Geister

Nachts sind die Geister unter sich.

Zumindest stelle ich mir das vor, wenn ich, wie üblich, abends als letzter die Kanzlei verlasse und den Schlüssel in der Tür umdrehe.

Es ist ein schmuckloses Gebäude, das nicht besonders repräsentativ ist. Ein typisches Geschäftshaus, das man in den 1960er Jahren auf einem Trümmergrundstück errichtet hat. Schnell, billig und funktional. Es hat einen alten, quietschenden Aufzug und beige-blassgrün gestrichene Treppenhauswände, wie es in den 60er/70er Jahren üblich war.

Lange Zeit gehörte es der Frankfurter Sparkasse, die im Erdgeschoss eine Filiale betrieb und die Büros im Haus vermietete. Das Übliche. Anwälte, Steuerberater, Zahnarzt. Eine Weile lang auch ein obskurer „Thaimassage-Salon“. Unter dem Dachboden drei kleine Mansardenwohnungen.

Wo früher die Sparkasse drin war, ist jetzt eine Spielothek mit Billardsalon, in dem es nach Raumspray wie im Puff riecht. Im Sommer bei geöffnetem Fenster kann man leise die Billardkugeln klicken hören.

Wenn Ruhe einkehrt, versammeln sich die Gespenster in den leeren Räumen des Bürogebäudes.

Wäre es nicht witzig, wenn sie alle nachts aufeinandertreffen würden?

Die ehemaligen Bewohner des Hauses, das an dieser Ecke der Stadt mit Sicherheit hochherrschaftlich war. Ein verschnörkelter Gründerzeitbau mit Dienstbotenaufgang.

Die vornehmen Großbürger, die Hausangestellten, die unter dem Dach in Dienstbotenzimmern lebten.

Die bei den Bombenangriffen im Luftschutzkeller Umgekommenen.

Die Buchhalter aus den Büros mit ihren Nyltesthemden, ihren Koteletten und speckigen Langhaarfrisuren und Schnurrbärten, wie sie Wilhelm Genazino in seinen Angestelltenromanen beschrieben hat. Die sich hier vor Jahrzehnten gelangweilt, geraucht, gelacht, aus dem Fenster auf die Straße geschaut haben. Auf das damalige TAT, das Theater am Turm, Fassbinders Wirkungsstätte in den 70ern. Vielleicht im „Dippegucker“ am Volksbildungsheim ein Bier getrunken haben.

Vielleicht auch die alten Halunken, die hier früher herumlungerten, an genau der Stelle, an der sich zu früheren Zeiten die Stadtbefestigungen von Frankfurt im Vauban-Stil befanden und die zu Beginn des 19. Jahrhunderts geschleift wurden.

Mir gefällt diese Vorstellung, dass nachts die Meschen, die hier einmal gelebt und gearbeitet haben, nachts zusammen kommen, um sich zu unterhalten, ein Gläschen zu trinken, sich zu zanken und über die dummen Menschen zu lästern, die ihr kostbares, einmaliges, nicht wiederholbares Leben damit vergeuden, auf einen Computerbildschirm zu starren, irrelevante E-Mails und Briefe zu schreiben, unnütze Telefongespräche zu führen, statt den herrlichen Planeten zu bereisen und Bekanntschaft mit anderen Menschen zu machen.

Sind sie an diesen Ort gebunden? Sind sie manchmal einander überdrüssig, diejenigen, die sich seit Jahrzehnten mit immer denselben Gespenstern treffen? Oder kommen manchmal Besucher aus anderen Welten herbei?

Als ich dieses Büro gemietet habe, hatte ich mich gerade selbständig gemacht. Ich hatte das Gefühl, zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wieder frei durchatmen zu können. Niemandem gehorchen müssen. Sie mit niemandem abstimmen müssen, nicht mit Kollegen zusammen sein müssen, die man nicht leiden kann.

Und dennoch hatte ich damals als Neuling eine große Angst vor Beratungs- oder Prozessfehlern, die mich in die Haftung treiben und ruinieren könnten. Das ist der Nachteil an der Selbständigkeit: es gibt keinen Chef, der für einen die Rübe hinhält, wenn man was verkackt hat.

Als erwachsener Mann und Familienvater erfand ich mir einen imaginären Freund, dem ich meine Gedanken mitteilte, wenn ich das Gefühl hatte, etwas richtig verbockt zu haben.

Ich nannte ihn Felix.

Er war ein großgewachsener, schlanker, braungebrannter Surfertyp mit hellbraunen Haaren und großen weißen Zähnen und einem Lächeln wie auf der Kinderriegelwerbung. Er trug ein grünes Polohemd und eine Holzperlenkette.

Er saß am Fenster in meinem Büro in einem Sessel und war vollkommen entspannt. Er sagte immer: „Take it easy, Junge. Gar nichts wird passieren. Mach dich locker!“. Und ich war beruhigt, denn es stimmte.

Keine Ahnung, was das über mein Unterbewusstsein aussagt, dass ich diese Figur aus meiner Phantasie kreiert habe. Ich schreibe in der Vergangenheit, weil ich ihn schon lange nicht mehr heraufbeschworen habe.

Trifft Felix sich auch nachts mit den anderen Gespenstern?

Ich habe auch noch andere Hilfsgeister beschworen, wenn ich Mut oder Orientierung brauchte.

Da ich ein humanistisches Gymnasium besucht habe, bin ich sehr stark von griechischer Mythologie beeinflusst. Auch wenn es vielleicht das einzig Positive ist, das mir diese Schule vermittelt hat.

Manche Dinge aus dieser Zeit sind mir so präsent, dass sie erst ein paar Wochen zurückzuliegen scheinen. In der Sexta oder Quinta wurden wir mit der wirklich anspruchsvollen Lektüre der dreibändigen Ausgabe der „Sagen des klassischen Altertums“ beglückt. Noch heute gellt mir das mit rollendem R ausgesprochene „Klytämnestra“ unserer rumäniendeutschen und osteuropäisch strengen Lehrerin Frau K. in den Ohren.

Nicht mal eine Sekunde kann man sich vorstellen, dass meine Töchter auf dem Gymnasium mit solchen Werken konfrontiert werden. Die Gymnasien sind derzeit dabei, die Basics beizubringen und die Defizite auszugleichen, die durch die Schulschließungen während der Coronazeit entstanden sind. Bisher ist noch niemand für dieses Verbrechen zur Rechenschaft gezogen worden. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ich mag alle Olympier auf ihre Weise, aber auch die anderen Helden. Odysseus, der den Beinamen „der Listenreiche“ trägt, ist mir der Liebste. Er ist mit der Gabe der Schläue gesegnet, auch des Humors, aber er ist auch hochmütig und schadenfroh, was ihm den Zorn der Götter einbringt.

Ich komme mir manchmal auch vor wie Odysseus auf der Rückreise von Troja. Gebeutelt von den Wellen in einem Meer aus E-Mails, Rückruflisten und Akten, bei denen ich manchmal nicht weiß, wo ich anfangen und wie ich das Tagespensum bewältigen soll.

Odysseus‘ Beschützerin ist Pallas Athene, die „Göttin mit den strahlenden Augen“. Göttin der Weisheit und der Strategie. Sie wendet das Kriegsglück vor Troja und schützt Odysseus vor dem Zorn ihres Onkels Poseidon, dessen Sohn Polyphem Odysseus geblendet und nach geglückter Flucht schadenfroh verspottet und ausgelacht hatte.

In Zeiten der Verzagtheit spricht sie Odysseus Mut zu, den auf seinen Irrfahrten beizeiten der Mut verlässt. So als er sich nicht zum Hof des Alkinoos, Herrscher der Phäaken hineintraut. So spricht sie zu ihm:

Siehe da redete Zeus‘ blauäugige Tochter Athene:
Fremder Vater, hier ist das Haus, wohin du verlangtest,
Dass ich dich führte. Du wirst die göttergesegneten Fürsten

Hier am festlichen Schmause versammelt finden; doch gehe
Dreist hinein, und fürchte dich nicht! Dem Kühnen gelinget
Jedes Beginnen am besten, und käm‘ er auch aus der Fremde.

Seit Playmobil ein Set mit allen griechischen Göttern herausgebracht hat, konnte ich nicht widerstehen, mir „meine“ Athene zu kaufen, deren Blick ich manchmal suche, wenn mich alles anwidert. Sie schaut immer gleichmütig mit ihrem eingefrorenen Playmobilgrinsen.

In Edgar Allan Poes bekanntestem Gedicht lässt sich das titelgebende schwarze Federvieh direkt auf der Pallasbüste über der Tür nieder:

And the Raven, never flitting, still is sitting, still is sitting

On the pallid bust of Pallas just above my chamber door;

And his eyes have all the seeming of a demon’s that is dreaming

Für mich hat es nicht zu einer Büste gereicht, sondern nur zu einer Playmobilfigur.

Alexander der Große soll mir Stärke und Willenskraft einflößen.

Das Gespenst (das ich meinen Kindern geklaut habe) soll mir meine unabwendbare Endlichkeit vor Augen führen.

Ebenso wie der Totenkopf, den mein Freund Hans Reuschl gemalt hat, mich an die tickende, ablaufende Zeit gemahnt. Mein persönliches „Memento mori“.

An der Wand hängt William S. Burroughs und ermahnt mich mit strengem Blick nicht so viel unnützen Tand zu produzieren, sondern zu lesen, zu schreiben, zu reisen und Zeit mit meiner Familie zu verbringen.

Da mein Büro mehr und mehr einem Kuriositätenkabinett gleicht, bin ich dazu übergegangen, Mandantengespräche im Meetingraum zu führen.

Ich kann den Gedanken in Schach halten, dass irgendwann alles ein Ende haben wird. Statistisch gesehen habe ich die Hälfte meiner Lebenszeit hinter mir gelassen. Das Universum wird eines Tages ohne mich weiter existieren.

Werde ich irgendwann auch hier mit den anderen Gespenstern nachts in meinem alten Büro sitzen?

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2 Antworten zu Geister

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