situation, vom Leichengestank gar nicht erst zu reden.

Das unerbittliche , gleichgültigen Kameraauge der Drohne filmt, wie er sich, vom ihn allumgebenden Grauen besiegt, den Lauf seiner Kalaschnikow in den Mund steckt und abdrückt.

Im vergangenen Jahr sah man auch Verwegene, die der Kamera den Mittelfinger zeigten, bevor die Granaten herabsegelten.

Heute sieht man die Frontschweine, denen alles Menschliche abhandengekommen sind, dem Okular und den Drohnenpiloten an ihrem Bildschirm ein flehendes Gesicht und gefaltete Hände entgegenhalten, bevor sie sterben.

Zu den Todesbildern läuft ukrainische Popmusik, melancholischer Trance, House, Hardbass, Phonk oder manchmal sogar Jazz, was die Bilder noch surrealer erscheinen lässt. Es gibt auch ganze Kompilationen, die gerne mit Death-Metal unterlegt sind.

Oder wie hier mit einer gechillten Ambient-Mukke.  

Es hat für mich etwas von einem depersonalisierenden Drogentrip, einem Weltkrieg ruhig bei seiner Entfaltung zuzusehen und diese ästhetisierende Snuff-Videos in HD zu betrachten.

ACHTUNG GEWALTDARSTELLUNG UND TOD

Sehr bizarr. Sehr, sehr bizarr.

Es ist echt brutal anzusehen, aber das ist der Krieg und Invasoren müssen sterben.

So lautet das Gesetz seit jeher. Und ist auch seit fast 80 Jahren in Art. 51 UN-Charta kodifiziert.

Irgendjemand hat diesen armen Irren erzählt, sie würden für „Mat Rossija“ kämpfen oder das Neonazi-Regime in Kyiv vernichten, in der Realität kämpfen sie für die imperialistischen Großmachtphantasien eines hasszerfressenen Diktators und krepieren einsam und allein, fern von ihren Lieben mit abgerissenen Gliedmaßen in Schnee und Kälte.

Niemand kann die unermessliche Einsamkeit desjenigen nachempfinden, der in einem zerschossenen Wald steht und das Surren der Drohne über sich hört, einsam und ganz allein. Ohne Möglichkeit, ihr zu entkommen. Und darauf zu warten, dass die Granaten auf ihn herabfallen und seine Gliedmaßen zerfetzen und seinen Körper mit Schrapnellen zu durchbohren.

Von dem kalten Kameraauge beobachtet, mutterseelenallein.

Doch es nicht wahr, dass er einsam und unbeobachtet stirbt. Denn die Drohnenvideos werden über Twitter-Feeds und Gore-Seiten verbreitet.

Das elende Sterben wird von unzähligen Usern in aller Welt, von Oslo bis Rio de Janeiro verfolgt, die zwischen zwei Pornovideos an einem mit vollgewichsten Taschentüchern bedeckten Schreibtisch ein paar Kriegsvideos reinziehen,  die sie mit zynischen und misanthropischen Kommentaren garnieren à la: hier ist jemand, der definitiv einen schlechteren Tag hast als du. Oder: er kam in die Ukraine und verlor den Kopf. Oder: Oh, das hat jetzt aber bestimmt ein bisschen geziept.

Diese Videos lösen zwei Arten von gegensätzlichen Impulsen aus.

Natürlich ist der erste Reflex zu denken: „Tja, Jewgeni, selbst schuld. Du hättest niemals aus deinem stinkenden Plattenbau in Nowosibirsk in die Ukraine kommen dürfen, dann wärst du nicht in dieser Lage.

Und doch: wenn man nur einen winzigen Funken Menschlichkeit hat, dann fühlt man natürlich -trotz allem -, als Mann, als Mensch mit diesem armen Schwein.

Was für ein mieser, räudiger Tod. Unter welchen Bedingungen das arme Schwein stirbt. In der Kälte, ganz allein, fern von zu Hause. Das wünscht man keinem.

Der Sinn dieser kleinen Abhandlung ist der folgende:

Ich bin mir nicht wirklich sicher, ob die Menschen hier in diesem Land die Dringlichkeit erkannt haben.

Sollte, nur mal angenommen, Trump erneut zum US-Präsidenten gewählt werden, steht die NATO in ihrer derzeitigen Form auf der Kippe. Das ist zumindest Stand jetzt keineswegs unwahrscheinlich und ich kann nur davor warnen irgendwelche unbrauchbaren Prognosen hierzu vom umstrittenen öffentlich-rechtlichen Rundfunk-Komplex Glauben zu schenken, der aus ideologischen Gründen irgendwelche demokratischen Hinterbänkler hochjazzt und bisher bei wichtigen Ereignissen immer danebengelegen hat.

Wenn das nämlich eintritt, dann werden wir kaum wissen, welcher der üblichen Schweinepriester Putin, Xi Jinping oder Erdogan unsere absolute Wehr- und Hilflosigkeit (und Kollaborationsbereitschaft) als erster ausnutzen wird. Oder irgendein anderer Bastard, den wir jetzt noch gar nicht auf dem Zettel haben.

Wenn ich mir so die Gesichter auf der Straße ansehen, dann sehe ich vor allem eine Masse, deren große Mehrheit nichts anderes tun wird, als sich so schnell wie möglich vor dem neuen Tyrannen auf den Boden zu werfen und seine Stiefel zu lecken, „um ihre Ruhe zu haben“.

Menschen, die bereitwillig Ausgangssperren respektiert und vor dem Restaurantbesuch brav ihren Impfnachweis vorgezeigt haben, braucht man überhaupt nicht erst zu konditionieren. Die geborenen Sklaven ohne jeden Freiheitssinn oder Selbsterhaltungstrieb.

Alles, wozu noch die erschlaffte Vitalität noch in der Lage ist, sind ein paar passiv-aggressive Kommentare unter einem Tweet.

Vielleicht also auch bald in unseren Gefilden. Wer weiß das schon….

Zum Glück fließt das Blut meiner Landsleute nicht umsonst in meinen Adern.

Sic semper tyrannis!

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