Massenmord in Nizza

Anfang September hat in Paris der Prozess gegen Gehilfen und Mittäter des Massenmörders Mohamed Lahouaiej Bouhlel begonnen, der vor sechs Jahren im französischen Nationalfeiertag mit einem LKW 86 Menschen getötet hat.

Der Täter selbst kann für diese Tat nicht verurteilt werden, weil er unmittelbar nach dem Anschlag von Polizisten erschossen worden war.

Zwangsläufig stellen sich Ermittler, Richter und Terrorexperten die Frage, was den tunesischen Lieferfahrer zu der Tat bewegt hat. Ein Journalist der französischen Zeitung Le Monde hat die Ermittlungsakten einsehen können. Seine Erkenntnisse über die Persönlichkeit des Täters sind entsetzlich und grauenvoll.

Meiner Meinung nach sollte man sich auch mal näher mit der tunesischen Gesellschaft beschäftigen, in der der Täter aufgewachsen ist, denn dort scheint so einiges nicht in Ordnung zu sein, obwohl Tunesien in den Medien gemeinhin als das modernste und fortschrittlichste Land in Nordafrika dargestellt wird.

Bezogen auf den Anteil der Bevölkerung in den Herkunftsstaaten bilden die Tunesier nämlich die größte Gruppe der Terroristen des Islamischen Staats.

Eventuell könnten sich die Soziologen einmal nützlich machen und anstatt sich mit den neuesten absurden Ausgeburten der Sozialwissenschaften zu beschäftigen, dieser Sache auf den Grund gehen.

Hier ist die Übersetzung des Artikels aus Le Monde:

Anschlag vom 14. Juli in Nizza: Werdegang eines Psychopathen, der zum Terroristen wurde.

Über Mohamed Lahouaiej Bouhlel, der 86 Menschen auf der Promenade des Anglais tötete, bevor er erschossen wurde, wird in der Hauptverhandlung, die an diesem Montag [05. September 2022] beginnt, wird nicht geurteilt werden. Doch die Persönlichkeit dieses schwer psychisch gestörten Mannes wird den Prozess überschatten.

Am 05.09.2011 hält eine Polizeistreife vor einem Wohnblock im Viertel von Ray in Nizza, um eine „gewalttätige Familienstreitigkeit“ zu schlichten. Eine 26-jährige franko-tunesische Frau namens Hajer K. hat weinend aus dem Zimmer ihrer Tochter angerufen, in das sie sich eingeschlossen hatte, um der Raserei ihres Ehemannes zu entkommen. Mohamed Lahouaiej Bouhlel, der auch ihr Cousin ist, hatte ihr Faustschläge verpasst und sie über den Boden geschleift, weil sie nicht geputzt hatte.

Nach fünf Jahren an Misshandlungen hat sich die Frau entschlossen, Anzeige gegen ihren Mann zu erstatten, der sie, so sagt sie, seit der Hochzeit „jeden Tag schlägt“. Eine Mediation wird beim Staatsanwalt von Nizza durchgeführt: der gewalttätige Ehemann verlässt das Gebäude mit einem mahnenden Hinweis auf die Rechtslage, während Hajer K. im Gegenzug verspricht, „sich zu Hause Mühe zu geben, damit er wieder die Frau wiederfindet, die er einst geliebt hat.“

Doch in der ehelichen Wohnung geht das Martyrium von Hajer K. weiter. Drei Jahre später, 2014, erstattet sie eine zweite Anzeige wegen „Bedrohungen und quasi täglicher Gewalt“, sogar während ihrer Schwangerschaften. Dieses Mal hat ihr Ehemann auf sie uriniert und in das gemeinsame Zimmer defäkiert.

Er hat sie auch mit dem Tode bedroht und dem Kuscheltier der Tochter mit einem Messer „mitten ins Herz“ gestochen und dabei geschrien: „Glaubst du, ich werde hier aufhören?“

Er macht mir große Angst“, vertraut sie den Polizisten an. „Meine Kinder und ich sind bei ihm nicht in Sicherheit.“ Auf mehrmalige Vorladungen zum Kommissariat gibt der gefährliche Ehemann kein Lebenszeichen mehr.

Fluss aus Blut

Erst zwei Jahre später, am 20. Juni 2016, wird Mohamed Lahouaiej Bouhlel wegen der zweiten Anzeige seiner Frau befragt, die sich zwischenzeitlich von ihm hat scheiden lassen und allein mit ihren drei Kindern lebt. Er leugnet die Anschuldigungen. Das Ermittlungsverfahren wird nicht abgeschlossen werden können.

In den folgenden Wochen beginnt der tunesische Lieferfahrer von 31 Jahren im Internet Inhalte mit Bezug zum Islam, dschihadistischem Terrorismus, der Miete von LKW und Verkehrsunfällen aufzurufen. In seinem Computer werden die Ermittler folgende Suchbegriffe finden: „schrecklicher tödlicher Unfall“.

Drei Wochen nach seiner Befragung, am 14. Juli 2016 [französischer Nationalfeiertag, AdÜ], rast Mohamed Lahouaiej Bouhlel am Steuer eines gemieteten LKW über die Promenade des Anglais und zermalmt unter seinen Rädern Familien, die sich für das Feuerwerk versammelt hatten und fährt absichtlich in eine Kindergruppe, die fröhlich vor einem Bonbonverkauf stand.

Die Promenade des Anglais ist ein Fluss aus Blut. Die Bilanz der Opfer ist entsetzlich: 86 Tote, darunter 15 Minderjährige und mehr als 300 Verletzte. Nachdem er 4 Minuten und 17 Sekunden lang Tod und Verderben gebracht hat, wird der gewalttätige Ehemann, der zum Terroristen wurde, am Lenkrad seines 19-Tonners von Polizisten erschossen.

Zwei Tage später bekennt sich die Organisation Islamischer Staat zum Attentat desjenigen, den sie als „Soldat des Kalifats“ bezeichnet.

Mohamed Lahouaiej Bouhlel wird nicht für seine Verbrechen im Prozess des Anschlags vom 14 Juli zur Rechenschaft gezogen werden, in welchem ab dem 05. September 2022 acht Personen vor dem speziellen Schwurgericht in Paris angeklagt sind.

Vermutlich werden seine Opfer niemals die tieferen Beweggründe seiner Tat verstehen. Um sich dem Unsagbaren zu nähern, wird man die Zeugenaussagen seiner Verwandten und ihm nahestehenden Personen abwarten müssen.

Schon in den ersten Tagen der Ermittlungen hatten diese ein beängstigendes Portrait gezeichnet: eines psychisch sehr labilen Mannes mit abnormer Sexualität, jedoch mit wenig Interesse an Religion.

Selbst der Teufel hat sich bei ihm inspiriert

Nach dem Anschlag wurde Hajer K., die geprügelte Ehefrau, erneut von den Ermittlern befragt. Wie alle Verwandten des Täters beschreibt sie einen „gestörten“ Mann, der von Sex besessen war und von Gewalt und seinem Aussehen fasziniert war, meilenweit entfernt von den Vorgaben des Islamischen Staats.

Er ist nicht gläubig, er praktiziert die Religion überhaupt nicht, er isst Schweinefleisch und trinkt Alkohol (…) Ich halte den Ramadan ein. Einmal hat er gesehen, dass ich gebetet habe, weil meine Tochter krank geworden war. Er hat sein Glied herausgeholt und in das Zimmer uriniert, während ich betete. Er betete nie.“

Der Bericht von Hajer K. über die Jahre ihres Martyriums, der Vergewaltigungen, der Beleidigungen und der Schläge zeichnen ein erschreckendes Bild der Psyche des Täters: „Er liebte das Böse, er trat mir mit den Füßen gegen den Kopf, denn er wollte das Blut fließen sehen. Er war ein Monster. Selbst der Teufel hat sich bei ihm inspiriert (…) Die Polizei wollte mich niemals anhören, obwohl ich jahrelang misshandelt wurde (…) Als ich mit meiner zweiten Tochter schwanger war, hat er einen Stock genommen, ihn in zwei Teile zerbrochen und ist in mich eingedrungen. Er hätte meine Tochter töten können. Es gab viel Blut. Mein Baby bewegte sich nicht mehr. Mohamed hat gelacht und ist weggegangen… Er lachte, wenn ich Schmerzen hatte, er war stolz auf sich.

Labil und pervers tyrannisierte Mohamed Lahouaiej Bouhlel seine Frau, um sie zur Scheidung zu zwingen, damit er sich mit seinen zahlreichen Geliebten vergnügen konnte, aber drohte ihr mit dem Tod, wenn sie ihn verlassen wollte.

Wenn ich sagte, dass ich gehen würde, antwortete er, dass er mich und meine Tochter aus dem 12. Stock werfen und hinterherspringen würde, denn er hätte keine Angst zu sterben. Er war nie zufrieden. Er sagte, früher sei sein Leben ‚Kaka‘ gewesen, jetzt sei es ‚Pipi‘, erinnert sie sich, bevor sie eine Vermutung über den tieferen Grund seiner Tat ausspricht. „Vielleicht wollte er die ganze Welt töten, um nicht allein zu sterben.“

Ein Attentat ohne Ideologie

War das Massaker von Nizza ein Anschlag oder die Tat eines Geisteskranken? In juristischer Hinsicht vertreten die Richter, die mit dem Ermittlungsverfahren betraut waren, die Auffassung, dass es ein „terroristischer Akt“ gewesen sei, da er die „öffentliche Ordnung durch Einschüchterung oder Terror schwer gestört“ hat, wie es Art. 421-1 des Code pénal (Strafgesetzbuch) definiert. In ihrer Anklageschrift schreiben sie, dass „etwaige Zweifel an der geistigen Gesundheit des Täters nicht die Einordnung seiner Tat als terroristisch in Frage stellen.“

Doch wenn das Strafgesetzbuch den Tatbestand („Störung der öffentlichen Ordnung“) und die Mittel („Einschüchterung oder Terror“) festlegt, so schweigt es sich über die ideologische Dimension des Terrorismus aus. Was war nun das Motiv des Anschlags von Nizza?

Trotz des modus operandi der Tatausführung – die den Empfehlungen des Islamischen Staats entspricht, der dazu aufruft, die Ungläubigen „mit einem Auto“ zu überfahren – und der Bekenntnisbotschaft, das von Propagandaorganen der Gruppe veröffentlicht wurde, entsprechen das Profil und das Verhalten des Täters in keiner Weise denen eines Dschihadisten.

Abgesehen von der Nicht-Religiosität hat er kein Testament noch einen Treueeid oder das geringste Bekenntnis hinterlassen, und die Richter selbst halten die Bekennerbotschaft des Islamischen Staats für rein opportunistisch.

Kann ein Anschlag ohne klares ideologisches, politisches oder religiöses Motiv des Täters überhaupt als terroristisch eingestuft werden?

Der Werdegang von Mohamed Lahouaiej Bouhlel, so wie er von seinen Verwandten dargestellt wurde, erlaubt es vielleicht besser, die Beweggründe seiner Tat zu bestimmen und die Art und Weise wie die ständigen Mordaufrufe des Islamischen Staats in dieser Periode auf seine verstörte Seele abgefärbt und bereits angelegte Todestriebe enthemmen konnten.

Selbstmordversuche

Mohamed Lahouaiej Bouhlel, der in Tunesien in einer wenig liebevollen Familie aufwuchs, wo die Gewalt an der Tagesordnung war, hat Hajer K. anvertraut, dass er schwere Misshandlungen durch seinen Vater erlitten hat und in seiner Jugend zwei Selbstmordversuche unternommen hat. „Beim zweiten Versuch hat er versucht, sich sein Geschlechtsteil mit einem Rasiermesser abzuschneiden“, hat sie den Ermittlern erzählt. Die schweigsame und aggressive Persönlichkeit des Jugendlichen hat irgendwann selbst seine Eltern in beunruhigt, die ihn im Alter von 16 Jahren zu einem Psychiater geschickt haben.

Als er selbst Vater wurde, sagte er oft zu seinen Kindern, dass „er Jesus sei und weder Vater noch Mutter hätte“, erinnert sich seine Ex-Frau.

Eine Freundin von Hajer K. hat eine sehr klare Meinung über seine geistige Gesundheit und die Motive der Tat: „Er war vollkommen bekloppt (…) Er lachte nicht wenig über die Religion. Weil Hajer gläubig war, beleidigte er Gott vor ihr, um sie zu provozieren“, sagt sie, bevor sie eine ahnungsvolle Erinnerung erwähnt: „Er war fähig, so zu tun, als würde er Leute überfahren und dann zu lachen, wenn er Auto fuhr… Für mich ist er ein Sadist und er hat es [das Attentat] aus Sadismus verübt.“

Wenn der Täter eine zumindest distanzierte Beziehung zur Religion hatte, haben jedoch Verwandte und nahestehende Personen bemerkt, dass er in den Wochen vor dem Attentat begonnen hatte, sich für den Islam zu interessieren. Einer  seiner Freunde berichtete, dass Mohamed Lahouaiej Bouhlel ab Juni 2016 begonnen hatte, Koranrezitationen zu hören und ihn sogar eine Woche vor dem Attentat zum ersten Mal in seinem Leben zum Gebet zum Fastenbrechen am Ende des Ramadan begleitete.

Nach dem Bericht des Freundes hatte die Erfahrung in der Moschee keine mystische Offenbarung in ihm ausgelöst: „Am Schluss hat er mir nur gesagt, dass er sich gelangweilt hätte.“

Aufhebung eines Tabus

Nach dem Bericht eines anderen Freundes, einer der acht Angeklagten über die im Prozess geurteilt werden wird, hatte der Täter etwa zehn Tage vor dem Attentat begonnen, Lobreden über den Islamischen Staat zu halten.

In seinem Computer hatten die Ermittler ultrabrutale Bildersammlungen entdeckt, auf denen Leichen, Exekutionen des IS, Verkehrsunfälle, Folterszenen und zoophile Photos gesammelt waren. Eine besorgniserregende Mixtur, bei der die Faszination für Gewalt jede Form von Ideologie übertrifft.

Für die Untersuchungsrichter ist es genau diese „bereits angelegte Affinität zur Gewalt in Verbindung mit einer labilen und gewalttätigen Persönlichkeit“, die weit davon entfernt, die These einer Blitzradikalisierung zu widerlegen, „eine Anziehung für die radikale, dschihadistische Ideologie begründet haben“.

Sie bringen daher die Vermutung vor, „dass die vorbestehende psychopathische Funktionsweise in der radikalen islamistischen Ideologie den notwendigen Nährboden gefunden hat, der die Ausführung der mörderischen Tat begünstigt hat.“

In den Augen der Richter wurde der Anschlag auf der Promenade des Anglais durch den damaligen Kontext ermöglicht, was dem Massenmord seine dschihadistische Färbung gegeben hat: die Anschläge und die Propaganda des IS hätten dazu beigetragen, ein Tabu im verstörten Geist des Täters aufzulösen und damit eine Mordlust entfesselt, die schon lange in ihm gereift war.

Es ist erneut ein Freund von Mohamed Lahouaiej Bouhlel, der vermutlich am besten die Ambivalenz der Tat zusammenfasst: „Ich denke, dass er die Terroristen als Beispiel genommen hat, auch wenn er nicht als Dschihadist gehandelt hat.“

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Chevaline: Wer richtete das Massaker in den Alpen an?

Vor zehn Jahren brachte ein Mörder in den französischen Alpen vier Menschen um: drei Mitglieder einer britisch-irakischen Familie und einen Radfahrer. Nur zwei kleine Mädchen überlebten das Blutbad.

Niemand weiß bis heute, wer der Mörder ist und warum er diese Personen getötet hat. War es ein gezielter Angriff auf die irakisch-stämmige Familie? Oder war der Radfahrer das eigentliche Ziel. Lag das Motiv in einem Erbstreit? Und was hat es mit der außergewöhnlichen Waffe auf sich? Der Bruder des getöteten Familienvaters, der erste am Tatort eintreffende Zeuge und ein Unternehmer aus der Region gerieten ins Visier der Ermittler. Doch gegen keinen von ihnen ließ sich ein Verdacht erhärten.

Es war Anfang September 2012 als der Ingenieur Saad Al-Hilli seine gesamte Familie in den bordeauxroten BMW-Kombi mit dem Wohnwagen steckte und von dem wohlhabenden Londoner Vorort Claygate bis in die Gegend von Annecy nahe der Schweiz fuhr.

An sich ein etwas eigenartiger Zeitpunkt, denn in England hatte gerade wieder die Schule nach den Sommerferien begonnen.

Möglicherweise hatte es mit einer Entdeckung zu tun, die er nach dem erst kürzlich zurückliegenden Ableben seines Vaters gemacht hatte: ein Betrag von 700.000 Pfund Sterling auf einem Bankkonto in Lausanne, von dem ihm sein Bruder Zaid, der auch in England lebt, allerdings nichts erzählt hatte.

Auf dem Campingplatz wird Saad Al-Hilli wenige Stunden vor seinem Tod beobachtet, wie er mit einem Mann in Businesskleidung eine hitzige Diskussion führt. Die Zeugen können nicht sagen, was die Männer besprechen, aber der Besucher schlägt während der Unterhaltung mehrmals heftig mit der Hand auf das Dach des Autos der Stellplatznachbarn. Dieser Mann wird nie identifiziert.

Am frühen Nachmittag macht sich die gesamte Familie mit dem BMW-Kombi auf eine Spazierfahrt in die Umgebung auf. Im Auto sitzen die Eltern, Saad und Iqbal, die beiden Töchter Zeinab (7) und Zeena (4), sowie Iqbals Mutter Suheila.

Nach der Besichtigung der Grotte und des Wasserfalls von Seythenex fährt die Familie weiter in Richtung Chevaline und nimmt dort einen kleinen Waldweg, die Route forestière de la Combe-d’Ire. Dieser Weg verengt sich und wird zu einer Piste mit relativ vielen Schlaglöchern. Der Weg endet an einem kleinen Parkplatz, dem Parking du Martinet. Es ist ein Ausgangspunkt für Wanderungen und Mountainbike-Touren. Ab hier dürfen motorisierte Fahrzeuge nicht mehr weiter in den Wald fahren. Vater Saad Al-Hilli parkt das Auto mit der Motorhaube in Richtung Böschung. Er steigt aus, ebenso wie seine Tochter Zeinab, die vorne auf dem Beifahrersitz gesessen hatte. Vermutlich will Saad sich an dem Wegweiser und der Karte orientieren. Für eine Wanderung ist die Familie nicht gekleidet. Saad hat blaue Crocs an seinen Füßen.

In diesem Moment geschehen zwei Dinge: ein Rennradfahrer, Sylvain Mollier, kommt den Weg aus Richtung Chevaline heraufgefahren und erreicht den Parkplatz und ein Mörder tritt aus dem Dickicht.

Vermutlich ohne Vorwarnung beginnt der Täter auf die Personen zu schießen, die sich außerhalb des Fahrzeugs befinden. Auf wen der Mörder zuerst geschossen hat, können die Ermittler nicht sagen. In Panik steigt Saad Al-Hilli in sein Auto ein und startet den Motor. Zeinab schafft es aus ungeklärten Gründen nicht ins Auto. Möglicherweise wird sie von dem Täter festgehalten (sie ist seit der Tat traumatisiert und hat keine Erinnerungen an den Tathergang; Psychologen haben lange davon abgesehen, in sie zu dringen, um sie nicht zu retraumatisieren, erst vor kurzem wurde sie erneut exploriert).

Saad legt den Rückwärtgang ein und vollführt einen großen halbkreisförmigen Bogen, bei dem er den Radfahrer Sylvain Mollier überfährt und mit sich schleift, bis er mit dem Fahrzeugheck an die Böschung stößt. Der Mörder tötet den Radfahrer, Saad Al-Hilli, seine Frau und seine Schwiegermutter mit jeweils gezielten Schüssen durch die Autofenster in den Kopf. Zeinabs kleine Schwester Zeena schafft es, sich unter dem langen Gewand ihrer Großmutter im rückwärtigen Fußraum zu verstecken und überlebt unverletzt.

Dann versucht der Mörder, Zeinab zu töten und schießt ihr in die Schulter. Entweder ist ihm dann die Munition ausgegangen oder seine Waffe hatte Ladehemmung. Jedenfalls schießt er nicht mehr auf das kleine Mädchen, sondern schlägt ihm mit dem Pistolenkolben auf den Kopf, und zwar mit einer solchen Gewalt, dass ein Stück der geriffelten Griffschale des Pistolengriffs abbricht, was noch eine wichtige Bedeutung bei den Ermittlungen haben wird.

Dann verschwindet der Mörder unerkannt (oder auch nicht).

Der Hauptzeuge

Unmittelbar nach dem Vierfachmord erscheint ein Mountainbike-Fahrer am Tatort, der ehemalige Kampfpilot der Royal Air Force, William Brett Martin, der einen Zweitwohnsitz in Lathuile ganz in der Nähe hat.

Er ist die erste den Ermittlern bekannte Person, die den Tatort nach den Morden erreicht und gleichzeitig auch die letzte, die die Opfer lebend gesehen hat.

Kurz nachdem er sich mit seinem Mountainbike in Richtung des Waldwegs gemacht hatte, wurde er erst von einem Rennradfahrer (Sylvain Mollier), der zügig unterwegs war, überholt und kurz darauf von dem bordeauxfarbenen BMW-Kombi, bei dem ihm allerdings nicht die englischen Nummernschilder und das Lenkrad auf der rechten Seite aufgefallen waren.

Dann kamen ihm aus der Gegenrichtung zunächst ein Auto der Forstbehörde entgegen und kurz darauf ein Motorradfahrer. Er war ganz in schwarz gekleidet und hatte einen weißen Helm, das Visier war heruntergeklappt, so William Brett Martin. Sein Motorrad und sein Topcase waren ebenfalls weiß. Bei seinem Anblick verlangsamte der Motorradfahrer seine Fahrt, so als wollte der Fahrer ihn ansprechen, berichtete William Brett Martin bei seiner Zeugenaussage, doch dann habe der Motorradfahrer seine Fahrt fortgesetzt uns sei an ihm vorbeigefahren.

Kurze Zeit später erreichte William Brett Martin den Parkplatz, wo sich ihm ein Bild des Grauens und des vollkommenen Chaos bot.

Ein kleines Mädchen, Zeinab, stolperte ihm entgegen. Sie stieß einen kurzen Schrei aus und fiel mit dem Gesicht nach unten auf den Boden.

Dann fiel sein Blick auf das Rennrad des Fahrers, der ihn beim Aufstieg überholt hatte. Es lag mitten auf der Straße, etwa 20 m vom Auto entfernt, in Richtung des Aufstiegs.

Seine Aufmerksamkeit wird sodann von dem Auto angezogen. Es ist mit dem Heck in die Böschung gekracht und hat sich festgefahren. Die Räder drehen durch. Im Tod hatte Saad Al-Hillis Fuß das Gaspedal durchgedrückt. Es riecht nach verbranntem Gummi. Ein Reifen ist geplatzt.

Der Radfahrer liegt etwa 30 cm vom Vorderrad entfernt reglos und mit offenen Augen auf dem Rücken. William Brett Martin denkt zunächst an einen Verkehrsunfall bei dem das Auto mit dem Radfahrer zusammengestoßen sein könnte.

Er kümmert sich aber zunächst um das kleine Mädchen. Er tastet ihren Puls und als er feststellt, dass sie noch lebt, nimmt er sie in die Arme und legt sie auf dem Parkplatz ab, damit sie nicht mitten auf der Straße liege.

Dann wendet er sich wieder dem Radfahrer zu. Er zieht ihn vom Auto weg, weil er befürchtet, dass es ihn überfahren könnte, aber er sieht am starren Blick und dem fehlenden Puls, dass für den Radfahrer jede Hilfe zu spät kommt.

Er will nun bei den Insassen des BMW nachsehen, ob alles in Ordnung ist, und bemerkt die gesplitterte Seitenscheibe und ein kleines Loch „vom Durchmesser eines Fingers“. Mit leichtem Druck zerbricht er die Scheibe, um den Zündschlüssel abzuziehen. Er sieht nun den Fahrer, der aufrecht dasitzt, der Kopf hing leicht nach vorne, seine Arme hingen seitlich am Körper entlang. „Für mich sah es so aus, dass er tot war“, sagte er den Ermittlern.

Bei einem Blick auf die Rückbank sah er zwei weitere leblose Frauen. Hier wird ihm klar, dass etwas Unnormales geschehen sein musste.

Es ist 15:43 Uhr. Vier Minuten zuvor hatte er den kleinen Parkplatz erreicht.

Er versucht mit seinem Mobiltelefon den Rettungsdienst zu erreichen, doch in der gebirgigen Gegend hat er kein Netz. Letzteres wurde von den Ermittlern überprüft und bestätigt. Er steigt also wieder auf sein Mountainbike und prescht ins Tal. Etwa 500 m unterhalb trifft er auf eine Gruppe in einem Kastenwagen, die bergauf zu einer Wanderung unterwegs war. In gebrochenem Französisch versucht er der dreiköpfigen Gruppe zu erklären, dass weiter oben mehrere Personen ermordet worden seien und der Mörder noch vor Ort sein könnte und sie dringend umkehren müssten.

Der Fahrer setzt einen Notruf ab, entschließt sich aber dennoch weiter hoch zum Parkplatz zu fahren, um dem kleinen verletzten Mädchen Hilfe zu leisten. William Brett Martin fährt ihm mit seinem Mountainbike hinterher.

Am Tatort wird der Fahrer des Kastenwagens von einer dumpfen Panik befallen: sind der Mörder und dieser seltsame Engländer vielleicht ein und dieselbe Person?

Der Wandergruppe wird nichts geschehen, doch auch den Ermittlern drängt sich auf, dass alle Orts- und Zeitangaben ausschließlich auf den Aussagen von William Brett Martin beruhen. Sie müssen kritisch bleiben, und sich nicht von ihm auf eine falsche Fährte führen lassen. Auch macht es sie misstrauisch, dass der Engländer die Kleider, die er am Tag des Vierfachmordes trug, nach England zum Waschen brachte, obwohl er in seinem französischen Domizil eine Waschmaschine hatte.

Objektive Beweise für eine Täterschaft des Engländers gibt es zum jetzigen Zeitpunkt indes nicht.

Der Tatort

Kurz nach 16:00 Uhr erschienen der Rettungsdienst an der apokalyptischen Szenerie. Zeinab wurde in einem ernsten Zustand ins Krankenhaus gebracht, wo sie in ein künstliches Koma versetzt wurde und auch künstlich beatmet werden musste.

Auch die Gendarmerie ist eingetroffen und riegelt den Tatort ab. Niemand darf sich den Opfern nähern, bis die Experten von der Tatortgruppe der Gendarmerie IRCGN (Institut de recherche criminelle de la gendarmerie nationale) vor Ort sind, die allerdings erst aus Paris anreisen müssen.

Sieben Stunden vergehen. In der Zwischenzeit wird eine Wärmebildkamera eingesetzt, um zu überprüfen, ob im Auto wider Erwarten doch noch Überlebende der Tragödie existieren. Mit negativem Ergebnis.

Erst in der Nacht erhalten die Ermittler von dem Campingplatzbetreiber einen bestürzenden Telefonanruf: die Familie Al-Hilli hatte zwei Töchter, nicht eine.

Sofort stürzen die in weiße Spurensicherungsanzüge gekleideten Ermittler zum Fahrzeug und finden hinter der hinteren linken Tür ein kleines menschliches Wesen. Es ist die kleine Zeena, die sich mehr als acht Stunden lang mucksmäuschenstill im Fußraum unter dem langen schwarzen Gewand ihrer Großmutter versteckt hatte. Als ein Ermittler sie in die Arme nimmt, um sie fortzutragen, huscht ein kleines Lächeln über ihr Gesicht.

Dier Ermittler konzentrieren sich nun auf die Fakten: es wurden 21 Kugeln, Kaliber 7,65 Parabellum, am Tatort gefunden. 17 von ihnen haben die Opfer getroffen. Der Rennradfahrer Sylvain Mollier wurde fünf Mal getroffen, das Ehepaar Al-Hilli jeweils vier Mal, Suhaila, die Großmutter, drei Mal und Zeinab einmal. Ungewöhnliches Detail: allen Mordopfern wurde ein oder zweimal in den Kopf geschossen. Doch in welcher Reihenfolge und unter welchen Umständen?

Die Ermittler wissen es offiziell nicht. Klar ist nur, dass die Projektile aus einer einzigen Waffe abgefeuert wurden. Es gab also einen Täter. Es kann allerdings nicht ausgeschlossen werden, dass er einen Komplizen hatte.

Die Szene spielte sich an einer gut frequentierten Bergstraße ab, wo häufig, Auto- und Radfahrer und Wanderer unterwegs sind. Dennoch haben die Ermittler bis heute keinen direkten Zeugen der Tat finden können.

Die Tatwaffe

Relativ bald können die Ermittler die Tatwaffe anhand der am Tatort gefundenen Stücks der Griffschale des Pistolenkolbens identifizieren.

Das Modell versetzt die Ermittler in Erstaunen: es handelt sich um eine Luger P06/29. Ein uraltes Pistolenmodell, das zu Beginn des letzten Jahrhunderts in der Schweizer Armee als Dienstwaffe für Offiziere ausgegeben wurde.

Sie wurde nach einiger Zeit aus dem Verkehr gezogen, weil sie als unzuverlässig galt, insbesondere wegen des hakeligen Kniegelenkverschlusses. Die Besitzer durften sie jedoch ganz offiziell behalten. Heute ist sie als antiquarisches Sammlerobjekt fast ausschließlich bei Waffenkollektioneuren im Umlauf.

Die Waffe wurde jedoch in so großer Zahl gebaut, dass Versuche, die Besitzketten nachzuvollziehen von vornherein zum Scheitern verurteilt wären.

Andererseits haben die Spezialisten vom IRCGN anhand des Griffstücks herausfinden können, dass es aus einem Material hergestellt wurde, das nur in einem klar eingrenzbaren Zeitraum Verwendung fand. So konnten sie die Anzahl der damit ausgestatteten Pistolen auf immerhin 8000 Stück eingrenzen.

Einen Täter könnten sie allerdings bis heute nicht präsentieren.

Es gibt zwei sehr interessante Dokus des französischen Fernsehens. Da Youtube die Untertitel-Funktion abgeschafft hat, kann ich leider keine Untertitel hinzufügen.

Kain und Abel

Was, wenn das Motiv für die Tat in den Erbstreitigkeiten zwischen Saad und seinem älteren Bruder Zaid zu finden wären? Hat Zaid den Mord an seinem jüngeren Bruder in Auftrag gegeben?

Zum Zeitpunkt des Mordes waren die die beiden Brüder über das Erbe ihres ein Jahr zuvor verstorbenen Vaters zerstritten und kommunizierten nur noch über Anwälte miteinander.

Ihr gemeinsamer Vater, Khadim, hatte es im Irak zu relativem Wohlstand als Unternehmer in recht verschiedenartigen Branchen gebracht: im Baugewerbe, in der Geflügelzucht und mit Fabriken zur Herstellung von Toilettenpapier.

Das Erbe umfasste Grundeigentum, zum einen das Haus in Claygate, das Saad Al-Hilli mit seiner Familie bewohnte, weitere Immobilien in Spanien, wo Khadim in einer späteren Lebensphase lebte, sowie Bankkonten in der Schweiz. Insgesamt summiert sich der Wert der Erbmasse zu einem Gesamtbetrag von ungefähr 5 Millionen Euro.

Saad verdächtigt seinen älteren Bruder, ihn um seinen Erbteil bringen zu wollen. Einige Jahre zuvor bezichtigt er Zaid, ein Testament gefälscht zu haben, das ihn zum Alleinerben machte. Auch der Vater bemerkte das und beauftragte Saad mit der Verwaltung seines Vermögens. Für Zaid ein demütigender Affront. Fortan stellte sich ein gegenseitiger Hass zwischen den Brüdern ein. Eine Klärung konnte nicht herbeigeführt werden, da der Vater starb, ohne seinen Nachlass geregelt zu haben.

Für die Staatsanwaltschaft stellt dieser Konflikt um das Erbe ein valides Motiv dar, jedenfalls eines der bedeutsamsten, das sie im Lauf der Ermittlungen aufdecken konnten. Zaid Al-Hilli hatte ein Interesse daran, seinen jüngeren Bruder von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Aber ein Motiv macht ihn noch nicht zu einem Verdächtigen. Es ist auch unstreitig, dass er sich zum Tatzeitpunkt in England aufhielt.

Aber hatte er die Möglichkeit den Mord in Auftrag zu geben? Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es keinen objektiven Anhaltspunkt hierfür.

Andererseits verfolgten die Ermittler eine zunächst vielversprechende Spur. Zeugen hatten angegeben, im Tatzeitraum auf dem Waldweg Combe-d‘Ire einen Geländewagen BMW X5 mit dem Lenkrad auf der rechten Seite gesehen zu haben.

Die Ermittler können jedoch nur einen britischen X5 feststellen, dessen Fahrer am Vortag, dem 4. September 2012, an einer Autobahn-Mautstation ganz in der Nähe bezahlt hatte. Beim Nachgehen dieser Spur finden die Polizisten allerdings heraus, dass einer der Beifahrer irakischer Staatsangehöriger ist und in einem Restaurant in Leeds im Norden Englands arbeitet. Und dieses Restaurant, so finden britische Ermittler heraus, habe Zaid Al-Hilli erst im August 2012 besucht.

Einen stärkeren Beweis gibt es nicht, dennoch kommt Zaid Al-Hilli für sechs Monate in Untersuchungshaft. Bei seinen Antworten bleibt er ausweichend. Die französischen Ermittler erhalten auch nicht die Gelegenheit, ihm alle gewünschten Fragen zu stellen.

Schließlich wird er im Januar 2014 aus dem Gefängnis entlassen, ohne dass sich der Tatverdacht gegen ihn hätte erhärten lassen. Die Zeugenaussage mit dem britischen BMW X5 wird als fehlerhaft verworfen.

Im Gespräch mit französischen Journalisten macht Zaid Al-Hilli seinem Groll gegen die französische Justiz Luft, die ihn zum Sündenbock gestempelt habe. Er wolle nicht nach Frankreich kommen, um Fragen zu beantworten, aus Angst verhaftet zu werden.

Im Übrigen habe er regelmäßigen Kontakt mit seinen Nichten, den Überlebenden des Blutbades, die heute 17 und 14 Jahre alt sind. „Aus Sicherheitsgründen“ könne er nicht ins Detail gehen. Es gehe ihnen gut. Sie sprächen nicht mehr über das, was passiert ist.

Der Rennradfahrer

Die Ermittler nehmen auch einen Perspektivenwechsel ein. Was, wenn nicht die Familie Al-Hilli das Ziel des Mordanschlags war, sondern der Rennradfahrer Sylvain Mollier, der bis dato als Kollateralopfer galt, das einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort war?

Von allen Opfern hat Sylvain Mollier die meisten Schusswunden erlitten, nämlich fünf. Die letzte Kugel traf ihn mitten ins Gesicht, als er schon am Boden lag. Fast so als hätte der Täter einen Zorn oder Hass an ihm auslassen wollen.

Sylvain Mollier stammte aus der Gegend und hatte sich nie weit weg von seinem Geburtsort entfernt. Er arbeite bei einer Tochterfirma des Nuklearkonzerns Areva als Maschinenführer und Schweißer. Er war gewerkschaftlich organisiert bei der kommunistischen CGT und hatte im Übrigen keinen Zugang zu sensiblen technischen Informationen.

Nach einer Fußballverletzung hatte er sich auf das ambitionierte Radfahren verlagert, und fuhr jede Woche zahlreiche Kilometer auf den Straßen der umliegenden Berge mit einem Rennrad, das er einem ehemaligen Radrennfahrer abgekauft hatte.

Am 5. September 2012 war er wieder auf sein Rad gestiegen. Unterwegs nimmt er einen Anruf seiner Ex-Frau entgegen, die etwas wegen des Kantinenessens seines Sohnes klären will. Mit seiner Ex-Frau hat Sylvain Mollier zwei Sohne im Teenageralter. 2003 ließ er sich scheiden und lebte mit einer anderen Frau zusammen, mit der er ein Kind hat.

Eine ganze Weile sind die Ermittler der Spur eines Racheaktes des Ex-Partners seiner neuen Frau nachgegangen, der in demselben Unternehmen wie Sylvian Mollier arbeitet, ohne dass sie etwas ergeben hätte.

Im weiteren Verlauf finden die Polizisten heraus, dass Sylvain Molliers Ex-Frau mit ihrem neuen Partner eine militärische Reservistenausbildung absolviert hat. Beim weiteren Verfolgen dieser Spur finden sie heraus, dass der Ausbilder einen gemeinsamen Bekannten mit dem ersten Tatortzeugen William Brett Martins hat. Doch diese sehr schwache Fährte ergibt nichts Verwertbares.

Auch ein Ex-Fremdenlegionär, der früher einmal der Freund von Sylvain Molliers jüngerer Schwester war, wird verdächtigt. Allerdings ergebnislos. Die Ermittlungen gegen ihn haben ihn jedoch so erschüttert, dass er sich das Leben nimmt.

Wie bei der Familie Al-Hilli bleibt auch der Mord an Sylvain Mollier ein Rätsel.

Der Motorradfahrer

Kurz bevor William Brett Martin den Ort des Blutbades erreichte, kamen ihm erst ein Fahrzeug der Forstbehörde und dann, etwa 250 Meter unterhalb des Parkplatzes, ein Motorradfahrer entgegen, der bei seinem Anblick die Fahrt verlangsamte. Ist er der mysteriöse Vierfachmörder?

Dass sich der englische Mountainbiker den Motorradfahrer nicht ausgedacht hatte, das bewiesen die Aussagen der Beamten der Forstbehörde. Diese hatten etwa zehn Minuten bevor die Opfer erschossen wurden, im Wald, jenseits des Parkplatzes, an dem die Morde geschahen, und ab dem Fahrzeuge nicht mehr fahren dürfen, einen Motorradfahrer zum Umkehren aufgefordert, der dort vorschriftswidrig fuhr.

Der Motorradfahrer hatte keine Anstalten gemacht, sich vor den Forstbeamten zu verbergen, er öffnete sein Visier und sprach mit ihnen. Die Beamten konnten erkennen, dass er einen Bart in Goatee-Form trug. Anhand ihrer Beschreibungen wird ein Phantombild des Motorradfahrers angefertigt. Die Forstbeamten besteigen ihr Auto und fahren talwärts. Der Biker folgt ihnen. Im Rückspiegel beobachten sie, dass der Motorradfahrer an dem Parkplatz Le Martinet anhält.

Die Ermittler wollen natürlich allzu gerne mit diesem Motorradfahrer sprechen, der ein „wichtiger Zeuge“ ist, und in unmittelbarer örtlicher und zeitlicher Nähe zur Tat und zum Tatort war. Doch trotz aller Meldungen und Aufrufe in den Medien meldete sich niemand.

Erst im Jahr 2014 wird der mysteriöse Motorradfahrer identifiziert. Die Ermittler hatten in einer Sisyphusarbeit alle 4000 Inhaber von Mobilfunkverträgen, deren Telefone sich im Tatzeitraum am fraglichen Ort in den Netzen der Mobilfunkantennen eingeloggt hatten, überprüft, und waren auf Pierre C. gestoßen, einen Unternehmer aus der Gegend von Lyon, Träger eines Goatees und Eigentümer eines weißen Motorrads.

Mit den Vorwürfen konfrontiert, leugnete er nicht, am 5. September 2012 in der Gegend von Chevaline gewesen zu sein. Er habe an dem Tag einen Gleitschirmflug absolviert und wollte dann nach Lyon zurückfahren und dabei die Gebirgsstraßen mit dem Motorrad genießen, sagte er aus. Er konnte sich an das Gespräch mit den Forstmitarbeitern erinnern, aber er habe keinen Mountainbike-Fahrer bei seiner Fahrt Richtung Tal gesehen.

Er sei auch an dem Parkplatz Le Martinet vorbeigefahren, doch dort sei ihm nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Von dem Vierfachmord habe er im Übrigen vorher noch nie etwas gehört. Er habe außerdem kaum noch Erinnerungen an diesen Tag.

Eine Version, die ihm die Polizisten nicht abnehmen. Auch wenn man die seine Zeugenaussage immer mit Skepsis betrachten muss: William Brett Martin, der englische Mountainbiker, hatte ausgesagt, dem Motorrad wenige hundert Meter unterhalb des Parkplatzes begegnet zu sein, unmittelbar vor der schrecklichen Entdeckung. Er musste das Massaker gesehen haben. Sylvain Molliers Rennrad lag mitten auf der Straße, er konnte sie nicht befahren haben, ohne das Rad umfahren zu müssen.

Auch irritiert die Ermittler, dass sich der Motorradfahrer trotz des Trommelfeuers in den Medien nach dem spektakulären Mordfall nicht von sich aus gemeldet hat.

Anfang Januar 2022 wurde er kurzzeitig in Polizeigewahrsam genommen. Es ging den Ermittlern darum, bestimmte Punkte zu klären und zu präzisieren. Nach 38 Stunden wurde er wieder freigelassen.

Die Ermittler mussten konstatieren, dass er keinerlei Verbindung zur Familie Al-Hilli hatte. Motive wie Rache, Eifersucht oder aus dem finanziellen Bereich scheiden aus.  Beweggründe für einen Mord aus rassistischen, ideologischen oder religiösen Gründen konnten nicht nachgewiesen werden.

Wie in einem makabren Cluedospiel müssen die Ermittler weiter forschen. Es sei denn die Tat wurde von einem bisher noch unbekannten Dritten begangen, den die Polizei bisher noch nicht auf dem Zettel hatte.

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Trio Infernale

Zehn Tote. Fünfzehn Banküberfälle. Mindestens.

Neun der zehn Mordopfer wurden aus rassistischen Motiven ermordet, beim letzten Opfer, einer jungen Polizistin aus Thüringen, liegt das Motiv heute noch im Dunkeln.

Das ist die Blutspur, die eine Gruppierung von Neonazis, die sich „Nationalsozialistischer Untergrund“ nannte, hinterlassen hat.

Das OLG München, das zuständig gewesen ist, über diese Taten zu urteilen, und die Bundesanwaltschaft haben aus prozessökonomischen Gründen – und auch weil es sehr bequem ist – die Zahl der Gruppierungsmitglieder auf drei begrenzt: Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Die letzten beiden waren zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung tot. Sie wurden nach ihrem letzten Banküberfall in Eisenach aufgespürt und haben sich in ihrem gemieteten Wohnmobil am 4. November 2011 mit Schrotflinten das Gehirn weggepustet, bevor sie festgenommen werden konnten. Das machte es für die Bundesanwaltschaft noch viel bequemer.

Ein Wälzer

Der ehemalige Chefredakteur des „Spiegel“ und RAF-Kenner Stefan Aust, heute Herausgeber der „Welt“ und der Journalist Dirk Laabs haben versucht, ein ähnliches Standardwerk über die Rechtsterroristenszene zustande zu bringen wie Austs „Der Baader-Meinhof-Komplex“. Ein Buch, das ich wirklich sehr spannend fand, so dass ich auf „Heimatschutz“ äußerst neugierig war.

Zunächst zum Formalen: Es ist ein ziemlich dicker Klopper, 860 Seiten, ohne Index und Register.

Der Anfang ist relativ interessant, weil die Bildung der Rechtsextremen Szene in Ostdeutschland nach dem Mauerfall anschaulich und mit vielen Quellen rekapituliert wird.

In Westdeutschland war die Neonaziszene zum Zeitpunkt des Mauerfalls nach den Terrorjahren der 70er und 80er Jahre zersplittert und führungslos. Es gab natürlich die NPD und es gab Alt-Nazis im Rentenalter, die dem Dritten Reich hinterhertrauerten, aber es gab keine wirklichen Anführer, die wirklich eine kritische Masse an Neonazis hinter sich versammeln konnten.

Der große rechtsextreme Volkstribun Michael Kühnen war schwer an AIDS erkrankt und starb 1991. Karl-Heinz Hoffmann, der illustre Gründer der gleichnamigen Wehrsportgruppe saß die ganzen 80er Jahre über wegen verschiedener Delikte im Knast. Eine Beteiligung am Oktoberfestattentat und am Doppelmord von Erlangen konnte ihm nicht nachgewiesen werden.

Das Ganze änderte sich nach dem Mauerfall, als rechtsextreme Aktivisten aus Westdeutschland wie Christian Worch, Manfred Roeder, Jürgen Rieger und andere mehr auf eine Bevölkerung in Ostdeutschland trafen, die – man muss es wirklich so deutlich sagen – ihren Thesen äußerst offen gegenüberstand. Dazu gleich.

Nach dem ersten interessanten Drittel – nach dem Untertauchen des Trios – wird das Buch allerdings ziemlich zäh. Das Buch ergeht sich in mühsam aufgezählten Observationsmaßnahmen der verschiedenen Dienste und der Wiedergabe des Intrigantenstadls in der Neonazi- und Rechtsrockszene.

Es scheint fast so, als wäre das Buch eher für Kriminologen und Historiker geschrieben worden und nicht für ein interessiertes „Laienpublikum“ wie der „Baader-Meinhof-Komplex“, obwohl letzteres nicht nur in den Medien, sondern auch in Sicherheitskreisen mit großer Aufmerksamkeit betrachtet wurde.

Ich weiß nicht, welchen Anteil Stefan Aust an Heimatschutz hat, ich habe mehrere seiner Recherchen gelesen und weiß, dass er eine gute und spannende Schreibe hat. Der „Baader-Meinhof-Komplex“ ist sehr strukturiert aufgebaut, und man kann dem Handlungsablauf gut folgen.

Ich denke, es liegt am Ende daran, dass die RAF ein großes Sendungsbewusstsein hatte und eine spektakuläre Aktion auf die andere Folgen ließ – Bombenanschläge auf US-Army-Einrichtungen, Schleyer-Entführung und -Ermordung, Ermordung des Generalbundesanwalts Buback, Freipressung von Häftlingen, Ausbildungslager im Jemen und im Libanon usw – während die konspirativen Mörder des „NSU“ still und heimlich mordeten und den Ermittlern nur das Rätsel der immer wieder benutzten Tatwaffe, der mysteriösen Česká 83, aufgab.

Ein wichtiger Aspekt war natürlich auch, dass Ulrike Meinhof direkt aus dem linken Establishment stammte und sich die RAF auf eine globale „linke“ und antiimperialistische Bewegung stützen konnte. Der „Thüringer Heimatschutz“, aus dem die Mörder kamen, war hingegen eine kleine, beengte Szene mit zunächst kleinen und kümmerlichen Aktionen: Kreuzverbrennungen in der Ku-Klux-Klan-Kutte, Rudolf-Heß-Gedenkmärsche und Demos gegen die Wehrmachtsausstellung. Nichts Spektakuläres, was über die Lokalberichterstattung hinausgeht.

Kurz gesagt: es gibt Längen, durch die man sich durchbeißen muss.

Außerdem könnte das Buch teilweise besser lektoriert sein, es gibt viele kleine sprachliche Holprigkeiten („gewunken“) aber auch ärgerliche Schnitzer („Durchsuchungsbescheid“).

Es wäre wirklich gut, wenn Journalisten, die zu solchen Themen recherchieren und publizieren, sich die Basics und vor allem die korrekte Terminologie der polizeilichen Arbeit und des Strafprozesses draufschaffen könnten. Es ist nicht so schwer. Ernsthaft: wenn selbst ich das geschafft habe, dann schafft es wirklich – wirklich! – jeder.

Mühsam ist auch, dass Personen teilweise nur mit ihrem V-Mann-Namen bezeichnet, was es schwierig macht, zu verstehen, welche Person nun genau gemeint ist.

Das soll es mit der Kritik sein, denn letzten Endes ist es das ausführlichste Werk, das die Ursprünge und das Umfeld des NSU beleuchtet, das es derzeit auf dem Markt gibt.

Gut finde ich außerdem die Karten auf den Umschlaginnenseiten mit den Orten und Daten der Anschläge und Banküberfälle und der Wohnorte, weil man ansonsten doch ziemlich durcheinanderkommt.

Wendezeit – Eine Zeit der Angst

Die Zeit des Mauerfalls und mehr noch die Existenz der DDR verschwimmt immer mehr ins Ungefähre und Unwirkliche. Im verständlichen Einheitstaumel überwog die Freude über die Wiedervereinigung die wiedergewonnene Freiheit, und das ist richtig und menschlich. Allerdings wurde sehr vieles verdrängt und schöngefärbt.

Völlig ausgeblendet wurde die offensichtliche Tatsache, dass eine Bevölkerung aus einer brutalen Gewaltherrschaft entlassen wurde und sich viele Leute nicht klarmachen, dass dies seelische Deformationen nach sich zieht.

Hinzu kam die völlige Abwesenheit einer Demokratieerfahrung, demokratischer Strukturen und einer Zivilgesellschaft. Weder wurde in der DDR das Dritte Reich aufgearbeitet noch die eigene Gewaltherrschaft reflektiert. Das autoritäre, gewalttätige Denken wurde im Prinzip seit dem Kaiserreich konserviert.

Ivo Bozic von der „Jungle World“ charakterisiert es sehr treffend, wenn er sagt: „Die DDR war alles andere als ein linkes Projekt, sondern im Grunde der Staat, den sich die Rechtspopulisten und Neonazis von heute wünschen würden, nämlich ausländerfrei, autoritär, antiamerikanisch und antizionistisch.“

Dies zeigt sich nur beispielhaft daran, dass die DDR-Führung weder Skrupel noch Berührungsängste hatte, alle Feinde der Bundesrepublik zu unterstützen: von der RAF über die Bewegung 2. Juni bis zu Neonazis. Ich kann nur den sehr interessanten Arte-Dokumentarfilm über den Rechtsterroristen Odfried Hepp empfehlen, der in die DDR floh und dort mit offenen Armen empfangen wurde (wie übrigens auch Udo Albrecht). Die Stasi hatte nämlich ein besonderes Faible für diese sauberen, ordentlichen Jungen.

Stasi-Oberstleutnant Eberhard Böhnisch, Odfried Hepps Führungsoffizier schwärmt in der Dokumentation überschwänglich von seinem Schützling bei 01:03:00: „Also, ordentlicher Haarschnitt, gepflegtes Auftreten, nicht Punks und wie sie alle hießen, damals. Das wollte er nicht. Also, deutschnational, dieser gute, deutsche Grundzug, den hat er gezeigt, und da war ich nicht abgeneigt, wenn er den durchsetzt und umsetzt“.

Der ostdeutsche Psychologe Hans-Joachim Maaz spricht in seinem sehr interessanten Buch von einem „Gefühlsstau“ (ebenfalls äußerst lesenswert). Ich würde zusätzlich noch von einem Aggressionsstau reden, der sich nach Jahrzehnten des Buckelns und Runterschluckens unversehens Bahn brach.

Das Resultat war eine autoritär eingestellte Bevölkerung. Gedemütigt und rachedurstig und zu unfassbarer Gewalt bereit.

Dazu eine Naziszene, die schon zu DDR-Zeiten von der Staatsmacht insgeheim wohlwollend betrachtet wurde, die ihren Hass, ihren Frust und ihre Knastpsychose dadurch auslebte, dass sie „Zecken“, „Fidschis“ und „Mozzis“ (Mozambikaner) „aufklatschte“. Aufklatschen heißt nicht ein paar Backpfeifen verteilen, sondern mit Baseballschlägern und Stahlkappenstiefeln ins Koma prügeln.

Als wirklich wichtiges Dokument lege ich dem Leser den Artikel der Bürgerrechtlerin Freya Klier in der Welt vom 22.11.2011 ans Herz. Ich zitiere ihn hier auszugsweise, aber der Artikel ist in seiner Gesamtheit schockierend und bestürzend:

„Wir stehen vor einem Scherbenhaufen“, schrieb ich 1990, „und haben Bilanz zu ziehen, die Bilanz einer unglaubwürdigen Gesellschaft. Im Jahr 1990 herrscht in den Städten der zerfallenden DDR ein Klima offener Gewalt.“ Kurz zuvor musste ich aus einem leeren S-Bahn-Abteil in Richtung Fahrerhäuschen fliehen, weil mich ein Pulk mit Springerstiefeln und Bomberjacken aufgrund meiner dunklen Haare als „Judenfotze“ ausgemacht hatte. In Sicherheit wähnte ich mich erst, als ich West-Berliner Gebiet erreichte. Niemals hätte ich von einem Ost-Berliner Polizisten erwartet, geschützt zu werden.

Die Politik der herrschenden Sozialisten war der Dünger für Ressentiments gegenüber allem, was von der Norm abwich. So trübten nie Obdachlose das graue Straßenbild der DDR – wer nicht zu arbeiten gedachte, fand sich als Asozialer hinter Gittern wieder, wo er zur Arbeit gezwungen wurde, für einen Sklavenlohn. Für Behinderte gab es keine Schrägen, Integrationsschulen waren ein Fremdwort.

Schon unmittelbar nach dem Mauerfall sah ich, wie die verantwortlichen sozialistischen Genossen das ganze Thema dem „Westen“, der „BRD“, dem „Kapitalismus“ unterzujubeln begannen. Ihre Propagandamaschine rotierte über die Jahre so massiv, dass heute ein Satz wie der von den „nach dem Mauerfall entwurzelten Jugendlichen“ ebenso gesamtdeutscher Standard ist wie der von den tollen Kindergärten in der DDR. Gelernt ist gelernt. Gleichzeitig mutierten die Genossen selbst von der SED zur PDS und dann zur honigsüßen Partei Die Linke.

Wie viele Jahrzehnte halten und reproduzieren sich tief verinnerlichte Verhaltensmuster? Das Unbehagen von DDR-Bürgern galt ja jedem Abweichen von der Norm, grellen Haarfarben von Punkern ebenso wie „Negern“ oder „Fidschis“, Körperbehinderten oder auch nur Menschen mit einem ungewöhnlichen Hut auf dem Kopf. 1993 war ich in Berlin-Köpenick auf einer Bürgerversammlung, auf der den Bewohnern einer Eigenheimsiedlung rund ums Wendenschloss mitgeteilt wurde, es werde demnächst in ihrer Nähe ein Aufnahmeheim für bosnische Kriegsflüchtlinge entstehen.

Damals kannten die Ex-DDRler politische Korrektheit noch nicht, und so schlug dem Sozialstadtrat schon bei der Ankündigung der Hass von 300 Köpenickern entgegen. Wüst schrie zunächst alles durcheinander, dann setzte sich eine lautstarke Stimme durch: Den Menschen in den neuen Bundesländern ginge es schon schlecht genug. Man lehne es ab, diese „Schweine“ – gemeint waren die Flüchtlinge – überhaupt hereinzulassen. In Brandenburg hat zwei Jahre später ein halbes Dorf gesammelt, um einen Jugendlichen zu bestärken, ein ausgebautes Asylbewerberheim abzufackeln. Der Kommentar eines Anwohners: „Besser vorher, als wenn die Menschen schon drin gewesen wären.“ Wie lange hält so etwas vor?

Das waren die gesellschaftlichen Begebenheiten, ohne die – meiner Meinung nach – Strukturen wie der „Nationalsozialistische Untergrund“ nicht entstehen und existieren konnten.

Das Fazit lautet daher auch trotz des permanenten Whataboutism der Ostdeutschen: die breiteste und am stärksten verwurzelte Neonaziszene gibt es nun mal in den ostdeutschen Bundesländern.

Das ist ein Fakt, dem man einfach ins Gesicht blicken sollte.

Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass Uwe Böhnhardt schon in frühen Jugendjahren als Kleinkrimineller und Schläger im Knast war, der Autos klaute und mit gestohlenen Sachen hehlte. Soviel zur angeblichen moralischen und rassischen Überlegenheit der weißen Herrenmenschen.

Die Pannen von Verfassungsschutz und Polizei

Die Fakten der Mordserie sind ja weitgehend bekannt, weshalb ich sie hier nicht in Gänze wiedergebe, was jedoch nicht als Respektlosigkeit den Opfern gegenüber oder eine Missachtung ihrer Würde und ihres Schmerzes aufgefasst werden soll. Thema dieses Artikels ist das Buch „Heimatschutz“, bei dem ich mich auf einzelne Aspekte beschränken will.

Und dies sind die Fragen, die auch heute noch immer nicht beantwortet sind:

Wie konnte das Trio unter den Augen der Polizei untertauchen?

Warum konnten sie so lange unerkannt im Untergrund überleben?

Bestand der NSU tatsächlich nur aus drei Personen?

Was wussten die zahlreichen V-Leute aus ihrem Umfeld?

Warum haben die Behörden sie nicht aufspüren können? Hat der Verfassungsschutz die drei möglicherweise sogar unterstützt?

Warum konnte die Polizei die Mordserie nicht aufklären?

Breiten Raum nimmt in dem Buch die Arbeit des Verfassungsschutzes ein, und das ist trotz der trockenen Materie sehr aufschlussreich und auch wichtig. Denn die Aufgaben und Aktivitäten eines Inlandsgeheimdienstes stellt einen demokratischen Rechtsstaat vor die immer gleichen Probleme, egal wo auf der Welt.

Der Inlandsgeheimdienst soll „Lagebilder“ entwerfen und prognostizieren, aus welcher Richtung der Staat und seine Institutionen bedroht oder gefährdet werden können. Dabei muss er auf vielfältige Weise Informationen sammeln und dabei die Grundrechte der Bürger und die rechtsstaatlichen Grenzen achten, die ihm gesetzt wurden. Ein schwieriges Unterfangen, das Inlandsgeheimdienste in allen Demokratien vor unlösbare Probleme stellt, wenn er verwertbare Ergebnisse vorzeigen will.

Die Bundesrepublik hat allerdings noch zwei wichtige Besonderheiten: Es gibt nicht nur einen Inlandsgeheimdienst, sondern derer gleich siebzehn (!), nämlich sechzehn Landesämter für Verfassungsschutz (genauer gesagt gibt es sechs Landesämter und in den restlichen Bundesländern sind es Abteilungen in den Innenministerien) und das Bundesamt. Dann mischt noch der Militärische Abschirmdienst der Bundeswehr mit und um die Verwirrung komplett zu machen können auch die Landeskriminalämter V-Leute anwerben, um kriminelle Szenerien aufzuklären.

Das Resultat ist jedenfalls ein riesiger Zuständigkeits-Brainfuck.

Hinzu kommt die weitere deutsche Besonderheit, nämlich das Trennungsgebot .

Aus gegebenen historischen Gründen müssen Aufgaben und Kompetenzen von Polizei und Geheimdiensten strikt getrennt sein. Auch dies ist nicht immer durchhaltbar, jedenfalls aber verkompliziert das natürlich die Aufgabenwahrnehmung und die Arbeit. (In Frankreich zum Beispiel haben die Agenten des Inlandsgeheimdienstes DGSI ganz selbstverständlich den Status von Polizeibeamten)

Wichtig ist es, sich die Arbeit des Verfassungsschutzes klarzumachen, der ja keine polizeilichen Aufgaben wahrnehmen darf (die Beamten dürfen im Einsatz auch keine Waffe tragen). Seine Aufgabe besteht darin, sicherheitsrelevante Informationen zu beschaffen und zu analysieren.

Wichtigstes Mittel ist hier natürlich die „human intelligence“, d.h. Personen, die zu der aufzuklärenden Szene gehören und Informationen aus erster Hand geben können. Man nennt sie „Vetrauenspersonen“. V-Leute. Sie verraten ihre Freunde und Gesinnungsgenossen und bekommen dafür Geld. Der Verfassungsschutz bekommt im Gegenzug Informationen und kann sich ein Bild von der potentiellen Bedrohung machen. So soll es in der Theorie laufen. Dass V-Leute lügen und ihre eigenen Interessen verfolgen, ist ein Sonderproblem, das auch beim NSU seine eigene Bedeutung hat.

Es erfordert einen langen Atem, viel Zeit, Geduld und Ressourcen, um einen V-Mann aufzubauen, sein Vertrauen zu erwerben und festzustellen, ob er wertige Informationen liefern kann.

Interessanterweise – wie ich auch persönlich aus dem Mund eines Richters am Staatsschutzsenat beim OLG Frankfurt erfahren habe – ist es nahezu unmöglich Quellen bei Linksextremisten zu werben. (Diese Szene kann nur durch verdeckte Ermittler, also Polizeibeamte, aufgeklärt werden, doch: that’s a story for another day.)

Die Werbung vom V-Leuten bei Rechtsextremisten ist zwar kein wirklicher Selbstläufer aber dennoch im Vergleich zu anderen gefährlichen Gruppierungen möglich. Die Neonazis, die der Bundesrepublik Deutschland Hass und Untergang an den Hals wünschen, haben paradoxerweise nichts dagegen einzuwenden, ihre Kameraden zu verraten und dafür Geld vom verhassten Staat anzunehmen.

Schon kurz nach dem Selbstmord von Mundlos und Böhnhardt und dem Auffliegen des NSU und noch mehr zum Zeitpunkt des Prozesses in München gab es scharfe Kritik an der Behördenarbeit. Teils wurde dem Verfassungsschutz vorgeworfen, die Täter und Neonazis geschützt zu haben. Das ist nicht völlig von der Hand zu weisen, wenn man sich die Arbeitsweise des Verfassungsschutzes klarmacht. Dann erkennt man nämlich, wo das Interesse des Verfassungsschutzes liegt. Er wird natürlich versuchen, seine Quelle nach den ganzen Mühen der Anwerbung und vor allem wenn die Quelle wertige Informationen liefert, sie möglichst intensiv und lange zu nutzen und sie zu schützen, damit sie weiter liefert.

Rechtsstaatlich äußerst heikel wird es, wenn die Quelle kriminell agiert und Straftaten begeht.

Das bringt den Verfassungsschutz nämlich in eine konträre Position zum Rechtsstaat und auch zur Polizei. Diese will nämlich Verbrecher jagen, identifizieren und zur Rechenschaft ziehen. Es gibt also zwei komplett gegensätzliche Interessenlagen, die sich nicht auflösen lassen und die es so in jeder westlichen Demokratie gibt. Es ist die große Frage, deren Beantwortung schwierig ist: wie weit will, kann, darf der Staat gehen, um sich zu schützen und seine Interessen zu vertreten?

Die V-Mann-Führer stehen dann vor einer schwierigen Abwägungsentscheidung: entweder die Quelle wegen Unzuverlässigkeit abschalten mit der Konsequenz, dann von Informationen aus der Szene abgeschnitten zu sein oder aber den V-Mann zähneknirschend weiter agieren lassen, auch wenn er zunehmend größenwahnsinnig und unkontrollierbar agiert.

Die Autoren von „Heimatschutz“ bringen es treffend auf den Punkt:

„Als Ende Mai 1993 fünf Menschen in einem Solinger Wohnhaus bei einem Anschlag verbrannten, verstärkte das BfV seine Bemühungen noch einmal und warb gezielt Informanten in der militanten rechten Szene an. Man wollte herausfinden, ob aus der spontanen Gewalt organisierte Terroranschläge werden würden. Doch in der brutalen rechten Szene muss ein Informant, der mitbekommen soll, was geplant wird, selbst gewalttätig sein, so die Logik der Verfassungsschutzbehörden, und folgerichtig rekrutierte man junge Männer, die Obdachlosen den Schädel eingetreten, Asylbewerberheime angesteckt oder sich bereits einer Gruppe wie den „Nationalen Einsatzkommandos“ angeschlossen hatten. Man wollte Informanten, die an der Quelle saßen – und man bekam sie.“

Es sollte auch nicht unerwähnt bleiben, dass die Rekrutierungspraxis der Landesämter für Verfassungsschutz mit obskur noch freundlich umschrieben werden kann.

Angefangen bei der Behördenspitze. Im Jahr 1994 bekam das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz – aus diesem Bundesland stammte das Rechtsterroristentrio – einen neuen Präsidenten, Helmut Roewer. In seinem Wikipedia-Eintrag heißt es unter dem Verweis auf Quellen: „Seine Amtsführung galt als exzentrisch. So trat er z. B. bei einer öffentlichen Veranstaltung im Rahmen des Programms von Weimar als Kulturhauptstadt Europas im Ludendorff-Kostüm mit Pickelhaube (im Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss behauptete Roewer, er habe damit den General Max Hoffmann, Ludendorffs Kritiker, darstellen wollen, ein andermal als Walther Rathenau kostümiert auf.“ Daneben wird kolportiert er würde mit einem Fahrrad durch die Gänge seiner Behörde fahren und barfuß umherlaufen.

Nichts wirklich Untragbares, aber doch für den Leiter einer wichtigen Behörde ein ziemlich absonderliches Verhalten.

Sein Nachfolger ist Stephan Kramer, der ebenfalls einen illustren Werdegang hat. Er ist Jurist, Sozialpädagoge, Bundeswehroffizier und war nach einer Konversion zum Judentum Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, bevor er Präsident des Thüringer LfV wurde.

Ich glaube, dass er eine interessante Persönlichkeit und mit Sicherheit ein kluger Kopf ist, aber ob er das richtige Profil hat, um den Staat vor den Aktivitäten feindlicher Geheimdienste und die Gesellschaft vor Extremisten zu schützen, betrachte ich doch mit leiser Skepsis.

Eine der wichtigsten Lehren aus dem NSU-Fiasko wäre aus meiner Sicht, die Rekrutierungs- und Ausbildungspraxis beim Verfassungsschutz genau unter die Lupe zu nehmen und hohe professionelle Standards einzuführen.

Ein gesondertes, noch immer nicht aufgearbeitetes Kapitel ist die massive Aktenvernichtung nach der Aufdeckung der Mordserie in den Verfassungsschutzämtern. Offenbar wollten die Ämter ihr Versagen kaschieren, dass sie trotz zahlreicher V-Leute im Umfeld des Terrortrio dieses und die wahrscheinlichen bislang unbekannten Mittäter nicht haben stoppen können.

Doch auch die Polizei hat eine alles andere als gute Figur gemacht.

Sehr bald nach Beginn der Mordserie stellte sich heraus, dass immer dieselbe Waffe verwendet wurde, nämlich eine Česká ČZ 83 mit Schalldämpfer.

Die Polizeiermittler in den verschiedenen Bundesländern registrierten dies und auch die Tatsache, dass es sich bei den Opfern immer um türkischstämmige (später kam noch ein griechischstämmiger hinzu) Kleingewerbetreibende handelte.

Noch nach dem 7. Mord in der im Jahr 2007 Serie war die einzige Arbeitshypothese, dass es sich um Rache- oder Disziplinierungstaten aus dem Bereich der organisierten internationalen (lies: türkischen) Rauschgiftkriminalität handeln müsse. Die Ermittler nannten die Sonderkommission sinnigerweise „BAO Bosporus“.

Die Arbeitsteilung, wonach die örtliche Zuständige LKAs ermitteln und den „Rest“ das BKA machen sollte, funktionierte vorne und hinten nicht.

Das Privatleben der Opfer wurde auf den Kopf gestellt wieder herumgedreht und wieder auf den Kopf gestellt, ohne dass auch nur ein Hinweis auf Verbindungen zum Drogenmilieu festgestellt werden konnten. Einige Opfer waren allerdings mit dem Gesetz in Konflikt geraten.

Obwohl es keine objektiven Ansatzpunkte für diese Theorie gab und obwohl an mehreren Tatorten Zeugen unabhängig voneinander zwei athletische, glatzköpfige junge Männer auf Fahrrädern wahrgenommen hatten, ließen die Ermittler nicht hiervon ab. Den Polizeiprotokollen ist zu entnehmen, dass die Ermittler mehrfach nachfragten, so als ob es nicht in ihr Konzept passte, ob die beobachteten Männer tatsächlich „mitteleuropäisch“ und nicht „südländisch“ aussahen.

Sehr verständlich führte das in der türkischen Community zu großer Erbitterung.

Der erste, der ein fremdenfeindliches Motiv erkannte, war ein Ermittler von der OFA Bayern, Alexander Horn, der auch manchmal im Fernsehen zu sehen ist. Er war es auch, der den sogenannten Schwarzen Mann enttarnt hat.

Er erstellte auch eine präzise psychologische und geographische Fallanalyse und hat die Täter verblüffend gut beschrieben und verortet. Der einzige Punkt, bei dem er falsch lag, war seine Einschätzung, wonach die Täter aus Nürnberg oder Umgebung stammen müssten, weil dort die meisten Taten begangen wurden.

Dies kann aber nach neuesten Entwicklungen auch ganz anders sein. Siehe unten.

Auch die Politik hat hier schwere Fehler gemacht, weil es nicht für opportun gehalten wurde, dass rechtsterroristische Attentate in Deutschland stattfinden können.

Bei dem Anschlag mit einer Nagelbombe in der Keupstraße Köln 2004, der dem NSU zugerechnet wird, gab es eine direkte Anweisung aus dem SPD-geführten Innenministerium, den Anschlag in den dienstlichen Meldungen nicht als terroristisch zu bezeichnen.

Es gab – man kann es deutlich so ausdrücken – eine politisch – und vor allem parteiübergreifend – gewollte kriminalistische Blindheit.

Gab es nun eine bewusste Kollusion zwischen den Diensten und den Terroristen? Vorbehaltlich des Auftauchens neuer Tatsachen, glaube ich, nein.

In einer Abwandlung von Hanlons Rasiermesser könnte man sagen: Man soll nicht einer Verschwörung zuschreiben, was man auch mit Dummheit oder Unfähigkeit erklären kann.

Ich glaube, dass es bei dem oben geschilderten Zuständigkeitschaos, bei dem mehrere unterschiedliche Behörden (BfV, Verfassungsschutzämter mehrerer Bundesländer, verschiedene Staatsschutzabteilungen und BKA) involviert sind, zwangsläufig irgendwann zu Informationsverlusten und Pannen kommt. Vor allem wenn einzelne Behörden ihre Quellen eifersüchtig hüten.

Neben Feigheit und dem Unwillen Verantwortung zu übernehmen sehe ich hier eher Unfähigkeit und Amateurismus, der hinterher auf schlampigste Weise vertuscht werden sollte. Auch wenn ich nicht ausschließen will, dass einzelne Beamte vielleicht doch ein wenig blind auf dem rechten Auge sein könnten. Eine großangelegte Verschwörung ist bei der Anzahl der beteiligten Personen eher unwahrscheinlich.

Der Verfassungsschützer im Callshop

Sehr spannend wird das Buch im letzten Viertel, wo die beiden sehr mysteriösen Morde beschrieben werden, nach denen die Mordserie abrupt abreißt.

Es sind die beiden Morde, bei denen die Täter bei ihrer Tatausführung komplett von der vorigen Begehungsweise in der Serie abwichen. Heute fragen sich manche Personen, ob wirklich Mundlos und Böhnhardt die Täter gewesen sind.

Zum ersten Mal töteten der oder die Täter an einem Ort, an dem sich das Opfer nicht allein aufhielt, sondern noch andere Personen zugegen waren.

Aber der Mord an Halit Yozgat im Internetcafé in Kassel ist noch aus einem anderen Grund völlig spektakulär.

Während der Tatbegehung war nämlich ein Verfassungsschützer in den Räumlichkeiten, Während vorne der Geschäftsinhaber erschossen wurde, chattete der Verfassungsschützer Andreas Temme auf einer Datingseite als „wildman70“ mit einer (angeblichen) Frau mit dem Pseudonym „tanymany“.

Kurz nach dem Mord, etwa 40 Sekunden danach, verließ Andreas Temme das Internetcafé. Er gab an, weder von dem Mord etwas mitbekommen zu haben noch die Leiche beim Verlassen des Internetcafés gesehen zu haben. Beim Bezahlen will er die Blutstropfen auf dem Tresen nicht wahrgenommen haben.

In der Doku „Der NSU-Komplex“ kommt der bereits oben erwähnte Profiler Alexander Horn zur Sprache.

Er ist ein vornehmer und kontrollierter Beamter, der mit feinem Lächeln diplomatisch hierzu anmerkt. (01 h 08 min): „Ich war selbst auch an diesem Tatort, stand auch an ähnlicher Stelle und die Leute nehmen unterschiedlich wahr. Ich glaube, ich hätte diese Person wahrgenommen, dort, wo ich stand.“

Dabei hatten andere anwesende Personen, die Computer spielten oder telefonierten einen Knall, wie von einem platzenden Luftballon, auch wenn sie sie auf Anhieb nicht als Schussgeräusche identifizierten, gehört sowie ein dumpfes Geräusch, wie wenn ein schwerer Gegenstand hinfällt.

Nach der breiten Berichterstattung zum neunten Česká-Mord meldete er sich nicht. Als einziger der Gäste des Callshops. Auf die Spur kamen ihm die Ermittler, als sie die bei seinem Profil auf der Datingplattform hinterlegte Handynummer überprüften. Es war eine Nummer, die einem dienstlichen Mobiltelefon zugeordnet war, und zwar dem Innenministerium. Andreas Temme wurde festgenommen und stand eine Zeit lang unter Mordverdacht.

Es konnte geklärt werden, dass er für die anderen Taten ein Alibi hatte. Sehr mysteriös ist allerdings, dass er kurz vor dem Besuch im Internetcafé ein elfminütiges Telefonat mit einem seiner Informanten aus der rechten Szene hatte. Danach machte er sich auf den Weg zum Callshop. Temme gab später an, sich an den Inhalt des relativ langen Telefongesprächs nicht mehr erinnern zu können.

Noch mysteriöser wird es, als die Mordermittler, die seine Telefone überwachten, ein Gespräch mitschneiden, in welchem ihm sein Vorgesetzter Mut zuspricht, ihn aber auch mit dem Satz kritisiert: „Ich sach ja jedem, wenn er weiß, dass irgendwo so was passiert: Bitte nicht vorbeifahren!“

Was soll das bedeuten? Und was ist davon zu halten? Wusste Temme von seinem Informanten, dass die Mörder des NSU zuschlagen würden? Und hat er sich an dem Ort postiert? Warum?

Die Ermittlungen gegen Andreas Temme in dem Mordfall wurden eingestellt. Offiziell hat er also mit dem Mord nichts zu tun. Beim Verfassungsschutz kam für ihn das Karriere-Game-Over. Er wurde an das Regierungspräsidium Kassel versetzt. Auch das wird noch seine eigene Bedeutung haben.

Einige Zeit später hat Andreas Temme gemeinsam mit seiner Frau dem Magazin „Panorama“ ein ziemlich surrealistisches Interview gegeben:

Das Video war bis vor kurzem noch bei Youtube zu finden und wurde dann gelöscht. Den bescheuerten Titel bei Dailymotion habe nicht ich vergeben, sondern vermutlich seine Unterstützer.

Die tote Polizistin und das Phantom von Heilbronn

Man kann mit gutem Recht in Frage stellen, ob der Mord an Michèle Kiesewetter strenggenommen zu der Serie gezählt werden kann.

So gut wie alles ist anders, als bei den anderen Taten. Angefangen von der Opferauswahl bis zur Tatausführung. Die einzige Verbindung zur Mordserie, sind die Dienstwaffen der beiden Polizisten, die in dem ausgebrannten Camper gefunden wurden. Alles ist hier rätselhaft.

Der oder die Täter haben keinen Mann mit Migrationshintergrund erschossen, sondern eine junge Polizistin, die aus Thüringen stammte.

Ohne das Leid der übrigen Opfer und ihrer Hinterbliebenen zu verkennen oder schmälern zu wollen: das Motiv, das die Täter zu der Tat trieb war offensichtlich und sie haben sich hierzu auch offen bekannt: so banal wie abscheulich: Hass. Ausländerhass. Bei Michèle Kiesewetter ist das Motiv bis heute unklar.

Die 22-jährige Polizeibeamtin kam aus Oberweißbach in Thüringen. Sie gehörte der Bereitschaftspolizei in Böblingen an und dort der sogenannten Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) 523 an. Sie war nicht nur bei Fußballspielen und Demonstrationen eingesetzt, wo sie teilweise im Block der Gegendemonstranten als sog. Nicht öffentlich ermittelnde Polizeibeamtin (NoeP) eingesetzt war, sondern auch bei Observationen und bei Drogendeals. Für eine junge Polizeibeamtin relativ abwechslungsreiche, aber auch sehr verantwortungsvolle und nicht gerade ungefährliche Einsätze.

Am 25. April 2007 gegen 14 Uhr parken Michèle Kiesewetter und ihr Kollege Martin Arnold den Dienst-BMW auf der Theresienwiese in Heilbronn. Sie machen Mittagspause. Sie wurden am Vormittag mit anderen Kollegen als Unterstützung nach Heilbronn beordert. Über den Grund des Einsatzes und der gewünschten Unterstützung geben die Einsatzleiter und Kollegen im Nachhinein unklare und widersprüchliche Erklärungen ab.

Kurz nach 14 Uhr werden Kiesewetter und ihr Kollege leblos in ihrem Dienstwagen gefunden. Zwei Täter haben ihnen mit unterschiedlichen Waffen seitlich in den Kopf geschossen. Die Täter haben nach der Tatbegehung die Dienstwaffen und weitere Ausrüstungsgegenstände der Polizisten entwendet. Kiesewetters Kollege überlebte, hat aber keine Erinnerung an den Vorfall.

Die beiden Dienstwaffen wurden vier Jahre später, im November 2011, in dem ausgebrannten Wohnmobil in Eisenach gefunden, das Böhnhardt und Mundlos nach ihrer Enttarnung vor ihrem Selbstmord in Brand gesetzt hatten. Kiesewetters Pistole lag im Essbereich des Campers auf dem Tisch mit einem verbrannten Latexhandschuh verschmort. Die Pistole ihres Kollegen lag unversehrt und durchgeladen in der Nasszelle des Campers.

Weitere Ausrüstungsgegenstände befanden sich in der Wohnung in der Frühlingsstraße in Zwickau, die von Zschäpe in Brand gesetzt wurde. Kiesewetters Reizgassprühdose lag im Gang auf dem Boden, ihre Handschellen in einem Tresor.

Die Ermittlungen zu dem Polizistenmord werden von Beginn an schlampig und erratisch geführt, so dass bis heute viele wichtige Fragen nicht beantwortet werden konnten.

Etwa die Frage nach dem Umstand, dass einer der Einsatzleiter kurzzeitig Mitglied des Ku-Klux-Klan-Ablegers von Baden-Württemberg war. Und auch Michèle Kiesewetters Umfeld und die Relevanz ihres Herkunftsortes in unmittelbarer Nähe von Saalfeld, Gründungszentrum des „Thüringer Heimatschutzes“, konnten nicht wirklich aufgeklärt werden.

Leider ist schlechte Polizeiarbeit in Baden-Württemberg, Land der selbsternannten „Schaffer“ und „Pedanten“ keine Seltenheit.

Man nehme die eklatanten Pannen bei dem bis heute nicht aufgeklärten Fall Maria Bögerl oder die handfesten Justizskandale um Harry Wörz und Jörg Kachelmann.

Das i-Tüpfelchen war die Posse um das „Phantom von Heilbronn“. An zahlreichen Tatorten wurde die DNA einer unbekannten Frau gefunden. Es waren unterschiedlichste Taten: Einbrüche in Gartenhäuser, aber auch Raub und Tötungsdelikte, unter anderem auch bei dem Polizistenmord an Michèle Kiesewetter. Die Tatorte lagen teils in Deutschland, teils in Österreich und Frankreich. Die Ermittler standen vor einem Rätsel. Was für eine Art Frau begeht Tötungsdelikte in halb Europa und bricht dann Gartenhäuser auf? Lange tappten die Ermittler im Dunkeln. Wertvolle Zeit verstrich. Aktenzeichen XY wurde um Hilfe gebeten. Bis irgendwann die schon von einigen Warnern ins Spiel gebrachte Theorie endlich Gehör fand und bestätig wurde: die für den DNA-Abstrich benutzten Wattestäbchen waren in der Fabrik von einer Arbeiterin verunreinigt worden.

Im Buch werden die wichtigsten Fragen gestellt, die bis heute ohne Antwort geblieben sind:

„Hatten die beiden Schützen wirklich keine Hilfe? Warum verhalten sich die Böblinger Polizisten so merkwürdig? Kann die enge Beziehung des Umfelds von Michèle Kiesewetter – Onkel Mike, Anja, deren Mann – zu Thüringer Neonazis ein reiner Zufall sein? Wenn diese Verbindungen tatsächlich ein Zufall waren: Wie konnten die Mörder schon um 13 Uhr 55 schon in Position sein, um dann nur Minuten später zuschlagen zu können? Hatten sie – aus ihrer Sicht – einfach nur unglaubliches Glück? Haben sie also seit dem 16. April neun Tage in der Gegend herumgelungert, um irgendwelche Polizisten zu ermorden und haben dann ausgerechnet Kiesewetter, die junge Frau aus dem Herzland des „Heimatschutzes“, an dem einzigen Tag, an dem sie zwischen dem 20. und dem 25. April im Einsatz war, erwischt? Warum wurde nicht die Česká benutzt? Warum wurden die Opfer entwaffnet? Und warum interessiert sich die verantwortliche Regierung in Baden-Württemberg nicht für diese Fragen und legt stattdessen einen Bericht vor, der 361 Seiten lang ist, aber nur zwei Worte gebraucht hätte: alles Zufälle. Mit dem Ablauf des Einsatzes setzt sich der Bericht nicht auseinander, nirgendwo fällt das Wort „BFE 523“. Die schmerzhafteste Frage ist unverändert und nicht abschließend beantwortet: Konnte wirklich niemand wissen, dass Kiesewetter gegen 14 Uhr mit Arnold an dem Pumpwerk stehen würde?“

Der Mord an Walter Lübcke

Eine neue Blickrichtung auf die Mordserie ergab sich mit dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten. Dieser wurde im Jahr 2019 von dem Kasseler Neonazi Stephan Ernst auf der Terrasse seines Wohnhauses erschossen, weil dieser nicht mit seinen Aussagen zur Flüchtlingspolitik einverstanden war.

Nach dem Mord geriet wieder in den Blickpunkt, dass es in Kassel eine verfestigte, gewaltbereite Neonaziszene gibt. Was natürlich Fragen zu Überschneidungen zum NSU aufwirft und zum Mordfall in dem Internetcafé von Halit Yozgat 2006.

Die Autoren von „Heimatschutz“ haben einen Rechtsanwalt beauftragt, der die die nicht gerade leichte Herausforderung auf sich genommen hat, gegen das Land Hessen auf Herausgabe von Unterlagen des Verfassungsschutzes zu klagen.

In seiner Klagebegründung stellt er eine interessante Frage in den Raum: War die Česká möglicherweise eine „Initiationswaffe“. D.h. hatte die Waffe die Funktion, dass gewaltbereite Neonazis mit ihr einen Mord begehen mussten, um in den „Nationalsozialistischen Untergrund“ aufgenommen zu werden?

Das könnte eine Erklärung sein, warum manche Taten von dem zu Beginn starren Muster abweichen. Das würde allerdings auch bedeuten, dass Böhnhardt und Mundlos nicht alle Morde begangen hätten. Und das würde bedeuten, dass der „Nationalsozialistische Untergrund“ sehr viel größer ist als gedacht.

Das Land Hessen hat die Akten zu den Vorgängen für 120 Jahre gesperrt, nach einer Klage dagegen, besteht immer noch eine Sperre für 30 Jahre. Interessant, was in dem biederen Bundesland mit seiner geräuschlosen Landespolitik so alles möglich ist.

Interessant: Walter Lübcke war als Regierungspräsident der Chef von Andreas Temme, der an das Regierungspräsidium versetzt worden war.

Siehe hierzu, FAZ vom 10.07.2022: Verfassungsschutz hatte Lübcke-Mörder „nicht auf dem Schirm“.

Offene Fragen

Es bleiben neben den oben geschilderten Fragen noch viele ungeklärte Komplexe.

Die Verfassungsschutzbehörden hatten im Umfeld des untergetauchten Terrortrios zahlreiche V-Leute. Aber waren sie wirklich untergetaucht? Hat der Verfassungsschutz sie trotz der V-Leute einfach nicht gesehen? Oder nicht sehen wollen?

Einer der V-Leute, Ralf Marschner, alias „Manole“ alias V-Mann „Primus“ betrieb ein Bauunternehmen. Mehrere Zeugen gaben an, Marschner hätte Uwe Mundlos als Bauarbeiter beschäftigt, der sich allerdings mit einem anderen Namen vorstellte.

Über das Bauunternehmen von Marschner wurden mindestens zweimal Fahrzeuge in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu Morden innerhalb der Serie gemietet.

Konnte das dem Verfassungsschutz tatsächlich entgehen, dass ein gesuchter Terrorist bei einem seiner V-Leute beschäftigt ist?

Hat der Verfassungsschutz durch die V-Leute das Terrortrio unbewusst unterstützt, ohne zu verstehen, wem sie da helfen?

Oder hat er aktiv beim Untertauchen und im Untergrund geholfen?

Die wichtigste Frage, bei der sich viele fragen, ob sie mit der Aktenschredderaktion zusammenhängen könnte ist allerdings eine, die die Republik aus den Angeln heben könnte: waren Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt Informanten des Verfassungsschutzes gewesen? Und haben sie unter den Augen des Geheimdienstes ihre Morde begangen?

Wir werden hoffentlich eines Tages Antworten auf diese Fragen bekommen.

Eine interessante Zufallsentdeckung machten Ermittler nach dem Anschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt von Anis Amri 2016. Der Islamist, der erst einen polnischen Lkw-Fahrer tötete, um mit dessen Lastwagen in den Weihnachtsmarkt fuhr, verwendete als Tatwaffe eine Erma, Modell EP 552, Kaliber .22. Eine identische Waffe mit ähnlicher Seriennummer wurde im Brandschutt in des Unterschlupfs in Zwickau gefunden. Zufall?

Wenn man sich vorstellt, dass der Verfassungsschutz mit ähnlichem Chaos und Dilettantismus Salafisten, Dschihadisten und ähnliches islamistisches Geschmeiß überwacht und führt, kann einem ganz anders werden.

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Ukraine: Gibt es eine Korrelation zwischen der Brutalität des Krieges und der russischen Gesellschaft?

Der Krieg in der Ukraine dauert nun schon über vier Monate an. Zwischenzeitlich wurden seitens Russlands, angesichts des erbitterten Widerstands der Ukrainer, taktische Anpassungen vorgenommen. Geblieben ist die mörderische Brutalität eines Konflikts und Kriegsverbrechen, die man in Europa in dieser Form nicht mehr für möglich gehalten hatte.

Anscheinend müssen wir, die Europäer, uns eingestehen, dass wir von der russischen Gesellschaft und der dort vorherrschenden Mentalität, die diese Brutalität hervorbringt, rein gar nichts wissen.

Ich hatte zwar meine eigenen Erlebnisse hier beschrieben, aber ich betone nochmals, dass ich nur notiert habe, was ich selbst erlebt habe und darüber hinaus weder Wissen noch Erfahrungen habe.

Deshalb interessiert mich umso mehr, was andere, die tiefere Einblicke haben, dazu zu sagen haben.

Ich musste an ein Interview mit dem Schriftsteller Viktor Jerofejew. der unlängst nach Deutschland geflohen ist, denken, das schon im Jahr 2004 (also vor fast 20 Jahren) im Spiegel erschienen ist. In seinen Aussagen scheint sich das heutige Unheil schon damals abzuzeichnen.

Folgende Passagen finde ich interessant:

SPIEGEL: In »Der gute Stalin« schreiben Sie, die Russen hätten stets an alles und jeden geglaubt, nur nicht an sich selbst. Ist das fehlende Bekenntnis zur Eigenverantwortung ein Teil des Problems?

Jerofejew: Ja, und das Böse kommt immer von außen. Unser größtes soziales Problem ist die Unproduktivität. Das größte mentale aber ist, dass der Russe Gründe für Misserfolg nie bei sich selbst sucht. Wir leben an der Schnittstelle zweier Zivilisationen, Asien und Europa. Und wir können uns nicht entscheiden zwischen der aufgeklärten Kultur europäischen Zuschnitts und der russischen Bauernkultur, die während des Kommunismus dominierte. Es war eine Kultur des Fatalismus und der Brutalität. Weil sie nach fast 80 Jahren an ihre Grenzen stieß, brach das System zusammen.

SPIEGEL: Und was kommt nun?

Jerofejew: Putin will jetzt beide Kulturen verbinden. Das kann nicht klappen.

SPIEGEL: Für den Westen ist frappierend, wie schnell die Stimmung der Aufbruchzeit vor gut zehn Jahren verflogen ist. Die Mehrheit der Bevölkerung begrüßt, dass die Liberalen, die 1990 die Hoffnungsträger Russlands waren, nach der Parlamentswahl im Dezember aus der Duma verschwunden sind. Auch die persönliche Freiheit steht Umfragen zufolge nicht mehr hoch im Kurs.

Jerofejew: Liberale Ideen hatten in Russland noch nie viele Anhänger. Was bei der Duma-Wahl passiert ist, sei sie nun manipuliert gewesen oder nicht, zeigt nur, was das Volk wirklich denkt. Die Liberalen sind bei uns unglaublich schwach.

Und weiter unten sagt er:

Jerofejew: Nochmals – Sie müssen Russland so nehmen, wie es ist. Fährt ein Westler in ein afrikanisches Dorf, respektiert er doch auch die Bräuche dieses Dorfes. Uns aber messt ihr mit eurer Elle – vielleicht, weil wir weiß aussehen und euch damit ähnlich. Äußerlich sind wir Weiße, sicher, aber im Inneren auch ein wenig schwarz oder von eher undefinierbarer Farbe. Ihr solltet aufhören, euch darüber zu wundern.

Das Interview ist in seiner Gesamtheit absolut lesenswert. Ein ferner Abglanz aus den Zeiten, als der Spiegel noch den Anspruch an guten Journalismus hatte.

Auf Welt-Online gibt es ein Interview mit den französischen Psychiater Marc Hayat, der die These aufstellt, dass Putin und das russische Volk eine symbiotische, narzisstische Beziehung eingegangen sind, wie eine Mutter zu ihrem Kind.

Ich muss gestehen, dass ich den Argumenten des Psychiaters nicht in Gänze folgen konnte, was einerseits an den verquasten Behauptungen aber möglicherweise auch an der schlechten Übersetzung aus dem Französischen liegen mag.

Ein weiterer interessanter Beitrag findet sich bei SPON. Verfasst wurde er von einer Kolumnistin, die unter dem Pseudonym „Juno Vai“ normalerweise eine etwas nervige Erziehungskolumne schreibt (wobei die Wortkombination „SPON“, „Kolumne“ und „nervig“ eigentlich ein Pleonasmus ist).

Diese Kolumne fand ich zur Abwechslung allerdings sehr interessant, weil sie sich nicht – wie auch die anderen SPON-Kolumnen üblicherweise – in apodiktischen Werturteilen ergeht, sondern persönliche Einblicke gibt. Die Kolumnistin schrieb in einer anderen Kolumne, sie sei russischstämmig, hier sagt sie nur, sie habe mehrere Jahre in Russland gelebt. Sei’s drum. Was sie über ihre eigenen Wahrnehmungen berichtet, finde ich als Erklärungsansatz ziemlich aufschlussreich:

Aber erklären mangelnde Bildung, das korrupte russische Bildungssystem und die Rekrutierung armer Provinzler die Gräuel von Butscha oder Irpin? Sicher nicht. Krieg ist Ausnahmezustand, Kampf ums Überleben, das Primat des Körperlichen. Wir machen uns etwas vor, wenn wir glauben, eine Seite, die gute Seite, könne einen »ordentlichen«, einen »rechtmäßigen« Krieg führen, der sich an die Genfer Konventionen hält und auf Gewaltexzesse verzichtet. Jeder Krieg bringt die Bestie in uns zum Vorschein. Er kann einen Blutrausch beim gestriegelten, stets folgsamen Deutschen Schäferhund triggern. Oder die Zwingertür des russischen Owtscharka öffnen, der ein Leben lang kurzgehalten und geschlagen wurde.

Es ist schwer zu ermessen, wie gewaltbereit eine Bevölkerung ist. Aber: In Russland wird Gewalt staatlich gefördert. Gewaltexzesse in Familien, durch Sicherheitskräfte, Militärs oder homophobe Banden werden selten adäquat geahndet – und oft noch nicht einmal zur Anzeige gebracht.

Mehr als 40 Gesetzentwürfe zur Bestrafung häuslicher Gewalt wurden in Russland bisher abgeschmettert – der politische Wille zur Sanktionierung solcher Verbrechen ist gleich null. »Er schlägt, also liebt er« ist die gängige Begründung für Partnerschaftsgewalt. Das staatliche Wegschauen und die herrschende Straffreiheit machen folternde Gefängniswärter ebenso möglich wie blutige Aufnahmerituale durch ältere Vorgesetzte in der Armee.

Ich glaube, Russen kennen mehr Alltagsgewalt. Die Menschen – umso mehr die in den Kasernen gedrillten Soldaten – haben sich an sie gewöhnt. Ich habe jahrelang in Russland gelebt und jede Menge entfesselter Schlägereien mitbekommen. Oft war Alkohol im Spiel, manchmal waren es reine Machtdemonstrationen.

Den interessantesten Beitrag fand ich in der französischen Zeitung „Le Monde“ darin legt der französische Professor François Galichet dar, dass die Grausamkeit und Brutalität der Kriegsführung ihren Ursprung in der nihilistischen Ideologie finden, die im Russland des 19. Jahrhunderts relativ verbreitet war und deren Elemente Eingang in die kommunistische Theorie fanden.

Man muss dem Verfasser nicht in allen Punkten zustimmen und ich selbst finde, dass die Herleitungen an manchen Stellen arg verkürzt sind. Dennoch finde ich die Gedankengänge bedenkenswert, und zwar so, dass ich mich entschlossen habe, den Artikel zu übersetzen.

Krieg in der Ukraine: Es gibt einen Zusammenhang zwischen der nihilistischen Ideologie, die Russland im 19. Jahrhundert geprägt hat, und der Art, Krieg zu führen.

Was in dem ukrainischen Konflikt am meisten frappiert, ist die von den Russen angewandte Strategie. Sie charakterisiert sich durch eine Absicht willkürlicher Vernichtung, einer systematischen und radikalen Zerstörung. Gewiss, alle Kriege führen dazu, dass dem Feind Schäden zugefügt werden, aber sie sind in den meisten Fällen an militärische Ziele gebunden, selbst wenn sie zu Kollateralschäden führen.

Im Fall der russischen Aggression hat man im Gegensatz dazu den Eindruck eines totalen Vernichtungsvorhabens des zu erobernden Staatsgebiets: Zivilisten und Soldaten, Menschen, Gebäude, Dinge.

Mariupol, Butscha und viele andere gemarterte Städte veranschaulichen auf tragische Weise diesen Willen. Wie man es schon vielfach betont hat, ist dies eine Strategie, die bereits in Tschetschenien und Syrien angewandt worden ist.

Normalerweise zielt der Eroberer darauf ab, sich die Ressourcen des angegriffenen Landes anzueignen, was ihn dazu bringt, es so gut wie möglich zu schonen, und das in seinem eigenen wohlverstandenen Interesse.

Hier hat man im Gegensatz das Gefühl, das der erwartete Gewinn überhaupt nicht zählt. Die Zerstörung ist kein Mittel, sondern ein Zweck an sich, und dies gilt sowohl für den Aggressor wie für den Angegriffenen.

Das nihilistische Denken als Kriegsprinzip

Die Russland durch den Krieg zugefügten Schäden (Auswirkungen der Sanktionen, Rückzug der ausländischen Investoren, NATO-Beitritt von bis dato neutralen Ländern, Verstärkung der europäischen Einheit und Verteidigung) sind bei weitem höher als der eventuelle Vorteil, der die Eroberung des Donbass darstellte.

Doch diese Schäden, so groß sie auch ein mögen, scheinen nicht zu zählen.

Wie ist eine derartige Handlung zu erklären? Ein Wort drängt sich angesichts des Schauspiels dieses Kriegs, der militärisch irrational, wirtschaftlich widersinnig und politisch katastrophal ist: Nihilismus. Wir wissen, dass dieses Konzept in Russland in den 1860er Jahren entstanden ist; man bringt es mit einer randständigen Oppositionsbewegung gegen das zaristische Regime in Verbindung, die schnell zugunsten der marxistisch-leninistischen Protestbewegung verschwunden ist, die in der Oktoberrevolution 1917 endete.

Diese Beschreibung ist jedoch falsch. Der Schriftsteller Iwan Turgenjew (1818 – 1883) definiert in „Väter und Söhne“ den Nihilisten als jemanden, „der nichts anerkennen will“, „der nichts respektiert“ und der sich „keiner Autorität beugt“. Der Philosoph und Schriftsteller Alexander Herzen (1812 – 1870) sieht in einem Artikel von 1869 in ihm „einen Geist kritischer Säuberung“; er verbindet das Phänomen des Nihilismus mit der russischen Mentalität als solcher: „Der Nihilismus ist die natürliche, legitime und historische Frucht der negativen Attitüde gegenüber dem Leben, das die russische Denkweise und die russische Kunst seit ihren ersten Schritten nach Peter dem Großen angenommen hatten.“ Er fügt hinzu: „Diese Verneinung muss schließlich in der Selbst-Verneinung enden.

Der Nihilismus in der Natur der russischen Seele

Diese Analyse wurde von Fjodor Dostojewski (1821 – 1881) aufgegriffen, der bezüglich der Russen schrieb: „Wir sind alle Nihilisten“. Der Philosoph Nikolai Berdjajew (1874 – 1948) bestätigte ein Jahrhundert später: der Nihilismus hatte seine Quellen in der russischen Seele und im Wesen seines proslawischen Glaubens. Er war „das photographische Negativ des russischen apokalyptischen Empfindens.“

Albert Camus (1913 – 1960) präzisiert in „Der Mensch in der Revolte“ (L’Homme révolté) die Umrisse hiervon. Er erblickt dort „das Gefühl, das man bereits bei Bakunin und den revolutionären Sozialisten von 1905 findet, nämlich dass Leiden regenerierend ist.“ Der Literaturkritiker Wissarion Bielinski (1811 – 1848), einer der Vertreter dieser Bewegung, behauptet, dass man die Realität zerstören muss, um zu beweisen, was man ist: „Die Verneinung ist mein Gott!“

Man verleiht ihm, schreibt Camus, „die Unnachgiebigkeit und die Leidenschaft des Glaubens“. Dies ist der Grund, „warum der Kampf gegen die Schöpfung ohne Gnade und ohne Moral sein wird; das einzige Heil liegt in der Vernichtung.“

Gemäß dem Polittheoretiker Michail Bakunin (1814 – 1876) ist „die Leidenschaft der Zerstörung eine schöpferische Leidenschaft.“ Sergej Netschajew (1847 – 1882), sein Genosse, hat „die Kohärenz des Nihilismus so weit getrieben, wie er konnte“: von nun an „wird die Gewalt gegen alle im Dienste einer abstrakten Idee angewandt“; die Führer der Revolution müssen nicht nur die Klassenfeinde zerstören, sondern auch ihre eigenen Parteigenossen, wenn sie von der vorgegebenen Linie abweichen.

Eine nicht rationale Entwicklung, die zu allen Opfern bereit ist

Bakunin hat ebenso viel wie Marx zur leninistischen Doktrin beigetragen – und in Konsequenz zur sowjetischen Ideologie, von der Putin durchdrungen ist. Ausgehend von dieser Abstammung, fährt der der Nihilismus fort, die gegenwärtigen Führer Russlands zu inspirieren.

Vom Nihilismus zum Kommunismus, und von ihm zum Panslawismus, der die Invasion in die Ukraine legitimiert – es ist dieselbe abstrakte Idee, die einen Willen zur „reinigenden“ Vernichtung rechtfertigt, die Mentalität, alles niederzureißen, der Apokalypse als politisches und religiöses Ideal, des Nichts, das zum Handlungsprinzip erklärt wird.

Das ist der Grund, warum man die nukleare Drohung nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte, die die russischen Führer in den Raum stellen. Zwischen der Vernichtung des Anderen und der universellen Vernichtung, die die eigene Vernichtung einschließt, besteht nur eine schmale Grenze. Der Nihilismus, schlussfolgert Camus, „der eng mit der Bewegung einer Religion im Niedergang verbunden ist, endet im Terrorismus.“ Bei allen Erben des Nihilismus „deckt sich ein Hang zum Opfer mit einer Anziehung zum Tod“, „der Mord setzt sich mit dem Selbstmord gleich.“

Was kann man gegen eine solche Ideologie unternehmen? Die Antwort ist nicht einfach zu geben. Man muss auf jeden Fall vermeiden, Putin und seine Schergen als rationale Eroberer zu sehen, die Gewinne und Verluste der Aggression kalkulieren, so wie Hitler. Es gibt eine Abstammungslinie zwischen der nihilistischen Ideologie, die Russland im 19. Jahrhundert geprägt hat und dieser Art und Weise, den Krieg zu führen. Wie jeder Glaube, ist sie zu allen Opfern bereit, das eigene eingeschlossen.

In diesem Sinne entspricht sie eher den Dschihadisten, mit dem sie die Handlungsweisen und die Geisteshaltung teilt. Der einzige Unterschied zwischen der einen und dem anderen ist ein Unterschied im Maßstab: der putinsche Terrorismus ist ein Staatsterrorismus, und zwar eines Staats, der über ein nukleares Arsenal verfügt, das geeignet ist, die Vernichtung der Menschheit herbeizuführen.

Nie zuvor war sie mit einer solchen Situation konfrontiert. In diesem Sinne ist der ukrainische Krieg ein absolutes Novum der Geschichte.

Eine weitere Schwäche des Textes liegt, finde ich, darin, dass – zumindest will ich Stand jetzt zugunsten von Putin davon ausgehen – der unmenschliche Vernichtungskrieg nicht von Beginn an so geplant war. Putin und Konsorten gingen ja davon aus, dass ihre Soldaten nach einem schnellen Blitzkrieg innerhalb von fünf Tagen in Kiew stehen. Das legen zumindest Uniformstücke von Paradeuniformen nahe, die in verlassenen Panzern nach den Kämpfen vor Kiew gefunden wurden.

Möglicherweise ist Putin hier in die eigentlich aus der Ökonomie bekannten Denkfalle der „sunk cost fallacy“ geraten (im Deutschen unter „Eskalierendes Commitment“ bekannt). Der Betroffene hat bereits so viel in eine bestimmte Investition gesteckt, dass er es nicht mehr aufgeben kann, mag er auch noch so horrende Verluste damit machen.

Hier bewahrheitet sich auch die alte Warnung, dass es sehr leicht ist, einen Krieg zu beginnen, jedoch sehr viel schwerer ihn zu beenden.

Um das Thema Nihilismus abzurunden noch den Beitrag von Fabian Nicolay in der Achse des Guten, der die Nihilisten heute bei den „Social Justice Warriors“ und Woken sieht, der aber meiner Meinung nach in seinen Ausführungen den Geist des Nihilismus nicht richtig trifft.

Update 08.08.2022: Lesenswert ist die sehr interessante Reportage des Journalisten Timofey Neshitov im aktuellen Spiegel: Wie viel Schuld trägt die russische Gesellschaft an Putins Kriegsverbrechen?

Auszug aus dem Gespräch mit Viktor Schenderowitsch, Schöpfer der satirischen Puppensendung „Kukly“: „In der Grundschule lasen wir eine Fabel über einen alten, sehschwachen Affen, der in Besitz mehrerer Brillen gelangt. Der Affe weiß nicht, wohin damit, er drückt sich eine Brille gegen die Stirn, steckt sie sich eine andere auf den Schwanz, dann schmeißt er sie auf den Boden.

»Wir Russen sind wie dieser Affe«, sagte Schenderowitsch. »Was der Affe mit der Brille tut, haben wir mit unserer Freiheit getan.«

Das Imperium des Bösen, wie Ronald Reagan die Sowjetunion genannt hatte, erschien den Russen damals auf einmal nicht mehr so böse. Auch war es nicht so tot, wie es schien. Es hatte in Russland nach sieben Jahrzehnten Diktatur keinen Schlussstrich gegeben, keine Prozesse gegen Henker und Propagandisten, keine Entlassung von Beamten. Schenderowitsch sagt, es sei wenig überraschend, dass der Homo sovieticus zurückkam. Dass er nichts gegen einen Angriffskrieg hatte.

Und später nichts gegen Putin.

Schenderowitsch vergleicht die sowjetische Mentalität mit der von Leibeigenen in Zarenrussland. Ihr Besitzer peitscht sie aus, schwängert ihre Töchter, aber sie sind stolz auf ihn, weil er mehr Land besitzt als andere Gutsbesitzer. »Das geht seit Jahrhunderten so. Die Sowjetunion war nur ein rotes Mäntelchen, darunter steckte der alte, haarige, stinkende Körper.«

Interessant auch dieser Ausschnitt aus dem Gespräch mit dem Anwalt Sergej Smirnow:

»Immer mehr Russen radikalisieren sich im Untergrund«, sagte er. Es sei schwer zu sagen, wie vernetzt sie seien, wozu das alles noch führen werde, aber dieser Grad der Verzweiflung sei neu.

Im März wurden auf dem Puschkin-Platz in Moskau zwei junge Männer aus dem sibirischen Omsk verhaftet, sie hatten Molotowcocktails dabei. Auf dem Weg ins Revier versuchten sie sich das Leben zu nehmen. Dafür hatten sie vorsorglich Methadon eingepackt.

Im Mai setzte ein Mann mit Anzug und Krawatte einen Gefängnistransporter vor dem Bolschoi-Theater in Brand. Der Mann hat einen Abschluss in Philosophie und drei Kinder.

Landesweit haben Russen seit Kriegsbeginn fast 30 Amtsgebäude des Militärs angezündet.

Addendum Januar 2023; aus dem Tagebuch des Schriftstellers Juri Durkot auf Welt Online, Tagebucheintrag vom 15. Dezember 2022:

(…)

Aber der Hass gegen den Westen ist anderer Natur. Seit Jahrhunderten existiert in der russischen Gesellschaft – zumindest in großen Teilen davon – die Tendenz, sich nicht nur als Gegensatz zur westlichen Welt zu positionieren, sondern als eine andere, bessere Zivilisation zu verstehen. Das hat immer wieder westliche Intellektuelle fasziniert. Die Auffassungen vom „dritten Rom“, einem „zivilisatorischen Sonderweg“ oder von „echten russischen Werten“ werden durch Vorstellungen über Dekadenz, moralischen Verfall und grenzenlose Perversität des Westens ergänzt.

Interessanterweise war in der späten Sowjetzeit kaum davon die Rede. Man hat zwar die helle kommunistische Zukunft gepriesen, für die man noch eine Zeitlang weitere Opfer bringen musste, sowie die Unmenschlichkeit des kapitalistischen Systems angeprangert. Aber jede Behauptung einer „zivilisatorischen Überlegenheit“ des Arbeiter- und Bauernstaates und der Dekadenz oder des Niedergangs der westlichen Welt wäre unweigerlich an der Anzahl von Käsesorten in einem Supermarkt oder an der Auswahl von Männersocken in einem Kaufhaus außerhalb des Eisernen Vorhangs zerschellt. Erst nachdem Russland Ende der 1990er-Jahre endgültig in der Konsumgesellschaft angekommen war, stieg der Hass auf die Erfinder dieser Welt ins Unermessliche. Warum?

Ich habe lange nach Beispielen für eine russische Erfindung gesucht, die die Leben von Menschen erleichtert hätten. Nach etwas ganz Banalem oder technisch Ausgeklügeltem. Wie Reißverschluss, Kugelschreiber, Kühlschrank, Staubsauger oder Smartphone. Hauptsache, es hätte dem Menschen geholfen, seinen Alltag im Dschungel des modernen Lebens zu meistern. Ich habe nichts gefunden. Außer dem Wodka. Aber selbst das ist umstritten. Und zwar in zweierlei Hinsicht – ob der Wodka das Leben wirklich erleichtert und ob er tatsächlich in Russland erfunden wurde.

Warum Russland keine Erfindung für den Menschen zustande gebracht hat, ist eine andere Frage. Vielleicht, weil dort der Mensch und das Menschenleben nie eine Rolle gespielt haben. Auf jeden Fall hat dies zu einer enormen Abhängigkeit geführt – ob bei Haushaltsgeräten, Lebensmittelverpackungen, Luxusgütern oder Technologien.

Ich rede hier nicht von Dostojewski, Tschaikowski oder Mendelejew. Und zwar nicht deswegen, weil die Ukrainer heute nicht besonders gerne über russische Schriftsteller, Komponisten oder Wissenschaftler diskutieren. Der Grund, warum ich das nicht mache, ist ein anderer: Das Lesen von Dostojewski macht das Leben eines Durchschnittsbürgers nicht leichter. Und das ist genau der Punkt.

Man kann argumentieren, dass es nicht viele Nationen gibt, die Erfindungen vom großen praktischen Wert für den Alltag gemacht haben. Das mag stimmen. Die meisten haben allerdings auch nicht den Anspruch, eine bessere Zivilisation zu sein. Wenn aber ein Land von seiner eigenen „zivilisatorischen Überlegenheit“ überzeugt ist und gleichzeitig vom „dekadenten und perversen“ Westen alles kaufen muss – von Kleidung und Gegenständen des täglichen Gebrauchs bis hin zu der komplizierten Ausrüstung für die Gas- und Erdölförderung, – dann lebt dieses Land in einem unmöglichen Spagat, der auf Dauer nicht auszuhalten ist.

Es ist eine Art gesellschaftliche Schizophrenie, die mit der Zeit in einer Paranoia endet, in einer fiktiven Welt voller Verschwörungstheorien und Wahnvorstellungen über feindliche Einkreisung. Man wird aggressiv. Man fängt an, mit Stühlen um sich zu werfen. Oder mit Raketen. Einen aggressiven Patienten kann man psychiatrisch behandeln. Bei einem Land ist es schwieriger. Irgendwann gibt es also keine andere Möglichkeit mehr, als ihm auf dem Schlachtfeld die Grenzen aufzuzeigen. Für alternative Lösungen wären eher Wahrsager und Kurpfuscher zuständig.

Aus einem Interview mit Lew Gudkow, Vizechef des Meinungsforschungsinstituts Lewada, mit SPON vom 29. Dezember 2022:

SPIEGEL: Der Krieg selbst wird nicht infrage gestellt.

Gudkow: Nein, die Angriffe auf die Ukraine und die Massaker spielen keine Rolle. Die Russen haben kaum Mitgefühl mit den Ukrainern. Fast niemand spricht hier darüber, dass Menschen in der Ukraine getötet werden.

SPIEGEL: Beziffern Sie das bitte.

Gudkow: Der Anteil liegt gerade einmal bei 1,5 bis 2 Prozent der Befragten. Und nur durchschnittlich zehn Prozent der Bevölkerung empfinden Schuld und zeigen Einfühlungsvermögen – die russische Gesellschaft ist also amoralisch. Natürlich will sie keinen Krieg, aber die Menschen verhalten sich unterwürfig, passiv, wollen in keinen offenen Konflikt mit dem Staat treten.

Expressumfrage erst einmal nicht veröffentlicht

SPIEGEL: Sie weichen also aus.

Gudkow: Der Krieg hat Mechanismen in der Gesellschaft offengelegt, die seit Sowjetzeiten bestehen. Aus Gewohnheit identifizieren sich die Menschen mit dem Staat, übernehmen dessen Rhetorik über den Kampf ihres Vaterlands gegen den Faschismus und Nazismus wie zu Sowjetzeiten, um die Lage zu rechtfertigen. Das alles ist schon lange in den Köpfen der Menschen vorhanden, die Propaganda aktiviert diese Muster. Sie blockieren jegliches Mitgefühl und Empathie für das, was in der Ukraine passiert. Das gibt es nur für die eigenen toten und verwundeten Soldaten, »unsere Männer«.

SPIEGEL: Haben Sie das so erwartet?

Gudkow: Nein. Diese Passivität und Unterwürfigkeit haben mich enttäuscht. Wir haben gleich am 27. Februar nach Beginn des Krieges eine telefonische Expressumfrage gemacht. Damals dachte ich noch, dass die Reaktion sehr kriegskritisch ausfallen würde. Ich habe mich geirrt. 68 Prozent befürworteten den Krieg. Ich war kategorisch dagegen, diese Umfrage zu veröffentlichen. Unsere Mitarbeiter waren erst entsetzt, wir hatten dafür Geld ausgegeben, wir als Institut haben nicht viel davon. Aber eine Veröffentlichung solcher Daten in so einer Lage hätte nur noch Öl ins Feuer gegossen. Wir haben die Umfrage erst später im März publik gemacht, nachdem staatliche Institute ihre Daten veröffentlicht hatten.

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Als ich vor längerer Zeit, zu Beginn meines Studiums, begann, Russisch zu lernen, war die überwiegende Mehrzahl der Kursteilnehmer aus West-Deutschland Es gab einige wenige ostdeutsche Kommilitonen, die vielleicht ihre biographische Identität ergründen wollten, aber sie waren klar in der Minderheit.

Damals studierte ich an der Humboldt Universität in Berlin.  Im Lesesaal der juristischen Fakultät direkt an der Stirnseite des vis-à-vis des Eingangs, gab es (gibt es?) ein großes Fenstermosaik. Darauf abgebildet im Vordergrund Lenin, der mit dem Arm entschlossen in eine hoffnungsvolle Zukunft deutet (wenn er wüsste!). Neben ihm stehen Marx und Engels, die ihm mit bekifftem Gesichtsausdruck dabei zusehen.

Die ostdeutschen Kommilitonen hatten (zumindest nach außen hin und von Ausnahmen abgesehen) nicht das Geringste für die DDR und alles „Ostige“ übrig. Es waren die 90er Jahre und für sie waren die Begriffe „Kommunismus“ und „Russen“ mit Zwang und mit einer peinlichen Vergangenheit verbunden, die tabuisiert war und über die nicht gesprochen wurde. Zumindest nicht mit West-Deutschen.

Fast alle ostdeutschen Kommilitonen waren peinlich darauf bedacht, alles Ostdeutsche abzustreifen, sich betont modern zu kleiden. Das ging so weit, dass sie selbst ihren Heimatdialekt aus ihrem Hochdeutsch tilgten. Das galt jedenfalls für die Sachsen und Thüringer. Die Ost-Berliner pflegten selbstverständlich ihr Berlinerisch.

Wenn ich danach fragte, „wie es damals so gewesen ist“ (also wie das Leben war, wie die Schule war, wie sie aufgewachsen sind) erntete ich verlegene Reaktionen, so wie wenn man jemanden taktlos auf eine hässliche Trennung von einem Ex-Partner anspricht. Vielleicht habe ich es aber in meiner jugendlichen Unbeholfenheit einfach nur falsch und ungeschickt angebahnt.

Nichts lag meinen Ossi-Kommilitonen ferner, als sich mit den Russen zu beschäftigen, diesen verarmten, unzivilisierten Gefängniswärtern, die sie 40 Jahre gefangen gehalten hatten. Das Erstarken einer trotzigen ostdeutschen Identität hatte damals noch nicht stattgefunden.

Loyalität zur Sowjetunion und einen prorussischen Bezug gab es bei den Ostdeutschen zu der Zeit, zumindest meiner Beobachtung nach, eher bei den Leuten, die die 40 schon überschritten hatten.

Wer indes vom „Osten“ fasziniert war, das waren die Westdeutschen, die nach dem Fall der Mauer eine ihnen unbekannte Welt, direkt vor ihrer Haustür entdeckten. Und besonders zu Russen fühlen die Deutschen eine eigenartige Seelenverwandtschaft.

Wie bei sehr vielen Themen lassen sich die Deutschen viel stärker von Wunschbildern und naiven Klischees leiten als von der Realität.

So etwas wie „Kommunismus“ ist für die Deutschen abstrakt. Sie können vielmehr etwas mit Bildern anfangen:  den Birkenwäldern, den „endlosen Weiten“, Matrosenchören und tanzenden Kosaken.

Das diese Bilder Vorstellungen von Träumen sind die mit der Realität nur sehr peripher etwas zu tun haben, wollen die Deutschen nicht realisieren, denn in ihrer verdrehten Wahrnehmung können sie das Konkrete, den real existierenden Kommunismus, geistig und mental nicht verarbeiten.

Es sind diese Wunschvorstellungen, wie sie typischerweise von sogar sehr kultivierten Bildungsbürgern kolportiert werden, die „Studiosus“-Reisen buchen, wo sie ausgewählte kulturelle Schmuckstücke kredenzt bekommen: die Eremitage in Sankt Petersburg, den Kreml oder das Kaufhaus GUM oder der Neubau der Christ-Erlöser-Kathedrale, die in den 30er Jahren von Stalin zerstört worden war. An ihrer Stelle war bis in die 1990er Jahre das berühmte kreisrunde Freibad Moskwa, in dem man im Winter in dampfender Eiseskälte seine Bahnen schwimmen konnte.

Tief in ihrem Inneren sind die Deutschen davon überzeugt, dass kein anderes Volk ihnen an Erhabenheit ebenbürtig ist. Die anderen Nationen sind oberflächlich, materialistisch, kulturlos und haben nicht diese verfickte, berühmt-berüchtigte „Innerlichkeit“, zu der kein Volk auf der Welt fähig ist, außer den Deutschen. Und natürlich den Russen mit ihrer „tiefen russischen Seele“.

Es versteht sich von selbst, dass das alles lächerlicher, verlogener Bullshit ist.

Es reichen nur ein paar Minuten RTL2 oder ein paar Scrolls durch „Deutsch-Twitter“, um sich klarzumachen, dass nichts von dieser pathetischen Scheiße stimmt. Dann hat es sich mit Kultur und „Innerlichkeit“.

Ich hingegen habe da so meine eigene private Theorie, warum das so ist: zwischen Deutschland und Russland besteht eine Art Sado-Maso-Beziehung mit Rollentausch. Meiner Meinung nach erkennen sich die Mörder und Schlächter im jeweils anderen.

Aber weil das so ist, mögen es die Deutschen überhaupt nicht, wenn sie in der Bestätigung ihrer Klischees und Stereotypen irritiert oder gestört werden, deswegen auch die Ablehnung gegen den „dreisten“ oder „undankbaren“ ukrainischen Botschafter Melnyk

Neben der halluzinierten „seelischen Nähe“ zwischen Deutschen und Russen geht es todsicher auch um beinharte geschäftliche Interessen.

Hinter der Maske aus sozialdemokratisch-protestantischer Redlichkeit und ökonomischer Realpolitik („Wandel durch Handel“) verbirgt sich nämlich nur allzuoft die gute alte deutsche, verlogene Raffkementalität.

Mich überrascht ehrlichgesagt dieser sehr schnelle Umschwung und die weitreichende Unterstützung für die Ukraine. Ich vermute, das liegt einfach daran, dass die Deutschen nur gar zu glücklich sind, endlich die Rolle des bösen Buben an jemand anderen abgeben zu können.

Ich selbst würde mich nicht als russophil bezeichnen, aber Russland und die Sowjetunion haben mich immer interessiert. Es war das Düstere, das Morbide, die Aura des Verfalls und des Untergangs, die mich angezogen hatten.

Das erste bewusste Interesse muss 1989 gewesen sein, im Januar. Ich begann mich für Musik zu interessieren und auch für die Dinge außerhalb meiner unmittelbaren Umgebung. Nachmittags hörte ich das „Blaue Album“ von den Beatles, das ich in der Plattensammlung meiner Eltern gefunden hatte und in den Nachmittagssendungen verfolgte ich den Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan. Wie sie über die „Brücke des Friedens“ nach Usbekistan fuhren, ein zerstörtes Land hinterließen und selbst zerstört waren.

Das war das Präludium zum Mauerfall und Zusammenbruch des Ostblocks.

Die sowjetischen Soldaten sahen ärmlich und zerlumpt aus. Der Kontrast zu den amerikanischen Soldaten konnte deutlicher nicht sein: die GIs waren in Frankfurt allgegenwärtig. Sie spazierten entweder in ihren funktionalen Woodland-Camouflage Uniformen mit auf Hochglanz geputzten Stiefeln durch die Stadt, wenn sie im Dienst waren, oder sie trugen coole Basketball-T-Shirts wie sie damals Mode waren, mit Larry Bird, Michael Jordan und Magic Johnson, dazu die neuesten Nike-Modelle frisch aus dem PX.

Die Rotarmisten in Afghanistan hingegen trugen veraltete schlammfarbene Uniformen, die sich im Prinzip seit dem Zweiten Weltkrieg nicht geändert hatten: eine Art Feldbluse (wenigstens keine Rubaschka mehr), tatsächlich Breeches und hohe Knobelbecherstiefel.

Ich hatte mir immer selbst versprochen, einmal in Russland zu leben, aber es hat noch einige Jahre gedauert, bis ich es verwirklichen konnte. 2001 machte ich ein Praktikum in einer kleinen Kanzlei in Moskau, die ein gewiefter deutscher Rechtsanwalt dort gegründet hatte. Putin war schon Präsident. Wer weiß, ob schon zum damaligen Zeitpunkt seine Rachegelüste in ihm brodelten.

Der Verfasser dieser Zeilen im Jahr 2001 auf dem Roten Platz in seiner Tarnung als (äußerlich) braver Praktikant

Die Anwälte in der Kanzlei waren Russen. Einer der Anwälte war ungefähr in meinem Alter. Ich habe leider seinen Namen vergessen. Er hatte eine Weile in Österreich gelebt und sprach ziemlich gut deutsch. Manchmal unterhielten wir uns von Schreibtisch zu Schreibtisch. Unvermeidlicherweise kam das Gespräch bisweilen auf gesellschaftliche und politische Themen. „Wir Russen sind wie Tannenbäume. Wir widerstehen Frost und allen Widrigkeiten“, sagte er zum Beispiel. „Wir sind stark und widerstandsfähig, weil wir in unserer Geschichte so viel durchgemacht haben. Ihr Westler hingegen seid verweichlicht und schwach.“ Er sagte das nicht aggressiv, eher so in einem gönnerhaften Plauderton.

Als im Oktober bereits die ersten Schneeflocken auf Moskau herabrieselten, gefiel es ihm, im Pullover draußen herumzulaufen. Mir war arschkalt. Er meinte nur, „es ist doch nur ein bißchen frisch“.

Während des Praktikums wohnte ich bei einer Freundin der Kanzleisekretärin in einem typischen Plattenbau weit außerhalb von Moskau, wo die normalen Städter bis hin zur oberen Mittelschicht wohnen. Die Wohnung lag an der U-Bahn-Station Kantemirowskaja, wo die Babuschkas mit Strickmützen an den Ausgängen ihre unförmigen Unterhosen verkaufen. Eine jener Plattenbaumoloche, die so trist und deprimierend aussehen, dass man an dunklen Wochenenden im Winter nicht übel Lust hat, vom Dach zu springen. Morgens fuhren die U-Bahn-Züge in sturer Präzision alle dreißig Sekunden ein, um unwahrscheinliche Menschenmassen, die in mehreren Reihen am Bahnsteig standen, in die Innenstadt zu fahren.

Moskau ist übrigens potthässlich bis auf die U-Bahn-Stationen in der Innenstadt mit ihren Marmorwänden, prachtvollen Mosaiken und gigantischen Kronleuchtern. Was sagt es über eine Stadt aus, dass das Schönste an ihr die U-Bahn-Stationen sind?

Die Freundin der Sekretärin hieß Wika. Sie war nur wenig älter als ich und arbeitete in einer Botschaft eines ostastiatischen Landes als Bürokraft. In der winzigen 2-Zimmer-Plattenbauwohnung hingen wir ziemlich aufeinander, wenn wir nicht arbeiteten. Sie mochte keine Schwulen, aber sie lenkte das Gespräch verdächtig oft auf das Thema Analverkehr, wie ich mich erinnere. Sicherlich hätte was mit ihr laufen können, aber ich war frisch verliebt und wollte meine neue Freundin nicht betrügen. Mit dem Abstand von zwanzig Jahren denke ich darüber nach, ob das nicht ein Fehler gewesen ist. Denn Frauen, die „analny seks“ mögen, laufen nicht gerade zahlreich herum.

Sie erzählte mir von ihrer Familiengeschichte. Sie stammte aus Woronesch im Süden. Ihr leiblicher Vater war ein Polizist, der ihre Mutter vergewaltigt hatte. Ihre Mutter hatte ich dann trotzdem geheiratet (oder heiraten müssen?). Sie zeigte mir Familienbilder: auf den Schwarzweißbildern sah man einem massigen Mann in Uniform und daneben sie als kleines Mädchen, dessen Gesicht dem Mann auf unheimliche weise glich, mit einem unglaublich traurigen Gesichtsausdruck.

Wika konnte unheimlich gut die Akzente der verschiedenen Volksgruppen im riesigen sowjetischen und russischen Reich nachmachen.

Zum Beispiel die Aserbaidschaner, die mit einer Lastwagenladung Melonen aus dem Kaukasus kamen, sie in einen großen Käfig sperrten, wo sie selbst so lange saßen und auch schliefen bis sie die Melonen vollständig verkauft hatten.

Oder auch die Ukrainer. Die Ukrainer gelten in Russland als schwerfällig und etwas langsam im Kopf, so ähnlich wie die Ostfriesen bei uns. Der ukrainische Akzent rollte ihr die Fußnägel hoch. Typisch ist wohl folgender Ausdruck: statt ну что (Nun ja) sagen sie ein langgezogenes ну шоо. Sie ahmte es nach und schüttelte sich angeekelt.

Das waren meine eigenen kleinen Erfahrungen während meines kurzen Aufenthalts in Moskau. Niemals wäre ich so vermessen, mich nach dieser Erfahrung als Russland-Experten zu bezeichnen. Ich habe mich viel mit der russischen Geschichte und der Literatur beschäftigt, dennoch kenne ich Land, Leute und Mentalität viel zu wenig, als dass ich mir ein sicheres Urteil erlauben könnte (wie ich es zum Beispiel im Fall von Frankreich tue).

Was ich allerdings registriert habe ist, dass die meisten Russen, die mir begegnet sind (und das sind mehr als der Anwalt und Wika), einen latenten und nicht unbedingt bösartigen, aber dennoch unzweifelhaft vorhandenen Chauvinismus gegenüber anderen Völkern pflegen. Daneben sind sie extrem materialistisch. Allerdings haben sie einen guten trockenen, sarkastischen Humor, der mir gut gefällt.

Die Geschichte von Wikas Zeugung durch eine Vergewaltigung hat mich ziemlich geschockt, auch wenn ich mir nichts habe anmerken lassen, aber Gewalt ist in Russland unterschwellig immer vorhanden.

Betrachtet man die Geschichte Russlands so ist das auch nicht anders möglich. Die russische Geschichte ist die einer jahrhundertelangen Unfreiheit. In der Sowjetunion noch potenziert. Eine Nation, die auf Gewalt, Terror, Leid und unermesslichen Leichenbergen aufgebaut ist.

Das moderne Russland wendet der Welt (zumindest bis zum 24. Februar 2022) eine zivilisierten Oberfläche zu, unter der eine gewalttätige Geschichte und eine brutalisierte Gesellschaft brodeln, angefüllt mit Hass und Ressentiments und gepeinigt von generationenübergreifenden Traumata und Dämonen, die umso stärker wirken, als sie niemals aufgearbeitet wurden.

Die Russen erliegen übrigens auch Illusionen über sich selbst. Und wenn diese Hybris auf Realität trifft, ist das hässlich. Sehr sehr sehr hässlich.

Ich lese gerne Bücher, aber manchmal sind die Bilder viel beredter.

Die Bilder von Russland, die ich habe, werden ergänzt durch die Bilder von Reportagen aus den 90er Jahren. Einem Jahrzehnt der Wildheit und Rechtlosigkeit.

Der Bildband „Jenseits von Kreml und Rotem Platz“ vereint Fotos aus Stern-Reportagen, die zwar einerseits reißerisch, aber auch faszinierend sind.

Am besten und stärksten finde ich die Bilder des Berliner Fotograf Miron Zownir, der selbst ukrainischer Herkunft ist, aber nie dort gelebt hat und weder Russisch noch Ukrainisch spricht. Sein Buch „Radical Eye“ habe ich zufällig in den Hackeschen Höfen beim Eschloraque entdeckt. In so einem Raum halb Galerie halb Buchladen. Ich war mit einer Party Crowd aus Paris in Mitte unterwegs, als mir dieses Buch ins Auge fiel. Sie wollten weiter, aber ich war vollständig fasziniert von diesem Buch, dass ich am nächsten Tag zurückkam, um es zu kaufen.

Ich finde, dass Miron Zownir mit seinen rohen, krassen Bildern perfekt diese apokalyptische Zeit des Zusammenbruchs eingefangen hat, als 1991 die Lichter ausgingen. Denn es war nicht nur ein wirtschaftlicher Crash, sondern auch ein seelisch-moralischer und ein gesellschaftlicher.

Einfache Arbeiter, Beamte, leitende Angestellte aus angesehenen Berufen und Akademiker bekamen von jetzt auf gleich kein Gehalt mehr. Keine mickrige Kopeke. Zuerst verkauften sie ihre Wertsachen, dann den Familienschmuck, dann mussten sie hungern, betteln oder sich prostituieren.

Miron Zownir, der sich in Moskau besonders oft am „Drei-Bahnhofs-Eck“ am Komsomolskaja-Platz herumgetrieben hat, wo Leningrader, Jaroslawler und Kasaner Bahnhof eng beieinander stehen und bei seiner Arbeit angefeindet, verhaftet oder verprügelt wurde, hat die Menschen so abgelichtet, wie sie waren: durch 70 Jahre Kommunismus deformierte Missgeburten, Opfer eines gescheiterten Menschenexperiments.

Und die Dämonen wirken heute weiter.

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Filme

Titane

Ein interessanter Film, Gewinner der Goldenen Palme in Cannes 2021 und für die Oscars 2022 nominiert. Trotzdem werde ich nicht ganz schlau aus ihm.

Die Story: Zu Beginn des Films sitzt ein kleines Mädchen, Alexia, mit ihrem Vater im Auto und stört ihn beim Fahren. Der Vater baut einen Unfall, bei dem Alexia schwer verletzt wird und fortan eine Titanplatte im Kopf sowie eine scheußliche große Narbe davonträgt.

Fast Forward. Alexia ist jetzt erwachsen und jobbt als Messehostess bei Automessen, wo sie erotische Tänze aufführt. Als sie von einem aufdringlichen Messebesucher gestalkt wird, tötet sie ihn. Danach hat sie Sex mit einem Cadillac. Anschließend hat sie lesbischen Sex und tötet noch weitere Menschen, einschließlich ihrer Eltern.

Auf der Flucht erblickt sie ein Fahndungsplakat, mit dem ein seit zehn Jahren verschwundener Junge gesucht wird. Um der Verhaftung zu entgehen, rasiert sie sich die Haare kurz und bricht sich selbst die Nase an einem Waschbecken, damit sie sich als der verlorene Sohn ausgeben kann. Der untröstliche Vater, ein alternder Feuerwehrmann, ist überglücklich, seinen so lange verschwundenen Sohn in die Arme schließen zu können und nimmt ihn in die Feuerwehrkaserne auf (man muss wissen, dass Soldaten in Frankreich statusmäßig Soldaten sind). Alexia, die sich nun Adrien nennt, muss nun ihre Weiblichkeit sowie ihren Schwangerschaftsbauch verbergen, da sie von dem Abenteuer mit dem Cadillac schwanger geworden ist.

Es tritt schwarzes Menstruationsblut aus sowie schwarze Milch aus den Brüsten, die an Motoröl erinnert. „Adriens“ Vater hadert mit seinem Alter und betreibt exzessives Fitnesstraining und verabreicht sich selbst Muskelaufbauinjektionen. Natürlich ist Adriens Vater klar, dass nicht sein Sohn vor ihm steht, aber sein Schmerz und sein Kummer über den verschwundenen Jungen lässt ihn die Realität verdrängen.

Derweil muss sich Alexia/Adrien unter den misstrauischen Blicken seiner Feuewehrkameraden in der virilen Athmosphäre bewähren.

Ein komischer doch auch interessanter Film, der mich von der Ästhetik mit den häufig grellen Lichtern entfernt an Luc Bessons Erstlingsfilm „Subway“ erinnert. Ich habe wohl verstanden, dass es hier um das Spiel bzw. die Überwindung von Geschlechterrollen und -stereotypen geht, aber ansonsten bin ich etwas ratlos.

Der Leichenverbrenner

Eine bitterböse schwarze Satire aus der CSSR von 1969, die nach dem Erscheinen in der Versenkung verschwand und erst 1991 nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wieder auf Filmfestivals gespielt und dadurch wiederentdeckt wurde.

Das Setting ist die Tschechoslowakei in den 1930er Jahren. Die Menschen stehen vor der Frage, wie sie sich zum Nationalsozialismus positionieren sollen, dem Kontext entnimmt man, dass das Protektorat Böhmen und Mähren von Hitler noch nicht errichtet wurde.

Der Direktor des Krematoriums Dr. Kopfrkingl steigert sich immer mehr in einen faschistischen Wahn und gleichzeitig einen pervertierten buddhistischen Glauben hinein, der ihm eingibt, so viele Seelen wie möglich zu befreien, d.h. zu töten und zu verbrennen. Schließlich erliegt er der Halluzination, der neue Dalai Lama zu sein und tötet seine Frau und die beiden Kinder, die er im Krematorium verbrennt.

Für Leute mit einer Schwäche für osteuropäische Filme auf jeden Fall interessant. Dadurch dass der Film bei Youtube nur in der OmenglU-Version vorhanden ist, geht einiges an Verständnis verloren, aber die schöne tschechische Sprache rollt und plätschert so lieblich.

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Schaurige Tropen

Französisch-Guyana ist landschaftlich weder besonders reizvoll noch bietet es besonders viel Abwechslung. Im Grunde ist dieser Landstrich der hergebrachten Vorstellung von menschlichem Wohlbefinden vollständig entgegengesetzt. Er ist vollständig von tropischem Regenwald bedeckt mit seinem unvermeidlichen feindseligen Getier und seinen tödlichen Krankheiten. Dazu ein Klima, in dem sich Hitze und Trockenheit mit sintflutartigen Regenfällen abwechseln.

Eingezwängt zwischen Surinam (dem niederländischen Guyana) und dem brasilianischen Bundesstaat Amapa (dem portugiesischen Guyana), wobei es noch etwas nördlicher westlicher das (britische) Guyana gibt (nun alles klar?), erstaunt es, dass dieses Territorium zur europäischen Union gehört.

Das französische Überseedepartement ist heute nur für zwei Dinge bekannt, die jedoch nicht ganz unwichtig sind: das Raumfahrtzentrum in Kourou, wo die europäische Weltraumorganisation ESA ihre Raketen starten lässt, um „Fernmeldesatelliten“ in ihre Umlaufbahn zu bringen.

Ferner gibt es dort eine hohe Dichte an militärischen Einrichtungen, von denen die bedeutendste der Stützpunkt des 3. Infanterie Fremdenregiments (3e REI) der französischen Fremdenlegion ist. Der Standort ist mit Bedacht gewählt, unterstreicht er doch Frankreichs noch aus Zeiten als Kolonialmacht stammendes Einflußstreben in Südamerika. Zum anderen bietet der menschenfeindliche Regenwald perfekte Ausgangsbedingungen, um dort den Dschungelkampf zu trainieren.

Jedes Jahr erscheinen dort Offiziersanwärter der Militärhochschule Saint-Cyr und Kandidaten aus aller Herren Länder, um den äußerst anspruchsvollen und kräftezehrenden „Jaguar“-Lehrgang am CEFE (Centre d’entraînement à la forêt équatoriale) zu absolvieren, wobei es den Legionären eine reine Freude ist, die Grünschnäbel zu schleifen.

Die menschenfeindliche Wildnis hatte jedoch vor nicht allzu langer Zeit, nämlich vor knapp hundert Jahren, noch aus einem anderen Grund einen schrecklichen Beiklang.

Es beherbergte das letzte europäische Bagno, also ein Straflager und gleichzeitig Verbannungsort. Frankreich deportierte dorthin seine Schwerverbrecher, um sie hart zu strafen und auch das feindliche Land zu kolonisieren. Bei selber Gelegenheit entsorgte es die Verbrecher fern des europäischen Kontinents.

Der Journalist Albert Londres hat das Straflager 1923 im Rahmen einer Reportage für die Zeitung „Le Petit Parisien“ besucht.

Es ist eine spannende und schön zu lesende Reportage, weil Londres gegenüber den Sträflingen und Verbrechern zu Menschlichkeit und Empathie fähig ist, ohne zu urteilen. Nur dort, wo ihn die menschenuwürdigen Umstände empören, blitzt sein Zorn hervor.

Man kann sich die Frage stellen, warum manche Mörder auf dem Schafott endeten (von dem die französische Justiz damals großzügigen Gebrauch machte), manche jedoch ihren Kopf retten und dafür Straflager aufgebrummt bekamen. Vermutlich lag es an einem smarten Verteidiger, der überzeugend mildernde Umstände darlegen konnte. Es bleibt allerdings zu bezweifeln, ob Cayenne wirklich die mildere Strafe war. Im Volksmund wurde das Straflager nämlich „guillotine sèche“ (trockene Guillotine) genannt. Besonders in den ersten Jahren war die Todesrate unter den Sträflingen exorbitant hoch.

Noch heute wird der Ausdruck „Jemanden nach Cayenne schicken“ in Frankreich benutzt, wenn man jemandem eine harte Strafe wünscht. 

Doch das eigentliche Straflager befand sich nicht in Cayenne, dem Verwaltungssitz des Départements, sondern auf drei der Küste vorgelagerten Inseln, die wie noch kein Ort auf der Welt so schlecht ihren Namen tragen:  Îles du Salut (Heilsinseln).

Londres begegnet dort den berühmten Verbannten, mit Ausnahme des wahrscheinlich berühmtesten: Alfred Dreyfus, der von 1895 bis 1899 auf der Teufelsinsel schmachtete, bis er rehabilitiert wurde.

Ansonsten sind sie alle da, die Mörder und Schwerverbrecher, tatsächliche Hochverräter wie Ullmo (im Gegensatz zu Dreyfus), „gefährliche Elemente“ wie die Anarchisten Eugène Dieudonné oder Paul Roussenq, Angehörige von brutalen Straßenbanden (den „Apaches“), die in der Belle Époque die Straßen von Paris und Umgebung unsicher machten, kriminelle Soldaten, die selbst für die Strafbataillone in Afrika, den berüchtigten „Bataillons d’Afrique“ oder „Bat d’Af“ nicht mehr tragbar waren. Dorthin wurden Schwerverbrecher zur „Bewährung“ geschickt, um an den Grenzen des afrikanischen Kolonialreichs skrupellos Aufstände widerspenstiger Berberstämme niederzuschlagen. Ein äußerst düsteres Kapitel der französischen Kolonialgeschichte.

Die damals berühmt-berüchtigten Verbrecher, die die französische Bevölkerung kannte, wie die Mitglieder der Remmos oder Abou-Chakers, sind heute längst vergessen. In Erinnerung geblieben ist das Lager durch das literarische Denkmal „Papillon“von Henri Charrière, der zu Straflager und lebenslanger Verbannung verurteilt worden war, und dem die Flucht nach Britisch-Guyana gelang.

Die Häftlinge sind fast überwiegend Franzosen, aber es finden sich dort auch Untertanen aus dem weitläufigen Kolonialreich: Araber, Senegalesen, Annamiten (die damalige Bezeichnung für die Einwohner des heutigen Vietnam).

Es gibt dort auch viele Verrückte, denen die harte Strafe den Verstand geraubt hat. In einem tieftraurigen Portrait beschreibt Londres einen Mann, der jeden Tag an derselben Landzunge Steine in das Wasser wirft. Er stellte sich vor, dass eines Tages genug Steine auf den Meeresgrund gefallen sein würden, dass sich ein Steg gebildet haben würde, der bis nach Frankreich reicht, so dass er nach Hause laufen könnte.

Der Strafvollzug im Bagno ist und hart und es gibt eine breite Palette an Strafen. Manche Unbeugsamen, die sogenannten „Incos“ (als Abkürzung für „Incorrigible“), wie Roussenq, der sich wie ein wilder Hund gebärdet, werden jahrelang in Kerkern in Dunkelhaft oder Käfigen gehalten, manche, wie Dreyfus, werden in völliger Isolation auf einer kleinen Insel gehalten, bis sie anfangen, mit den Haien Gespräche zu führen, wieder andere müssen den Dschungel roden, um eine Straße von Cayenne nach Saint-Laurent-du-Maroni zu bauen.

Die Sträflinge haben nicht genug zu essen, sie leiden an Ankylostomiasis, einer schweren Infektion, die durch den Befall von Hakenwürmern im verunreinigten Trinkwasser hervorgerufen wird. Die Männer sind zu schwach, um die Spitzhacke zu heben. Der Aufwand, das Nachwachsen der Vegetation auf der gerodeten Piste wieder zu beseitigen, ist eine Sysiphusarbeit. Im Jahr der Reportage, 1923, haben die Sträflinge in 60 Jahren Existenz des Straflagers dem Dschungel nur 40 km Piste abgetrotzt.

Eine besondere Gesetzesbestimmung, die die Menschen in Frankreich nicht kannten und Albert Londres selbst mit Unglauben vernehmen musste, war die sogenannte „Doublage“.

Die Regel besagte, dass die Sträflinge nach Verbüßung ihrer Strafe dieselbe Anzahl an Jahren in Guyana bleiben mussten, bevor sie nach Frankreich zurückkehren durften. Wer mehr als sieben Jahre Straflager bekommen hatte, dufte nie mehr nach Frankreich zurückkehren, sondern musste in Guayana bleiben.

Weder das Justizministerium des selbsternannten Ursprungslandes der universellen Menschenrechte und der Aufklärung schienen gegen diese Regelung etwas zu erinnern zu haben, deren Existenz und Konsequenz selbst den Geschworenen an den Gerichten größtenteils unbekannt war.

Die Sträftlinge, die nicht nach Frankreich zurückdurften, hatten das Recht, ein Gewerbe oder eine kleine Gaststube zu eröffnen, was mangels Kapital oft schwer zu verwirklichen war.

Andere versuchten, sich als Domestiken, „porte-clefs“, d.h. Schlüsselträger, oder Rudersträflinge zu verdingen, denn Frankreich hatte es seit Beginn seiner Ansiedlung nicht fertiggebracht, einen Hafen zu bauen, so dass die Schiffe in der Bucht ankern mussten.

Einer dieser Sträflinge, die nach verbüßter Strafe zusehen mussten, wie er dort seinen Lebensunterhalt verdienen konnte, war der Veruntreuer Edmond Duez. Nach Verbüßung von zwölf Jahren im Bagno erhielt er eine Konzession für das Inselchen Îlet-la-Mère (Müttercheninsel), auf dem er Schweine, Schafe und Rinder züchtete.

Unbegreiflicherweise erschien nach dem Ende seiner Strafe sein Ehegespons, die ihm im Gegensatz zu all den anderen Ehefrauen die Treue gehalten hatte, auf seinem Eiland. Amüsiert aber auch mitfühlend schildert Londres, wie Duez nach zwölf Jahren Straflager nun unter dem Pantoffel seiner Frau kuschen musste, die auf der kleinen Insel das Regiment übernommen hatte.

Londres jedenfalls war von der Praxis der „doublage“ so empört, dass er flammende Artikel dagegen schrieb, so dass diese Regelung kurz danach abgeschafft wurde. Ein seltenes Beispiel dafür, dass der Journalismus manchmal doch etwas bewirken kann.

Das Bagno selbst wurde im Jahr 1938 abgeschafft. Die letzten Sträflinge kamen jedoch erst im Jahr 1953 zurück.

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Fotografenlegende Patrick Chauvel in der Ukraine

Der Ausbruch des Krieges in der Ukraine wie, wie Konflikte zuvor und auch danach, das Aufbruchssignal für die alten Haudegen und Oldtimer der Kriegsreportage.

Die Legende der französischen Kriegsfotografen, Patrick Chauvel, über den ich hier und hier schon geschrieben habe, hat sich mit mittlerweile schon 72 Lenzen auf dem Buckel natürlich nach Kiew aufgemacht.

In einem wirklich interessanten Interview mit der Le Monde gibt er Auskunft über seinen Beruf und wie er sich in den vergangenen 50 Jahren entwickelt hat.

Hier die Übersetzung:

Im Alter von 72 Jahren berichtet der Fotoreporter über den Krieg in der Ukraine für „Paris Match“. In einem Interview mit „Le Monde“ erklärt er die Entwicklungen der Kriegsreporterbranche im Verlauf der vergangenen 50 Jahre.

Als er 19 Jahre alt war, fotografierte Patrick Chauvel den Vietnamkrieg. Mit 72 ist er in er Ukraine. In der Zwischenzeit hat der Fotograf, der auch Autor von vier Büchern und zahlreichen Dokumentarfilmen ist, aus 35 Konflikten berichtet. Kein anderer hat eine derartige Berufserfahrung. Seine Arbeit wird in einem Bildband ausgestellt, der von Reporter ohne Grenzen, und den Titel 100 photos pour la liberté de la presse trägt.

Warum brechen Sie mit 72 Jahren in die Ukraine auf?

Wenn ich in Paris geblieben wäre, zu dem Zeitpunkt als die Russen den Krieg vom Zaun brachen, wäre ich verrückt geworden. Ich habe keine Rosensträucher zu stutzen…

Ich bin Fotograf, um Geschichte zu leben und sie zu verstehen. Und danach, um zu versuchen, sie in Bildern zu rekonstruieren. Kriegsreporter, das ist mein Leben. In unmittelbarer Näher der Ereignisse zu sein, denn der Fotograf ist gezwungen zu sehen. Ich glaube übrigens, dass wir noch nie so nah am Dritten Weltkrieg gewesen sind.

Wenn man auch besser jung ist, um diesen Beruf auszuüben und mein Arzt mir angesichts meiner Rückenschmerzen sagt: „Das nennt man das Alter, es wird nicht lange dauern!“, wundere ich mich, dass mich Kollegen fragen: „Was, du arbeitest noch?“, so als käme ich direkt aus der Gruft.

Was antworten sie ihnen?

Dass sie mich am Arsch lecken können.

Woher kommt dieser Virus?

Als ich 18 Jahre alt war, habe ich mich bei einem Kibbutz in Israel verpflichtet, um Orangen zu pflücken, mit dem Hintergedanken, falls der Sechs-Tage-Krieg mit Ägypten ausbricht, über die Mauer zu klettern und Fotos zu machen. Das Ergebnis war erbärmlich. Ich sah nichts, außer meinem ersten Toten. Ich machte eine Runde durch die Krankenhäuser, brachte die Verwundeten mit Imitationen von Louis de Funès zum Lachen und flirtete mit einer israelischen Leutnantin. Jedenfalls hatte ich meine Überzeugung gefestigt. Im Jahr darauf war ich in Vietnam. Ich liebte diesen Beruf so sehr, dass ich fassungslos war, dass man mich tatsächlich dafür bezahlt.

Sie kamen am 19. Februar (2022) in der Ukraine an, während andere Journalisten schon seit Wochen vor Ort waren. Warum?

Der erste zu sein, bedeutet nichts für einen Fotografen. Es zählt einzig und allein, was er zurückbringt. Vielleicht ist es ungerecht, aber die Qualität der Arbeit hängt nicht von der Erinnerung des Fotografen vor Ort ab. Es gibt nur die Wahrheit des Bildes, Punkt. Außerdem war die Ukraine vor dem russischen Einmarsch ein journalistisches Disneyland. Ich habe keinen Sinn darin gesehen, Soldaten zu zeigen, die das Victory-Zeichen machen.

Andererseits stellt es für einen jungen Reporter einen wertvollen Situationsvorteil dar, wenn er seit ein oder zwei Jahren in einem strategischen Land wohnt, wenn man dazu noch bedenkt, dass sich die Medien sehr viel mehr für einen Fotografen wegen des Orts interessieren, an dem er sich befindet, als für die Länge seines Lebenslaufs.

Gibt es verschiedene Arten, den Krieg zu fotografieren?

Talentierte Autoren wie der Engländer Don McCullin haben einen unverwechselbaren Stil. Sie überprüfen das Licht, bevor sie auslösen und wissen, welche visuelle Geschichte sie erzählen wollen.

Ich hingegen gehöre zu einer Generation von Journalisten, die eher rustikal an die Sache herangehen, wir drücken nach Intuition ab. Die Aktualität macht das Bild, nicht ich.

Es geht mir nicht darum, schöne Fotos zu machen, davon abgesehen, dass ich dazu unfähig bin. Ich mag genau so wenig das Wort „Scoop“.

Die Fotografen sehen selten die desaströsen Auswirkungen eines Bildes, das nicht die Realität einer Situation überträgt. Für die Geschichte muss man alles fotografieren, aber nicht alles im nächsten Moment zeigen. Das lässt sich leicht sagen…

Die große Mehrheit der Fotografen hat kein festes Gehalt und hängt von der Anzahl ihrer Veröffentlichungen und den Erlösen ab, die sie generieren. Aber ein spektakuläres Bild ist nicht unbedingt auch wahrhaftigt.

Ein Beispiel?

1968 hat der Fotograf Eddie Adams eines der berühmtesten Bilder des Vietnamkriegs geschossen: der Moment als General Loan, Polizeichef von Saigon, einem in Zivil gekleideten Mann eine Kugel in den Kopf schießt. Nur das ist hängengeblieben. Das Bild sagt nicht, dass der Mann ein ranghoher Vietcong war, der gerade einem nahen Verwandten des Polizeichefs, sowie seiner Frau und seinen Kindern die Kehle durchgeschnitten hatte.

Seinem Bild einen Stil aufzuprägen, ist das problematisch?

Eines Tages habe ich einen Reporter ermahnt: „Deine Bilder erzählen weniger über diejenigen, die du fotografierst, als von dir selbst.“ Aber im Endeffekt existiert diese Falle für jeden von uns. 1982 als Israel in den Südlibanon einmarschiert ist, sah ich wie drei Palästinenser sich erheben und auf den Horizont deuten, ihre Zeigefinger auf dem orangefarbenen Himmel. Eine richtige Postkarte. Es waren noch zwei andere Fotografen da, und wir sagten: „Nein, das nun doch nicht…“ Und doch haben wir dieses Foto geschossen. Dabei stinkt der Krieg nach Tod, Blut, Pisse und Benzin.

Aber ist die Epoche nicht eine Behauptung des Autors?

Der Fotojournalismus hat immer zwischen Information und Kunst gependelt. Aber, ja, die Waage schwankt immer stark zu Letzterem. Der Narzissmus erfasst die gesamte Gesellschaft, die sozialen Netzwerke beweisen es, und daher wird auch die Reportage von einer „Generation Selfie“ übernommen. Aber es ist auch sehr eng mit den ökonomischen Umbrüchen in der Branche verbunden. Das Geld ist im Allgemeinen von den Zeitungen zu den Museen und Büchern gewandert. Der Ruhm kommt sehr viel mehr von der kulturellen Aufwertung unserer Fotos als von der Veröffentlichung in einer Zeitung. Als Folge hiervon, gibt es immer mehr Fotografen, die ihren Stil „suchen“ und dabei als erstes an die Bilder denken, die es ihnen ermöglichen werden, sich herauszuheben.

Vom Vietnamkrieg bis zum Ersten Golfkrieg 1991 kannte ich einen Beruf, der sehr strukturiert war: Fotografen arbeiteten für Fotoagenturen, die ihre Bilder an Zeitungen verkauften. Dann verloren die Agenturen und die Zeitungen an Bedeutung oder verschwanden ganz.

In der Ukraine bin ich für „Paris Match“ eines der wenigen Magazine, die Kriegsreportagen unterstützen.

Dass „Le Monde“, das seine Reputation fünfzig Jahre darauf aufgebaut hatte, keine Fotos zu publizieren, heute eins der wenigen Medien auf diesem Planeten ist, das mit Ambition Fotoreportagen finanziert, weist auf einen schwindelerregenden Kurswechsel hin.

Es gibt also weniger Agenturen und Zeitungen, aber mehr Fotografen?

Sogar ein exponentielles Wachstum. In der Ukraine ist das frappant, weil Kiew nur drei Flugstunden von Paris entfernt ist. Das Profil der Reporter hat sich auch erweitert. Viele sind keine Spezialisten, sie werden vom Krieg aus einer Vielzahl von Gründen angezogen, sie kreuzen Information und persönliche Gründe.

Für eine politische Veranstaltung braucht man einen Presseausweis, für einen Konflikt nicht. Die Kriegsreportage hat sich einerseits globalisiert und andererseits lokalisiert, mit vielen Reportern, die selbst aus den betroffenen Ländern stammen, die den Vorteil haben, Land und Gebiet zu kennen und für die Medien sehr billig sind und nicht zu vergessen, die Soldaten und Einwohner, die zu Gelegenheitsfotografen werden.

In der Ukraine könnte ich mehr Zeit damit verbringen, Fotos einzusammeln als selbst welche zu schießen. Diese Demokratisierung ist großartig, aber führt auch zu einer Uberisierung des Berufs.

Hat das Auswirkungen auf die Bilder selbst?

Wenn es zu viele Journalisten gibt, sind die Soldaten genervt, und dann wird es problematisch.

Wir sind sehr weit von den Zeiten in Vietnam entfernt, wo die Handvoll Fotografen vor Ort nicht nur vollständig frei agieren konnten. Die Amerikaner erleichterten ihnen sogar die Arbeit bis dahin, dass sie ihnen die hunderten toten Zivilisten nach den Bombardierungen zeigten.

Der Krieg in der Ukraine könnte bestätigen, dass es sehr schwierig ist, die Realität eines Krieges zu zeigen, wenn sich zwei offizielle Armeen gegenüberstehen. Die Russen werden die Journalisten auf Abstand halten, und sich dabei auf deren „Sicherheit“ berufen. Der wahre Grund wird sein, dass sie die Toten verheimlichen wollen.

Verringert die Gefahr die Anzahl der Fotografen?

Ja. Es gibt 300 Fotografen in den Flüchtlingslagern, 100 an der rückwärtigen Front und 25, meistens immer dieselben, dort wo die Bomben fallen. Wie heißt es so schön: „Hinten die Kinder. Vorne die Musik.“

Ich spreche nicht von Mut, denn niemand wird gezwungen, in den Krieg zu gehen. Andererseits erfordert die Front Erfahrung: schnell eine Situation erfassen, die Topographie eines Ortes, die Waffen kennen, die Geräusche, Echos und Flugbahnen von Granaten erkennen, sich nicht bei den Gesprächspartnern vertun…

Ich stelle auch eine Ausweitung der Domäne des Kriegs fest. Ich wurde selten so oft angegriffen, wie während der „Gelbwestenproteste“. Abgesehen davon, dass ich oft „Judenpresse“ oder „Schweinehunde“ gehört habe, dass mittlerweile Fernsehteams ballistischen Schutzwesten tragen und von Personenschützern begleitet werden, habe ich mir beim Rennen auf der Avenue Marceau in Paris eine Rippe gebrochen, als ich einem Hammer auswich, der auf mich geworfen wurde. Ich bin hingefallen und auf meinem Objektiv gelandet. Ich finde das seltsam.

Beeinflussen Digitalkameras die Art der Bilder?

Während des Vietnamkriegs wusste der Laborant, wer gut oder schlecht war, indem er die Filmrollen betrachtete und die Anzahl der verpfuschten Bilder sah. Heute kann die Digitalkamera die Geschichte erzählen.

Es reicht, sie über seinen Kopf zu halten, ohne etwas zu sehen, um eine Doppelseite in einem Magazin zu machen. Wenn das Bild vermurkst ist, sieht das der Reporter auf dem Display, löscht es und fängt von vorne an. Die Fotografen verbringen mehr Zeit damit, ihre Kamera zu betrachten, als die Welt vor ihnen.

Konsequenz dessen ist ein wahnsinniger Anstieg und eine Banalisierung der Bilder. Instagram ist der Beweis.

Ich habe Fotografen gesehen, die mehr Fotos an einem halben Tag auf den Demonstrationen der „Gelbwesten“ geschossen haben, als ich in drei Wochen in Vietnam.

Kann man von Kriegsreportagen leben?

Seit 50 Jahren verdiene ich nur dann Geld, wenn ich einen Auftrag von einer Zeitung bekomme – indem ich weniger ausgebe als die Spesenvorschüsse. Ansonsten kosten meine Reportagen mehr als sie einbringen und das gilt für so gut wie alle in der Branche.

Ich habe ungefähr 1980 meinen ersten Scheck erhalten, ich war so überrascht, dass ich ihn erstmal vergessen habe…1996 als ich mit meinen Bildern aus Tschetschenien den World Press Award gewonnen habe, hat mich meine Agentur entlassen, weil ich zu hohe Kosten verursachte und ein Minusgeschäft war. Fotoreporter ist einer der seltenen Berufe, in denen du im selben Augenblick mit Preisen überhäuft und gefeuert werden kannst.

Seit zwanzig Jahren lebe ich hauptsächlich von Dokumentarfilmen, Konferenzen und Büchern. Und jetzt stellen sie sich mal die Situation für den Nachwuchs vor…

Wie können Sie die Erinnerung an die 50 Jahre Krieg bewahren?

Dieses Problem betrifft den Großteil meiner Kollegen, denn die Erinnerung des Krieges ist auch ein kulturelles Erbe. Ich hatte vor sechs Jahren das unerhörte Glück, dass eine Schweizer Stiftung diese Arbeit finanziert: das bedeutet, die 380.000 Negative, Abzüge und Dias wiederzufinden und zusammenzustellen, sie zu säubern, zu dokumentieren, zu ordnen und zu numerieren. Meine Reportagen in der Ukraine werden sich dann zu diesem Ensemble hinzugesellen, das im Mémorial von Caen aufbewahrt wird. Aber ich bleibe der Eigentümer.

Zusammenfassend könnte ich sagen, dass mein Beruf eine große Entwicklung durchgemacht hat.

Als ich 1989 in Panama verwundet wurde, hat sich meine Agentur, Sygma, um meine soziale Absicherung gesorgt, bevor sie meine Krankenhausbehandlung und meinen Rückflug bezahlt hat.

Ich habe auch einen Angestellten der Agentur gesehen, wie er Dias gelocht hat. Das waren die „Aussortierten“. Ich sagte ihm, dass ich seine Augen lochen würde, wenn er weitermacht. Das Aussortieren der Dias war dem aktuellen Kontext geschuldet, der sich jedoch für mich dreißig Jahre später ändern könnte.

Der Fotojournalismus hat an Status gewonnen – nicht an der Bezahlung für die Fotografen.

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Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer

„Ach, es ist furchtbar. Schlimmer kann es auch 1820 nicht gewesen sein. Es ist immer das gleiche, so langweilig, langweilig, langweilig. Es geschieht nichts, nichts, nichts. Wenn doch einmal etwas geschehen wollte, was nicht diesen faden Geschmack von Alltäglichkeit hinterläßt. Wenn ich mich frage, warum ich bis jetzt gelebt habe. Ich wüßte keine Antwort. Nichts wie Quälerei, Leid und Misere aller Art. […] Geschähe doch einmal etwas. Würden einmal wieder Barrikaden gebaut. Ich wäre der erste, der sich darauf stellte, ich wollte noch mit der Kugel im Herzen den Rausch der Begeisterung spüren. Oder sei es auch nur, daß man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Frieden ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln.“

Georg Heym, Tagebücher 1910

Nun ist er also da. Der Krieg. Den keiner in diesem Land jemals für möglich gehalten hatte. Weder die junge, noch die ältere Generation. Für uns alle war „Krieg“ bis vor zwei Wochen etwas Abstraktes gewesen, so wie die Poincaré-Vermutung oder die Vierte Dimension.

Insbesondere Deutschland hat sich in eine geistige „splendid isolation“ zurückgezogen und es sich in aufreizender Selbstzufriedenheit und gefährlicher Blauäugigkeit bequem gemacht.

Man hat sich mit abstrakten Themen, wie dem „Klimanotstand“ beschäftigt, der – je nach Lesart – unmittelbar bevorsteht oder schon längst hätte eingetreten sein müssen.

Nun schlägt mit archaischer Gewalt der Krieg zu. Mitten in Europa

Schon seit einer ganzen Weile treiben wolkengleich Inhalte aus der Schulzeit durch meine Gedanken. Ist es die 4, die mittlerweile vor meinen Geburtstagen steht?

Zuletzt waren es Gedichte von Georg Heym.

In der Phase meiner Jugend, als mich nichts weniger interessierte als Schule hatte es unser Deutsch- und Englischlehrer, Herr S., doch geschafft mit der Aufgabe der Interpretation von Heyms expressionistischem Gedicht „Der Gott der Stadt“ mein Interesse zu wecken.

Ich war ziemlich mitgerissen, von der wilden, starken Sprache und den mächtigen Bildern, die der Lyriker hervorzurufen imstande war.

Herr S. war keine prägende Lehrerfigur, eher unscheinbar, unaufdringlich und doch hatte er uns interessanten Lesestoff vorgesetzt, der noch heute meine Gedanken und mein Gehirn beschäftigt.

Keine Ahnung, wo genau er politisch stand. Ich war zu jung dafür, um das genau einordnen zu können und er war, wie gesagt, unauffällig. Vielleicht so ganz vage links angehaucht, aber so, dass er sich in die konservative Lehrer- und vor allem Elternschaft am humanistischen Gymnasium einpassen konnte, Typ konservativer SPDler. Ein kleiner, leiser Mann aus der Nachkriegsgeneration.

Der leise Herr S. hatte uns auch mit Kriegs- und Nachkriegsliteratur vertraut gemacht. Ausgangspunkt seines pädagogischen Vorgehens war Schillers patriotisches Gedicht „Der Spaziergang“ und seinen berühmt-berüchtigten Vers:

„Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest / Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.“

Die Schlacht bei den Thermopylen 480 v. Chr., bei der sich 300 Spartaner unter der Führung von   König Leonidas einer Übermacht Perser entgegenstellten, starben, aber Sparta retteten, ist im kollektiven Unterbewusstsein der Griechen aber auch der Europäer fest als ein Mythos der Tapferkeit und Opferbereitschaft verankert.

Herodot hat sich in seinen „Historien“ ausgiebig damit beschäftigt.  Mir war der Comic „300“ von Frank Miller sehr viel zugänglicher (im Unterschied zu der unfassbar schlechten Verfilmung gleichen Namens).

Unvorstellbar, so etwas heute an einem Gymnasium zu lehren, wenn ich so darüber nachdenke.

Doch Herr S. hatte dieses Gedicht nur als Finte benutzt, um uns zu Heinrich Bölls Antikriegsgeschichte „Wanderer, kommst du nach Spa…“ zu lotsen.

Ich kann diese Geschichte nur jedem wirklich zur Lektüre anempfehlen (hier der vollständige Text), denn es ist nicht die übliche onkelhafte, verstaube Nachkriegsliteratur, sondern eine packende und erschütternde Geschichte, die sich im Subtext um die Pervertierung des Helden- und Verteidigermythos dreht.

Ich habe den Verdacht, dass dieser kleine, leise Mann uns diese Geschichte mit Bedacht vorgesetzt hat, weil sie einmal in den Mauern eines humanistischen Gymnasiums spielt und wir auch ungefähr das Alter derjenigen hatten, die in der letzten Kriegsphase ins Feuer geschickt wurden, so dass er hoffte, wir, für die der 2. Weltkrieg unfassbar weit entfernt schien und die wir vollkommen andere Dinge im Kopf hatten, uns identifizieren konnten und die Geschichte und diese Zeit ein wenig nachspüren konnten.

Wie mir heute mehr noch als früher bewusst ist, ist es eine Geschichte aus einer gar nicht so fernen Vergangenheit, die die Menschen hierzulande schon lange vergessen und verdrängt haben, weil es natürlich sehr viel angenehmer ist, sich selbst etwas vorzumachen, als sich mit den Leichenbergen zu beschäftigen. Allein: auch wenn man die Augen fest schließt, sind die Monster draußen immer noch da.

Wie viel doch noch hängengeblieben ist…

Was ist von den beiden Extremitäten zu halten? Dem patriotischen Gedicht und der Antikriegsgeschichte? Schwer zu sagen. Kommt ganz drauf an, aus welcher Perspektive man die Situation betrachtet.

Die Menschen in der Ukraine werden sich sicher mit Leonidas und den Spartanern identifizieren. Für Feigheit und Defätismus ist kein Platz. Auf den Videos, die aus der Ukraine kommen, sieht man häufig das „Molon Labé“-Patch auf den Westen. Andererseits hat das nicht viel zu bedeutet. Ich habe dieses Patch auch schon bei Mitarbeitern des Ordnungsamts gesehen, die Falschparker aufgeschrieben haben.

Ich mag übrigens auch Leonidas. Seinen grandiosen Wahlspruch („Das Wichtigste aber ist die Freiheit. Sie haben wir gewählt, für sie werden wir sterben.“) habe ich mir selbst in Zeiten von Zweifel und Mutlosigkeit vorgesagt.

Die Russen werden sehr bald die beißende Schuld des verbrecherischen Angriffskriegs in ihrem kollektiven Unterbewusstsein spüren. So wie die Deutschen….

Back to the point: Georg Heym hat mich, seitdem er mir vom guten Lehrer S. vorgestellt wurde, immer fasziniert, ob seiner Sprachgewalt und auch wegen seines tragischen, jungen Todes. Georg Heym ist mit kaum 24 Jahren in der Havel ertrunken, als er einen Freund retten wollte, der beim Schlittschuhlaufen im Eis eingebrochen war. Er hat den Krieg, den er so sehr ersehnte, nicht mehr genießen können.

Er hat uns stattdessen ein Gedicht in seiner charakteristischen Lyrik hinterlassen, das er 1911 als 23-jähriger verfasst hat. Und meiner Meinung nach spiegeln die ersten drei Verse, knapp 100 Jahre später, genau wider, wie die Menschen hier kalt erwischt wurden.

Der Krieg I

Aufgestanden ist er, welcher lange schlief,
Aufgestanden unten aus Gewölben tief.
In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt,
Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand.

In den Abendlärm der Städte fällt es weit,
Frost und Schatten einer fremden Dunkelheit,
Und der Märkte runder Wirbel stockt zu Eis.
Es wird still. Sie sehn sich um. Und keiner weiß.

In den Gassen faßt es ihre Schulter leicht.
Eine Frage. Keine Antwort. Ein Gesicht erbleicht.
In der Ferne wimmert ein Geläute dünn
Und die Bärte zittern um ihr spitzes Kinn.

Auf den Bergen hebt er schon zu tanzen an
Und er schreit: Ihr Krieger alle, auf und an.
Und es schallet, wenn das schwarze Haupt er schwenkt,
Drum von tausend Schädeln laute Kette hängt.

Einem Turm gleich tritt er aus die letzte Glut,
Wo der Tag flieht, sind die Ströme schon voll Blut.
Zahllos sind die Leichen schon im Schilf gestreckt,
Von des Todes starken Vögeln weiß bedeckt.

Über runder Mauern blauem Flammenschwall
Steht er, über schwarzer Gassen Waffenschall.
Über Toren, wo die Wächter liegen quer,
Über Brücken, die von Bergen Toter schwer.

In die Nacht er jagt das Feuer querfeldein
Einen roten Hund mit wilder Mäuler Schrein.
Aus dem Dunkel springt der Nächte schwarze Welt,
Von Vulkanen furchtbar ist ihr Rand erhellt.

Und mit tausend roten Zipfelmützen weit
Sind die finstren Ebnen flackend überstreut,
Und was unten auf den Straßen wimmelt hin und her,
Fegt er in die Feuerhaufen, daß die Flamme brenne mehr.

Und die Flammen fressen brennend Wald um Wald,
Gelbe Fledermäuse zackig in das Laub gekrallt.
Seine Stange haut er wie ein Köhlerknecht
In die Bäume, daß das Feuer brause recht.

Eine große Stadt versank in gelbem Rauch,
Warf sich lautlos in des Abgrunds Bauch.
Aber riesig über glühnden Trümmern steht
Der in wilde Himmel dreimal seine Fackel dreht,

Über sturmzerfetzter Wolken Widerschein,
In des toten Dunkels kalten Wüstenein,
Daß er mit dem Brande weit die Nacht verdorr,
Pech und Feuer träufet unten auf Gomorrh.

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Russische Dschinns?

Die Soldaten der Koalition, die nach Afghanistan einmarschiert waren, hatten, wie es scheint, nicht nur mit Al Qaida und später den Taliban ihre Mühe.

In der Fülle der Artikel über den Abzug der Koalitionsstreitkräfte aus Afghanistan habe ich in mehreren Medien diese interessante Geschichte entdeckt.

Sie spielt sich in der Provinz Helmand, im Süden Afghanistans ab. US Marines hatten eine erhöhte geologische Formation eingenommen, die sich als Beobachtungsposten prädestinierte und die sie „Observation Post Rock“ nannten.

Der Beobachtungsposten wurden im Verlauf an die Briten übergeben, die ihn später wieder in die Hände der US Marines gaben.

Bei näherer Betrachtung war die Bodenerhebung kein Fels, sondern ein Erdsockel mit den Überresten einer eingestürzten Zitadelle oder Festung, wie sich an Gewölben und Mauerresten mit Schießscharten für Bogenschützen zeigte.

Aus welcher Ära die Zitadelle stammte, aus der Mongolenzeit oder gar aus den Eroberungszügen Alexander des Großen, konnte niemand sagen.

Im Lauf der Jahrhunderte und erst recht in den vier letzten kriegerischen Jahrzehnten, die Afghanistan zu erleiden hatte, wechselte die Höhe unzählige Male von einer Konfliktpartei zur anderen.

Aufregend sind indes die Erzählungen der Soldaten, die auf „OP Rock“ stationiert waren. Sowohl die beiden unterschiedlichen Marines-Einheiten als auch das britische Kommando berichteten unabhängig voneinander von unheimlichen Begebenheiten auf dem abgelegenen vorgeschobenen Beobachtungsposten.

Zwar bot die Erhöhung tatsächlich einen guten Überblick über die umgebende Landschaft, jedoch fühlte sich die Soldaten nicht so sehr als Beobachter, sondern vielmehr hatten sie ein unangenehmes Gefühl der Exponiertheit.

Beim Anlegen von Laufgräben kamen menschliche Knochen zum Vorschein, die teils Jahrzehnte, teils Jahrhunderte alt sein mochten.

Die Einheimischen mieden den Hügel, er sei verhext, hieß es.

Bald nach Ankunft begannen die unerklärlichen, übernatürlichen Phänomene. Während tagsüber alles normal war, hatten die Soldaten, die zur Nachtwache eingeteilt waren, das deutliche und unheimliche Gefühl beobachtet zu werden.

In der Hitze des Sommers fühlten sie auf einmal einen eisigen Hauch, wie ein eisiger Atem. Der Wind trug schwadenweise Verwesungs- und Leichengeruch zu ihnen herüber.

Ein Marine berichtet von einer sehr unheimlichen Begegnung in der Nacht. Als er Wache in der Maschinengewehrstellung schob, hörte er wie Ugly Betty, der Hund, den sie in der Stellung als Maskottchen hielten, knurrte und aggressiv bellte.

Um den Grund hierfür herauszufinden, setzte er seine Nachtsichtoptik auf. Doch es waren keine Taliban, die versuchten, den Drahtverhau zu überwinden. In seinen Okularen konnte er deutlich eine Gestalt mit geballten Fäusten erkennen, die in seine Richtung zu blicken schien.

Um sich zu vergewissern, dass er richtig gesehen hatte, wechselte er zur Wärmebildkamera. Dort konnte er jedoch nichts sehen. Als er wieder sein Nachtsichtgerät aufsetzte, stellte er fest, dass die Gestalt in dem kurzen Augenblick an die hundert Meter zurückgelegt haben musste und nun direkt am Stacheldrahtzaun stand. Wieder wechselte er zur Wärmebildkamera, doch kein menschliches Wesen war darauf zu erkennen.

Mehrere Soldaten berichteten unabhängig voneinander von ähnlichen Ereignissen: Schritte auf dem Dach des Unterstands – auf dem sie jedoch niemanden vorfanden – Schreie, Flüstern und deutlich vernehmbare Satzfetzen in russischer Sprache.

War dies nun die Massenpsychose eines im Gefechtsstress überreizten Nervensystems, ein über mehrere Einheiten hinweg organisierter Hoax oder tatsächlich die ruhelosen Seelen gefallener Rotarmisten, die die Wachtposten von „OP Rock“ narrten – die Geschichte zog ihre Kreise, so dass sogar die New York Times und die britische Times die Story aufgriffen.

„Seltsam? Aber so steht es geschrieben…“, hieß es immer am Schluss der „Gespenstergeschichten“-Comics aus dem Bastei-Verlag.

Die Reihe „Paranormal Witness“ hat dieser Geschichte ebenfalls eine Folge gewidmet. Viel Vergnügen!

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