Das fünfte Opfer des „Schwarzen Mannes“?

Genau zehn Jahre ist es her, dass der zehnjährige Jonathan Coulom aus einem Ferienlager an der französischen Atlantikküste verschwand und Wochen später ermordet aufgefunden wurde. Fast genau sieben Jahre später wurde der pädophile Serienmörder Martin Ney verhaftet, der als „Schwarzer Mann“ in Norddeutschland sein Unwesen trieb und bis heute der Tat verdächtigt wird.

Anlass genug, die Tat und ihre Umstände zu beleuchten und zu studieren.

jonathan_coulom

Jonathan Coulom stammte aus dem kleinen Städtchen Orval. Er war ein kleiner, schmächtiger Junge, der noch nicht oft von zu Hause weg war. Das Meer hatte er noch nie zuvor gesehen. Im April 2004 nimmt er an einer Jugendfreizeit in Saint-Brévins-les-Pins an der Atlantikküste teil. Die Jugendeinrichtung „PEP 18“, in der die Kinder untergebracht sind, ist zum damaligen Zeitpunkt zwar nicht eigentlich heruntergekommen, aber auch nicht in einem besonders guten Zustand. Türen und Fenster der Räume lassen sich teilweise nicht schließen, der Zaun, der das Gelände von der vielbefahrenen Landstraße „Route Bleue“ abgrenzt, ist an einer Stelle niedergedrückt.

In der Nacht vom 06. auf den 07. April 2004 verschwindet Jonathan aus seinem Zimmer, das er mit fünf anderen gleichaltrigen Jungen teilt, und ist fortan unauffindbar. Den gesamten Tag und auch an den darauffolgenden Tagen suchen Betreuer, Kinder, Freiwillige, seine Eltern und Gendarmen nach Jonathan, doch er bleibt verschwunden. Die beklommenen Schulkameraden fahren zurück nach Orval. Die Tage vergehen. Jonathan ist wie vom Erdboden verschluckt.

Etwa sechs Wochen später wird die Gendarmerie zu einem abgelegenen Herrenhaus im dreißig Kilometer entfernten Guérande gerufen. Die Bewohner des Manoir de la Porte Calon hatten seit zwei Wochen ein merkwürdiges Objekt im Teich hinter dem Gutshaus treiben sehen, das sie zunächst für ein totes Tier hielten.

Nachdem die Gendarmen das Objekt gelandet haben, bewahrheiten sich für Jonathans Eltern die schlimmsten Befürchtungen. Der Körper, der im Teich treibt, ist Jonathans Leichnam. Der Körper des Jungen ist mit einem Nylonstrick in fötaler Haltung gefesselt. Die Fesselung ist komplex. Eine Schlinge läuft um den Hals und verbindet Hände und Füße. Der Leichnam ist mit einem 18 kg schweren Block beschwert.

Nach der langen Liegezeit im Wasser sind DNA-Spuren nicht mehr nachweisbar. Das Obduktionsergebnis kann keine Feststellung darüber treffen, ob Jonathan vor seinem Tod sexuell missbraucht wurde. Auch die Todesursache bleibt unklar. Es kann festgestellt werden, dass Jonathan nicht erwürgt wurde und auch nicht ertrunken ist, denn es kann kein Wasser in seinen Lungen nachgewiesen werden. Im Ausschlussverfahren kommt die Rechtsmedizin zu dem Ergebnis, dass Jonathan erstickt wurde.

Nachdem die Ermordung des kleinen Jonathan und die ungewöhnlichen Begleitumstände des Verschwindens aus dem an sich geschützten Bereich eines Schullandheims über das Informationssystem der europäische Polizeibehörden bekannt wird, macht es bei den deutschen Ermittlern „klick“. Seit Jahren schon jagen sie einen dunkel gekleideten Maskenmann, der nachts in Schullandheime und Ferienlager eindringt und männliche Kinder missbraucht, sexuell belästigt und manchmal auch tötet.

Die Ermittler schreiben dem unbekannten Täter eine Mordserie mit bereits vier Opfern zu. Der mysteriöse Täter mordet immer nur alle drei Jahre: Im Jahr 1992 stirbt der 13jährige Stefan Jahr, der aus einem Internat in Scheeßel entführt wurde. 1995 wird der 13jährige Dennis Rostel aus dem Zeltlager Selker Noor entführt und zwei Wochen später ermordet und in einer Düne in Dänemark vergraben von Spaziergängern gefunden. 1998 verschwindet nachts ein holländischer Junge, der 11jährige Nicky Verstappen, aus einem Zeltlager in Brunssum und wird am nächsten Tag bei einer Tannenschonung tot aufgefunden. Im Jahr 2001 verschafft sich der Täter Zutritt zu einem Landschulheim in Wulsbüttel, entführt den 9jährigen Dennis Klein und tötet ihn.

Das Verschwinden von Jonathan im Jahr 2004 elektrisiert die Fahnder in Deutschland. Die große Frage ist nur, ob die jüngste Tat, das Werk eines einheimischen Täters ist oder sie Teil der Serie des schwarzen Maskenmannes aus Deutschland ist. Den Fahndern fällt als erstes auf, dass die bisher bekannten Tatorte auf einer annähernd diagonalen Linie liegen.

Bremen Saint-Brévins J. Coulom

Eine weitere Frage, die sich die Ermittler stellen ist, ob Jonathan zufällig oder gezielt als Opfer ausgewählt wurde. Aus dem Vorgehen des Täters folgern die Beamten, dass es sich bei ihm um einen planenden und berechnenden Täter handeln muss. Ein berechnender Täter wählt sowohl das Opfer als auch dessen Umfeld sehr sorgfältig aus. In Saint-Brévin-les-Pins muss sich der Täter mit dem Gelände und dem Gebäude vertraut gemacht haben. Er muss gewusst haben, dass der Zaun, der das Jugendherbergsgelände zur Straße hin abgrenzt, niedergedrückt war. Muss gewusst haben, dass er im verwilderten Unterholz unauffällig und ungestört die Kinder beobachten kann. Er muss genau den Nutzen der Landstraße erkannt haben, die direkt an das Grundstück grenzt und welchen Vorteil das für ein Eintreffen und eine Flucht mit dem Auto bedeutet. Er musste die Anordnung der Räume in der Herberge kennen, musste wissen, dass die Tür von Jonathans Zimmer keine Klinke hatte und daher einfach aufgedrückt werden konnte.

Viel spricht für die beunruhigende Vermutung, dass Jonathans Mörder lange im Verborgenen die Kinder beobachtet hat und mit zielsicherem Instinkt ein verletzliches Kind ausgewählt hat, das ihm keinen Widerstand entgegensetzen würde.

Jonathan war ein schmächtiges, zurückhaltendes, schüchternes Kind.

Besondere Aufmerksamkeit widmen die Ermittler dem Auffindeort der Leiche, dem Manoir de la Porte Calon.

Saint Brévins Guérandes J. CoulomDie Ermittler rätseln, ob es einen bestimmten Grund für den Täter gab, die Leiche ausgerechnet dort abzulegen. Vom Standpunkt eines rationalen, planenden Täters wäre es viel einfacher gewesen, den Leichnam ins Meer zu werfen oder ihn im nahen Fluss Loire verschwinden zu lassen, der dort kurz vor der Mündung ins Meer eine starke Strömung hat. Stattdessen hat der Täter mit dem noch lebenden oder toten Jonathan eine relativ lange Strecke von 30 km zurückgelegt und dabei auch noch den Pont de Saint-Nazaire überquert (wobei nicht gesagt ist, dass der Täter diese Strecke in direktem Weg gefahren ist). Aus Sicht der Ermittler ein äußerst unlogisches Verhalten, das die Gefahr einer Entdeckung außerordentlich erhöht hat. Oder war der Täter möglicherweise nicht ortskundig und kannte sich in der Gegend gar nicht aus? War der Täter ein Fremder? Vielleicht der „Schwarze Mann“ aus Deutschland?

Die Ermittler sind sich anderseits sicher, dass der Täter das Gutshaus, wo er die Leiche im Teich ablegte, sehr gut gekannt haben muss. Diesen Ort konnte er nicht aufs Geratewohl auswählen.

Manoir J. CoulomDer Teich war im Jahr 2004 von außen nicht zu sehen. Die Straße hinter dem Teich existierte im Jahr 2004 noch nicht. Eine Mauer und eine dichte Reihe von Bäumen entzogen ihn den Blicken. Wer das Grundstück mit dem Gutshaus nicht kannte, wusste auch nichts von der Existenz des Teichs hinter der Mauer.

Ein weiteres wichtiges Detail: Der Täter hat die Kinderleiche nicht durch das Eingangstor getragen, sondern mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zum Betreten des Grundstücks eine kleine Bresche in der hinteren Mauer genutzt, die nur mit einer auf Kniehöhe baumelnden, rostigen Kette gesichert war. Diese Bresche war nur sehr wenigen Menschen bekannt.

Diese Indizien deuten eher darauf hin, dass der Täter eher ein Einheimischer ist. Andererseits haben die Eigentümer des Herrenhauses einzelne Wohnungen an Touristen als Ferienappartements vermietet. Der Gedanke, dass der Täter von außerhalb kam, ist daher nicht vollkommen abwegig.

Nach Ansicht der Ermittler hat sich die Tat folgendermaßen abgespielt: Der Täter ist, nachdem er die Kinder über einen längeren Zeitraum beobachtet hat, in der Nacht vom 06. auf den 07. April 2004 in die Jugendherberge eingedrungen. Er ist zielgerichtet in Jonathans Zimmer gegangen (das zweite von oben, schräg gegenüber der Eingangstür)

PEP 18Er hat den schlaftrunkenen oder angststarren Jonathan genommen und hat mit ihm die 50 Meter durch die Bäume und das Unterholz zur Landstraße zurückgelegt, wo er seinen Wagen geparkt hatte. Entweder hat er Jonathan noch im Wagen getötet oder ist mit ihm an einen anderen Ort gefahren. Jedenfalls sind sich die Ermittler sicher, dass Jonathan noch in derselben Nacht gestorben ist. Nach dem Mord hat der Täter die Leiche mit dem Nylonstrick gefesselt, mit dem Block beschwert und in dem Teich hinter dem Gutshaus in Guérande versenkt.

Martin Ney wurde am 27. Februar 2012 wegen Mordes in drei Fällen und mehreren Missbrauchstaten zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt, die besondere Schwere der Schuld wurde festgestellt. Die ebenfalls verhängte Sicherungsverwahrung wurde vom BGH aufgehoben. Während der Hauptverhandlung hat Martin Ney von seinen Schweigerecht Gebrauch gemacht. Seine Täterschaft an den Morden an Nicky Verstappen und Jonathan Coulom hat er von Beginn an geleugnet. Die Ermittler sind jedoch überzeugt, dass noch mehr Tötungsdelikte auf das Konto von Martin Ney gehen.

Der Mord an Jonathan Coulom lässt deutliche Parallelen zur charakteristischen Tatbegehungsweise Martin Neys erkennen.

Es frappiert zunächst der Drei-Jahres-Rhythmus der Serie: 1992: Stefan Jahr, 1995: Dennis Rostel, 1998: Nicky Verstappen, 2001: Dennis Klein, 2004: Jonathan Coulom.

Dann fallen die gleichartigen Örtlichkeiten und Einrichtungen auf: Jugendherbergen, Schullandheime, Zeltlager, Internate. Schließlich das Alter und das Geschlecht der Opfer.

Atypisch ist bei Martin Ney, dass er bei seinen Taten die ihm vertraute Umgebung verließ und ein großes Risiko einging, als er mit dem noch lebenden Dennis Rostel die dänische Grenze überquerte, wo er ihn schließlich ermordete. Martin Ney ging bei der Tatbegehung äußerst dreist vor und ging oft ein hohes Entdeckungsrisiko ein. Im Ermittlungsverfahren wurde bekannt, dass er nicht nur Jugendfreizeiten begleitete, sondern auch viele Auslandsreisen unternommen hat. Ein Mann, der mit seinem Opfer in ein fremdes Land fährt – warum soll er nicht auch in Frankreich zuschlagen?

Andererseits deutet der sehr außergewöhnliche und selbst vielen Einheimischen nicht bekannte Ablageort darauf hin, dass der Täter sehr gute Ortskenntnisse haben musste, die eigentlich nur ein Einheimischer haben konnte. Nach Berichten in französischen Medien, die in Deutschland bisher nicht bestätigt wurden, hat es zum Zeitpunkt von Jonathans Verschwinden Abhebungen mit Martin Neys EC-Karte in Deutschland gegeben. Dies würde ihn aus dem Kreis der Verdächtigen ausschließen.

Es bleiben jedoch noch einige Unklarheiten in diesem Fall, zu dem auch Ermittlungspannen beitrugen. Ney hatte drei Festplatten, einen USB-Stick und eine CD unter dem Fettfilter seiner Dunstabzugshaube versteckt. Erst der Nachmieter seiner Wohnung hatte diese Gegenstände bei der Renovierung gefunden. Bisher ist es den Beamten nicht gelungen, den Passwortschutz der Datenträger zu knacken.

Martin Ney schweigt indes weiter, obwohl es für ihn ohnehin keinen Unterschied mehr machte, ob er noch zwei oder zehn weitere Morde gesteht.

Vielleicht, so mutmaßen die Profiler, die ihn jagten, will er einen Teil seiner dunklen Seite nicht offenlegen. Will wie in einem Schatzkästlein etwas eigenes für sich behalten.

Update Mai 2017: Im vergangenen Jahr hat sich Martin Ney allem Anschein nach dazu entschlossen, den Ermittlern die Passwörter der Festplatten zu verraten.

Update August 2018: Mit dem Mord an Nicky Verstappen im August 1998 in Brunssum scheint Martin Ney nichts zu tun zu haben. Die Polizei hat als Tatverdächtigen Jos Brech im Visier.

Update Januar 2021: Französische Medien, darunter Le Parisien und Ouest-France, melden, dass Martin Ney nach Frankreich ausgeliefert wird, um von einem Ermittlungsrichter zum Verschwinden von Jonathan Coulom angehört zu werden. Richter Stéphane Lorentz hat offenbar die Gewissheit, dass Martin Ney den Mord an Jonathan begangen hat. Den Mord habe er einem Mitgefangenen gestanden. Zudem habe er angegeben, am Ablageort der Leiche einen Rucksack verloren zu haben. Die Gendarmerie hatte sich im Jahr 2018 wegen dieses Rucksacks an die Öffentlichkeit gewandt:

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